1. Einführung
Der amerikanische Comiczeichner und Filmproduzent Walt Disney vertraute bei seinen unternehmerischen Projekten einer ebenso einfachen wie effektiven Strategie.
Disney berief drei Gruppen von Mitarbeitern in seine Teams:
- da waren zum einen die sogenannten Träumer oder Visionäre, Menschen
- mit Sinn für große Perspektiven,
- mit kreativen Ideen und
- innovativem Geist.
- Die zweite Gruppe bildeten die sogenannten Realisten oder Pragmatiker, die mit Liebe zum Detail die realen Gegebenheiten analysieren, um auszuloten, was machbar ist.
- Und schließlich, drittens, brauchte Disney die Kritiker, die notorischen Zweifler und Bedenkenträger, die sich nur dann von einer Sache überzeugen lassen,
- wenn sie in logisch-kühler Betrachtung den Dingen auf den Grund gegangen sind
- und ihre Plausibilität überprüft haben.
Disney war fest davon überzeugt, dass ein jedes seiner Projekte nur dann zum Erfolg führen würde,
- wenn es zuvor in diesen drei verschiedenen Perspektiven betrachtet wird
und
- die verschiedenen Sichtweisen gleichwertig und unabhängig voneinander Raum und Gehör finden.
In der Ausgewogenheit dieses perspektivischen Dreiecks lag das Geheimnis seines unternehmerischen Erfolges.
Überträgt man diese Strategie auf das Unternehmen Reformation, so hätte Martin Luther seinen Platz sicher bei den Visionären eingenommen.
Seine reformatorische Grundeinsicht in die Rechtfertigung des Sünders vor Gott allein aus Gnade hat richtungsweisende Kraft bis heute.
Johannes Bugenhagen hingegen hätte sich selbst wohl eher bei den Realisten verortet.
Er hat keine umstürzenden Programmschriften verfasst wie sein vertrauter Freund Luther. Der große theologische Wurf war seine Sache nicht.
Nein, seine Lebensenergie hat er der philologisch-exegetischen Kleinstarbeit im Rahmen umfangreicher Studien zu verschiedenen biblischen Büchern gewidmet.
Als sein herausragendes Verdienst gilt die umsichtige und detaillierte Ausarbeitung evangelischer Kirchenordungen, in denen die theologischen Einsichten und Zielperspektiven der Reformatoren ihre alltagstaugliche Umsetzung in die Lebenspraxis erfuhren.
Diese Zuordnung mag auf den ersten Blick vielleicht etwas plakativ anmuten, zumal sich die drei Perspektiven in der realen Person häufig überlagern.
Übersetzt man die sog. Walt-Disney-Strategie jedoch in die drei Grundfragen der Philosophie - d.h.
- in die visionäre Frage: Was darf ich hoffen?
- in die skeptisch-kritische Frage: Was kann ich wissen? und
- in die handlungspraktisch- ethische Frage: Was soll ich tun? –
so zeigt sich Luther eindeutig von ersterer bewegt.
Bugenhagen hat demgegenüber vielmehr die letzte im Blick.
- Was soll ich als Christ konkret tun?
Das ist die zentrale Frage, auf die er zeitlebens Antworten gesucht und immer wieder neu formuliert hat.
Auch wenn im historischen Rückblick die visionäre Ausstrahlungskraft Luthers weit größere und nachhaltigere Wirkung entfaltet hat als der kirchenrechtliche Gestaltungswille Bugenhagens – für die historische Durchschlagkraft der Reformation waren und sind sie beide gleichermaßen wichtig:
- theologische Einsicht und Lehre wie auch der
- kirchenpolitische Prozess ihrer Institutionalisierung.
Anlässlich seines 450. Todestages gedenken wir heute Johannes Bugenhagens, den Pomeranus oder auch Dr. Pommer genannt, hier in seiner Heimat und würdigen sein Lebenswerk.
Beschäftigung und Auseinandersetzung mit der Geschichte ist nicht nur retrospektiv, sondern auch prospektiv.
Sie hält nicht nur die Erinnerung wach, sondern dient der Standortbestimmung in der eigenen Gegenwart.
Geschichte ist immer auch Orientierungshilfe für aktuelle Selbstvergewisserung.
Diese ist besonders nötig und wichtig in Zeiten tiefgreifender Veränderungen und Herausforderungen, an der Schwelle zu neuen Ufern.
Ecclesia semper reformanda est - dass Reformation also mit Reform zu tun hat – diese Grundeinsicht genießt gegenwärtig höchste Aktualität.
Der mit dem Impulspapier „Kirche der Freiheit“ im Jahre 2006 angestoßene umfassende Reformprozess der Evangelischen Kirche in Deutschland hat ein markantes Signal für zukünftige Veränderungen gesetzt.
Ein wissenschaftliches Symposion im Januar 2009 soll den Diskurs über Reformnotwendigkeit und Reformfähigkeit des Deutschen Protestantismus auf wissenschaftlicher Ebene vertiefen.
Auch die Menschen in der Pommerschen Kirche, ja, in der gesamten evangelischen Kirchenlandschaft des Nordens befinden sich zur Zeit im Aufbruch.
Ziel ist der Zusammenschluss der drei Landeskirchen Pommerns, Nordelbiens und Mecklenburgs zur sog. Nordkirche.
Abschließende Beratungen über einen entsprechenden Fusionsvertrag sollen im Frühjahr 2009 erfolgen.
Der Vertrag auf dem Papier jedoch ist eine Sache; die mit Leben zu füllende Realgestalt der Nordkirche eine andere.
Noch weiß niemand, was die Fusion an Veränderungen im Einzelnen mit sich führen wird, wie sich Wagnisse, Chancen und auch Verluste zueinander verhalten werden.
Große Erwartungen, Zuversicht und Einsatzbereitschaft begleiten den Aufbruch; aber auch diffuse Ängste, Irritationen, Zweifel, vielleicht sogar Trauer.
Johannes Bugenhagen war Realist.
Und vielleicht ist es kein Zufall, dass heute mit dem Rückblick auf sein Lebenswerk ausgerechnet Fragen und Perspektiven der praktischen Ausgestaltung von kirchlichen Verfassungs- und Ordnungsstrukturen in den Mittelpunkt unserer Aufmerksamkeit rücken.
Denn Visionen haben Sie für das Projekt der Nordkirche ja bereits formuliert.
In der Broschüre Evangelische Kirche im Norden – gemeinsam auf dem Weg haben Sie – das finde ich sehr bemerkenswert - Ihre Ziele als die „Sätze, die uns leiten“ klar und deutlich formuliert.
Kritische Stimmen, die den Weg zur Nordkirche mit Skepsis begleiten gibt es ebenfalls, wie ich weiß.
Jetzt im Zuge des Fusionsvertrages stellt sich vornehmlich die Frage an die Realisten: Wie setzen wir unser Projekt konkret um? Und woran könnten, sollten wir uns bei unseren Entscheidungen orientieren?
Bugenhagen war in dieser Frage nicht nur engagiert, sondern auch ein kompetenter, kluger und ausgewiesener Ratgeber; ein Mann - wie der Göttinger Theologe Ernst Wolf einmal formulierte - mit „kybernetischem Charisma.“
Die evangelische Kirche Pommerns befindet sich im Aufbruch. Damit ergibt sich eine unmittelbare Beziehung zu ihrem Reformator.
Denn Bugenhagen hat Kirche im Aufbruch in persona verkörpert und realisiert.
Seine Lebensgeschichte war in eminentem Sinne dadurch geprägt, dass er immer wieder aufgebrochen ist hin zu neuen Ufern.
Wittenberg blieb zwar zeitlebens sein geographischer Ausgangs- und Lebensmittelpunkt. Lange gelebt und in seiner Eigenschaft als Prediger der Stadtkirche gewirkt hatte er dort allerdings nicht.
Denn er war – auch wenn wir hörten, dass er die Hälfte seines Lebens hier in Pommern verbracht hat, doch immer unterwegs nach Braunschweig gerufen, nach Hamburg, wieder zurück nach Braunschweig, dann weiter nach Lübeck, nach Pommern in die ursprüngliche Heimat, schließlich sogar nach Dänemark.
Immer wieder wurde er vom Kurfürsten freigestellt, gewissermaßen „ausgeliehen“ für den Dienst an anderen Orten.
Ziel und Zweck seiner Aufbrüche waren immer ähnlich: die Ausarbeitung einer Kirchen- und Lebensordnung, um dem reformatorischen Glauben eine adäquate ordnungsrechtliche Gestalt und Struktur zu verleihen und ihn damit in kirchenpolitisch höchst unsicheren Zeiten zu stabilisieren.
Die Sicherstellung reformatorischer Glaubenseinsichten war Bugenhagen ein lebenslanges Anliegen.
Und er hat damit entscheidend dazu beigetragen, dass sich die Reformation in Norddeutschland langfristig behaupten und durchsetzen konnte.
Es war alles andere als zufällig, dass Bugenhagen nicht die Mühe gescheut hat, sich immer wieder auf einen - oftmals sehr langwierigen und beschwerlichen - Reiseweg zu begeben.
Allein von Wittenberg nach Braunschweig war er vier Tage unterwegs!
Es ist ein Charakteristikum seiner Reformarbeit, dass er die Menschen unmittelbar an den ganz individuellen Orten ihres Lebens aufsuchte.
Dass er sich vertraut machte mit der Kirche vor Ort, mit der jeweiligen Mentalität, offen war für lokale und regionale Kontexte und die damit verbundenen Chancen und Probleme, dass er interessiert war an den örtlichen Rahmenbedingungen und Strukturen in den Städten wie auch auf dem Land.
Er war eben ein Mann mit viel Sinn für die realen Gegebenheiten - und ihre nicht zu unterschätzende Bedeutung für ideelle Zielvorhaben.
Und daher war ihm auch klar: die Einsichten und Ziele, die er in Form von Kirchenordnungen in verschiedenen Kontexten zu implementieren suchte, die würden nur greifen, wenn sie nicht abstrakt am Schreibtisch konzipiert würden, sondern mit den Menschen vor Ort verhandelt würden.
Denn Kirche ist immer auch Kirche vor Ort.
Nicht die Konzeptionierung einer Kirchenordnung war das Problem, sondern mit ihrer Adaption an die jeweiligen örtlichen Gegebenheiten ergaben sich die Schwierigkeiten und Herausforderungen, denen sich Bugenhagen mit diplomatischem Geschick, Beharrlichkeit und der Bereitschaft zu Kompromissen immer wieder gestellt hat.
Das ist heute nicht anders:
Ich habe das selbst gemerkt, als Sie mich darum baten, Ihnen bei der Diskussion um die Wahl des neuen Standortes für das Landeskirchenamt und den Landesbischof behilflich zu sein.
Die Bereitschaft, dabei Kompromisse zu schließen war für mich überraschend hoch ausgebildet und auch im weiteren Prozess merke ich immer wieder, wie viele von Ihnen in allen drei Landeskirchen die nötige Beharrlichkeit aufzubringen bereit sind.
Bugenhagen war ein Realist. Er war engagiert und bestrebt, dem evangelischen Glauben zu seiner angemessenen kirchlichen Lebensgestalt zu verhelfen.
Aber Bugenhagen war kein „Macher“ wie man heute sagen würde.
Zeitlebens hat er immer wieder betont, dass rechtes Handeln allein aus der rechten Erkenntnis erwächst. Und die wiederum erfordert das gründliche Studium von Schrift und Lehre.
Seit 1534 pflegte er seinen Kirchenordnungen daher eine Lehrordnung voranzustellen, die über die theologischen Grundlagen informierte.
Bugenhagens Bemühen um die kirchenrechtliche und strukturpolitische Institutionalisierung der Reformation ist daher nicht Ausdruck der sehr speziellen Sicht des pragmatischen Ordnungsmenschen, sondern integriert sich in den umfassenden Horizont reformatorischer Theologie.
Ich möchte im folgenden zweiten Teil meines Vortrages daher zwei dieser theologischen Aspekte etwas näher beleuchten, die Bugenhagens Arbeit an den verschiedenen Kirchenordnungen geleitet haben und die, wie ich denke, auch im heutigen Ringen um die rechte Gestalt und das Profil der evangelischen Kirche aktuell und geeignet sind, Impulse für den Aufbruch zu neuen Ufern zu geben.
2. Theologische Leitgesichtspunkte
2.1. Glaube und Werke
Die theologische Eigenständigkeit Bugenhagens ist wissenschaftlich umstritten.
Einem - überwiegend älteren - Forschungszweig der Kirchengeschichte gilt er als in fast allen Zügen von Luther abhängig. In jüngerer Zeit ist man bemüht, das ihm eigene Profil auch in theologischer Hinsicht herauszustellen.
Wie dem auch sei, eines ist sicher: Bugenhagen hat ein spezifisches theologisches Lebensthema, mit dem er die reformatorische Einsicht in die Rechtfertigung allein aus Gnaden in eine andere Perspektive stellt als Luther.
Bugenhagens Interesse gilt weniger der Glaubensgewissheit des gerechtfertigten Sünders als vielmehr der Frage nach den konkreten Folgen dieses Glaubens für die ethische Lebensgestaltung des Christen.
Luther ist von der Frage getrieben, wie Gott sich zum Menschen verhält.
Bugenhagen kehrt die Perspektive um und fragt, wie sich der Mensch gegenüber Gott zu verhalten habe.
Theologisch gesprochen, fokussiert Bugenhagen somit das Verhältnis von Glauben und Werken.
Ihn beschäftigt die Frage nach dem rechten, gottgefälligen Leben oder - dogmatisch gesprochen - nach der Existenzverwandlung des Christen im neuen Leben.
Es ist eine überaus aktuelle Frage, die in modernen Spielarten und in säkularem Sprachgewand in der Frage nach dem sittlich guten Leben die Philosophie der Gegenwart stark beschäftigt.
Bugenhagen steht dem Leben im Hier und Jetzt positiv gegenüber als der Chance, die Botschaft des Evangeliums in praktischer Lebensgestaltung zu bewähren. Luther, der Visionär, so könnte man verkürzt sagen, fokussiert eher die eschatologische Zielperspektive, in der unser Leben in seiner Fragmentarität, mit seinen Widersprüchen und ambivalenten Erfahrungen vollendet und heil werden soll. Bugenhagen, der Realist, ist interessiert daran, der heilvollen Zuwendung Gottes in der Gegenwart des Hier und Jetzt nachzuspüren und anderen Menschen erschließen zu helfen.
Sein Ausgangspunkt und die bleibende Grundlage seiner theologischen Arbeit ist die real erfahrbare Verwandlung des Menschen im Horizont des rechtfertigenden Glaubens.
In dieser Haltung hat sich die humanistische Prägung aus Bugenhagens vorreformatorischer Zeit Ausdruck verschafft . Als Lateinlehrer an der Stadtschule in Treptow, dann auch als Lektor an der Mönchsschule im Kloster Belbuck stand der theologische Autodidakt Bugenhagen seit 1512 in Kontakt mit dem Münsteraner Humanisten Johannes Murmellius, der ihn auf die Schriften des Erasmus von Rotterdam aufmerksam machte.
Die Auseinandersetzung mit dem niederländischen Humanisten haben die Gedankenwelt des jungen Bugenhagen nachhaltig geprägt.
Bereits in dieser Zeit nimmt Bugenhagen eine kritische Position gegenüber der Institution Kirche ein; die Frage, wie eine Kirchenreform im Sinne praktizierter Nächstenliebe möglich sein könnte, beschäftigt ihn intensiv.
Wie Ralf Kötter und andere Kirchenhistoriker nachgewiesen haben, hat Bugenhagen durch die Begegnung mit Luthers Schriften seit 1520 keine spontane reformatorische Kehrtwende erlebt.
Vielmehr vollzog sich bei ihm wohl eher eine sukzessive Annäherung an Luthers Einsichten, indem er seine eigenen Perspektiven und thematischen Interessen unter dem neuen Blickwinkel der Rechtfertigungslehre vertiefte und fortschrieb, manches dabei sicher auch revidierte.
Bugenhagens vorreformatorische Frage, in welchen Lebensvollzügen der Christ dem göttlichen Willen wahrhaftig entsprechen kann, vertieft sich dabei zur Einsicht, dass die Antwort allein im Glauben, nicht aber im Bereich menschlicher Selbsttätigkeit gefunden werden kann.
In diesem humanistisch geprägten Sinne ist Bugenhagen geleitet von einem tiefen Vertrauen in den menschlichen Willen zum Guten, den der Geist Gottes im Glauben wirkt.
Man hat bei ihm daher ein optimistisches Menschenbild konstatieren wollen.
Dieser Gedanke ist in seiner Undifferenziertheit wohl kaum zutreffend; dennoch aber war Bugenhagen vielleicht ein Mensch, der im Sinne der modernen humanistischen Psychologie überzeugt war, dass der Mensch bei rechter Einsicht das für ihn Richtige und Gute auch realisieren kann und realisieren will.
Theologisch übersetzt: der gerechtfertigte Sünder, der sich coram Deo als Kind Gottes erkennt, kann und will gar nicht anderes als seine Gotteskindschaft nun auch lebenspraktisch zu realisieren.
Bei aller humanistischen Weltzugewandtheit und ethischen Zuversicht blieb die tiefe Einsicht Luthers in die unauflösliche Paradoxie des simul iustus et peccator jedoch auch für Bugenhagen zeitlebens leitend.
Unermüdlich hat er betont, dass es nicht des Menschen eigene Kraft und Güte, sondern eben die fremde Gerechtigkeit Christi ist, die das neue Leben oder die Heiligung des Christen gnadenhaft ermöglicht.
Die moderne Form des gegenwärtig so populären positiven Denkens, der erfolgsorientierten Selbstoptimierung und der machbarkeitsgewissen Lebensplanung einschließlich der damit verbundenen Selbstüberschätzungen
wäre ihm zutiefst fremd gewesen.
Das gute Leben im Sinne Gottes - so seine fundamentale Überzeugung - hat seinen Ermöglichungsgrund allein in der Liebe Gottes, der den sündigen Menschen aus Gnade zu seinem geliebten Kind erklärt.
Die zentrale Frage nach der ethischen Gestaltung christlicher Existenz bildet den Referenzrahmen für Bugenhagens intensive Arbeit an der Ausarbeitung von Kirchenordnungen.
Kirchenordnungen bedeuteten ihm nicht abstrakte Verfassungsprinzipien, sondern die konkrete Umsetzung und lebenspraktische Anwendung der mit dem Evangelium vermittelten frohen Botschaft.
Kirchenrechtliche Regulativen sollen Orientierungshilfen und Leitlinien für ein gelingendes Leben im Geiste Jesu Christi bereitstellen.
Der entscheidende Impuls und das leitende Kriterium auch für aktuelle Strukturfragen, für Fusionsverträge und neue Reformkonzepte - so kann man von Bugenhagen lernen – sollte die Frage nach ihrer Lebensdienlichkeit für die davon berührten Menschen sein.
Struktur-, Rechts- und Ordnungsfragen der Kirche sollen Menschen motivieren im Versuch christlicher Lebensgestaltung und ihnen in diesem Bemühen Unterstützung, Bestätigung, Förderung und Lebenshilfe vermitteln.
Modern gesagt: Menschen müssen begreifen, welcher Gewinn sich ihnen für ihr persönliches Leben im Raum der evangelischen Kirche erschließt.
Das aber kann nur gelingen, wenn auch die verfasste, äußerlich sichtbare und kodifizierte Gestalt, die eine Kirche sich gibt, in ihrer Lebensdienlichkeit transparent ist, indem sie Menschen Freiräume, leistungsfreie Spielräume eröffnet, in dem sie ihre Bestimmung und Würde vor Gott entdecken und dieser entsprechend leben können.
Die alles entscheidende Leitfrage für kirchliche Strukturreformen aus der Sicht Bugenhagens lautet daher: Inwiefern sind die anvisierten Strukturen und Reformen hilfreich, die Botschaft Jesu von der unbedingten Liebe Gottes zu den Menschen in den aktuellen Lebensverhältnissen der eigenen Gegenwart zur Sprache zu bringen?
2.2. Christliche Freiheit
Das Evangelium befreit Menschen von unheilvollen Verstrickungen in sich selbst und macht sie frei für die Hingabe an Gott und den Dienst am Nächsten.
Noch ein zweiter Aspekt ist für Bugenhagens theologische Arbeit - und wiederum auch für sein Verständnis der Bedeutung von Kirchenordnungen - deshalb wesentlich: die christliche Freiheit.
Die kirchenhistorische Erforschung der theologischen Abhängigkeit Bugenhagens von Luther hat deutlich gemacht, dass die Auseinandersetzung mit Luthers Schrift Von der Freiheit eines Christenmenschen aus dem Jahre 1520 Bugenhagen theologisch entscheidend geprägt hat.
Luthers Einsicht, dass Freiheit die genuine Lebensgestalt des Christen markiert, hat Bugenhagen tief verinnerlicht.
Christliche Freiheit aber bedeutet nicht individuelle Willkür, persönliche Beliebigkeit oder schrankenlose Selbstverwirklichung.
In seiner Freiheitsschrift macht Luther vielmehr sehr deutlich, worin die Eigentümlichkeit der im Evangeliums eröffneten christlichen Freiheit besteht: in der Dialektik von absoluter Unabhängigkeit gegenüber irdischen Instanzen einerseits und der freiwilligen Dienstbarkeit dem Nächsten gegenüber andererseits.
Diese Einsicht leitet auch Bugenhagen. Die christliche Gemeinschaft der Gotteskinder, so betont er daher immer wieder, zielt auf Verständigung und Eintracht.
Auf Koexistenz in versöhnter Verschiedenheit würde man heute sagen.
Das ist mit Blick auf die komplexen und von ihrer politischen, kulturellen und kirchlichen Prägung sehr disparaten Lebenshorizonte der drei Regionen, die im Prozess der Nordkirche zusammenfinden sollen, ein ehrgeiziges Ziel.
Die Deutung der Fusion als „Lernprozess“, wie sie in der Broschüre „Evangelische Kirche im Norden – gemeinsam auf dem Weg“ erfolgt, ist sicher hilfreich und motivierend, in dem Bemühen um Annäherung an andere und für den Ausgleich mit anderen.
Dem Anspruch der Freiheit entspricht Bugenhagens - in intensivem Bibelstudium gewonnene - Sicht der Gemeinde als mündiger Gemeinde, deren Glieder die ihnen verliehene Freiheit im Geist des Evangeliums in persönlicher und gemeindlicher Lebensgestaltung zum Ausdruck bringen.
Verschiedene Kirchenhistoriker haben in Bugenhagens Kirchenordnungen eine „Tendenz zur Autonomie der Einzelgemeinde“ oder „Grundzüge einer Presbyterialverfassung“ beobachtet.
In diesem Sinne hat er die biblischen Ämter dem Sinn und Zweck der Gemeinde funktional zugeordnet und diese für eine Neugestaltung des geistlichen Amtes fruchtbar zu machen versucht.
Dass in diesem Zusammenhang neben den explizit geistlichen Funktionsträgern auch das diakonische Amt eine gleichwertige Stellung zurückgewinnt, ist kein Zufall.
Der Münsteraner Kirchenhistoriker Wolf-Dieter Hauschild hat vielmehr darauf aufmerksam gemacht, dass Bugenhagen damit die Beteiligung der Gemeinde - im Sinne des Priestertums aller mündigen Gläubigen - am kirchlichen Verkündigungsauftrag prägnant zum Ausdruck bringt.
Als lebenspraktische Umsetzung und Ausdrucksgestalt der Freiheit gilt auch mit Blick auf Reformpapiere, Strukturdebatten und Ordnungsfragen, dass diese nur insofern legitim sind, als sie die christliche Freiheit des Einzelnen im Raum der Kirche und in der Welt befördern hilft. Entscheidend für alle Ordnungsfragen -seien sie nun dienstrechtlicher, diakonischer, baulicher oder verfassungsrechtlicher Art - ist nach Bugenhagen die Kardinalfrage, ob diese geeignet sind, Freiraum bereitzustellen und zu sichern für die Begegnung des Menschen mit Gott und dem Nächsten.
Insofern bringt es das Impulspapier der EKD präzise auf den Punkt: Die Evangelische Kirche ist wesentlich eine „Kirche der Freiheit.“
Neben dem Aspekt ihrer Lebensdienlichkeit ist für Bugenhagens Verständnis seiner Kirchenordnungen daher eminent wichtig, dass diese als kodifizierte Ausdrucksgestalt der verfassten Kirche in theologischer Sicht gerade nicht Ausdruck des Gesetzes sind, sondern die konkret praktizierte Ausführung des göttlichen Willens und Anwendungsform der Botschaft des Evangeliums
darstellen.
Ob eine Kirche mit ihrer Strukturreform der stets virulenten Gefahr der Gesetzlichkeit erliegt, lässt sich daher recht eindeutig an der Frage überprüfen, ob es die evangelische Freiheit ist, die die Gestaltungs- und Entscheidungsprozesse der Kirche motiviert – oder aber ein anderer Geist.
Aus dieser Einsicht ergibt sich ein weiterer Aspekt, der mit Blick auf den aktuellen Aufbruch zur Nordkirche von besonderer Bedeutung sein könnte.
Als praktische Umsetzung der mit dem Evangelium erschlossenen christlichen Freiheit ist die Arbeit an Kirchenrechtsfragen und Strukturreformen für Bugenhagen eindeutig positiv motiviert.
Es geht ihm darum, in und mit der rechtfertigungstheologischen Grundeinsicht eine dem Wesen und Wirken der Kirche entsprechende, förderliche und daher auch zukunftsweisende Perspektive ordnungsgemäß zu implementieren.
Der Ausgangspunkt seiner Reformarbeit ist mithin nicht Defizitorientierung, sondern das Streben nach der im Evangelium verheißenen Fülle des Lebens.
Nur in einer motivierenden Zielperspektive wird es, denke ich, auch heute möglich sein, die mit dem Fusionsprozess auch verbundenen Anstrengungen und Belastungen zu meistern.
3. Fazit:
Bugenhagen war Realist.
Nicht im Sinne einer geistlosen Alltagspragmatik; · dafür besaß er viel zu viel Sinn und einen viel zu klaren Blick für das, was theologisch wesentlich ist.
In all seinem kirchenrechtlichen und organisatorischen Handeln hat er immer deutlich zu unterscheiden gewusst zwischen der verbindlichen und einzig wahren Lebensordnung Gottes und den historisch bedingten, wandelbaren Ordnungen der Menschen. Die Botschaft will verkündigt und weitergesagt werden.
In diesem Sinne bedeutete ihm die reformatorische Einsicht in die Rechtfertigung des Sünders allein aus Gnade die Grundlage, die Motivation und die Zielvorgabe seiner Arbeit, die der praktischen Umsetzung und künftigen Sicherstellung der damit verbundenen Freiheit in Zeiten tiefgreifender Veränderungen dienen wollte.
An diesem Punkt berühren sich Historie und Gegenwart, Bugenhagen und wir Heutigen.
Um die Sicherstellung der befreienden Botschaft des Evangelium in Zeiten tiefgreifender Veränderungen geht es auch in der Gegenwart.
Über die Frage, welche Kirchenverfassung dafür geeignet sein könnte, wird im Fusionsprozess der Nordkirche zur Zeit intensiv diskutiert, manches Mal wohl auch gerungen und gestritten.
Was können wir dafür von Bugenhagen lernen?
Ich möchte das Gesagte zusammenfassen und abschließend thetisch drei Leitlinien formulieren:
a) Nicht diverse Sachzwänge, sondern allein das Evangelium sollte kirchliches Handeln motivieren. In diesem Sinne sind auch kirchliche Strukturen - und damit auch alle Strukturreformen - nicht Ausdruck von Gesetzlichkeit, sondern Früchte des Evangeliums. Das ist der Ausgangspunkt.
b) Das Evangelium dient der Lebensgestaltung und Lebensbewältigung der Menschen. Es macht sie frei, ihrer Bestimmung und Würde als Kinder Gottes gemäß in Liebe zu Gott, zum Nächsten und zu sich selbst zu leben und sich zu entfalten. Das ist die Zielperspektive.
c) „Das“ Leben „der“ Menschen gibt es nicht in abstracto. Leben - auch Leben im Sinne des Evangeliums - vollzieht sich stets in concreto, an einem bestimmten Ort und zu einer bestimmten Zeit. Auch jede Kirchenverfassung und jede Kirchenreform hat als menschliche Ordnung ihren Ort und ihre Zeit. Wenn beides zueinander passt, erschließt sich vielleicht inmitten aller menschlich-allzumenschlichen Realität die Fülle der Wirklichkeit Gottes.