Ansprache zum Gedenkweg der Kirchen zum 70. Jahrestag der Pogromnacht, Berlin
Wolfgang Huber
„Sie verbrennen dein Heiligtum. Sie verbrennen alle Gotteshäuser im Lande.“ So heißt es im 74. Psalm. Dietrich Bonhoeffer, der Glaubenszeuge aus Berlin, schrieb in seiner Bibel an den Rand: 9. November 1938. So kommentierte er das schmähliche, von niemandem zu übersehende Geschehen, dessen qualvolle Bedeutung in keinem der Namen zureichend zum Ausdruck kommt, die ihm seitdem gegeben wurden: Pogromnacht, Reichskristallnacht, Reichsscherbennacht, Rathaktion, Mordwoche, Synagogensturm. Vorbereitet war das alles schon lange: seit dem Boykott jüdischer Geschäfte am 1. April 1933 und der Errichtung der ersten Konzentrationslager im selben Jahr, seit den Nürnberger Gesetzen von 1935 und den darauf folgenden Berufsverboten für Juden war der Weg vorgezeichnet, der nach dem 9. November weiterging und in den Holocaust mündete. Nicht nur die eine Mordnacht, sondern dieses ganze Mordgeschehen tritt uns heute vor Augen. Das Leiden, die Einsamkeit und die Verzweiflung unserer Mitbürgerinnen und Mitbürger jüdischen Glaubens und jüdischer Herkunft erfüllen uns mit Bestürzung und Trauer.
„Nun wartet draußen unser Nächster, notleidend, schutzlos, ehrlos, hungernd, gejagt und umgetrieben von der Angst um seine nackte Existenz, er wartet darauf, ob heute die christliche Gemeinde wirklich einen Bußtag begangen hat. Jesus Christus wartet darauf.“ So schloss wenige Tage nach dem 9. November der Berliner evangelische Pfarrer Helmut Gollwitzer seine Predigt. Er überzeugte die Gemeinde in Berlin-Dahlem davon, die Familienangehörigen inhaftierter Juden zu unterstützen. Dennoch war seine Stimme einsam, Gott sei’s geklagt. Einsam wie auch die Stimme des katholischen Priesters und Berliner Dompropstes Bernhard Lichtenberg, der am Abend des 9. November 1938 öffentlich für die Juden und die nichtarischen Christen betete und dafür wegen volksfeindlicher Hetze angeklagt wurde. Seinen Weg an der Seite der Verfolgten hat er später mit dem Leben bezahlt. Das Zeugnis dieser und anderer Christen und Kirchenvertreter kann das Verzagen oder Versagen anderer nicht zudecken. Es erinnert uns immerhin daran, dass die Stimmen von Humanität und Nächstenliebe auch im Angesicht des schlimmsten Abgrundes der Unmenschlichkeit nie ganz verstummt sind.
Die offene und brutale Gewalt des November 1938 fand in der deutschen Bevölkerung weniger Rückhalt als die rechtliche Diskriminierung, der die Juden seit 1933 ausgesetzt waren. Eine grundsätzliche Erschütterung des Vertrauens in den nationalsozialistischen Staat war damit allerdings meist nicht verbunden. Manche erschraken, doch kaum jemand leistete Widerstand. Vielmehr gab es neben grölendem Beifall auch viel schweigendes Zuschauen und achselzuckendes Hinnehmen. Und es gab auch die – gerade auch in den christlichen Kirchen –, die die Gewalttaten entschieden ablehnten, jedoch in Furcht und einem Gefühl der Ohnmacht verharrten. Aber es war auch die Stunde jener Wenigen, die den Zerstörungen Einhalt gebieten wollten und den Bedrängten Unterschlupf gewährten. Bei diesen wenigen suchen wir Halt in dieser Stunde tiefer Scham.
In den November-Pogromen von 1938 wurden wehrlose Menschen gedemütigt, gepeinigt und ermordet, Gotteshäuser geschändet und zerstört. Die schrecklichen Bilder von brennenden Synagogen haben sich in unser Gedächtnis gebrannt. Sie lehren auch heute: Wo es keinen Respekt vor dem Heiligen und dem für den menschlichen Zugriff Unverfügbaren gibt, dort gibt es auch keinen Respekt vor den Menschen.
Unsere Erinnerung an die Reichspogromnacht 1938 würde ins Leere laufen, wenn wir sie nicht mit der Frage nach der praktischen Solidarität verbänden, die wir den in unserer Zeit zu Unrecht Verfolgten und den Opfern von Gewalt schulden. Leider sind Antisemitismus und Rassismus auch heute nicht überwunden. Gerade in den letzten Tagen haben wir auch in unserer Stadt dafür Beispiele erlebt. Auch heute prägen Ausgrenzung und Diskriminierung den Alltag vieler Menschen. Die Sünde der Gleichgültigkeit gegenüber dem Leid der Anderen stirbt nicht aus. Allzu schnell legt sich der Schleier der Abgrenzung über unsere Augen und versperrt die Sicht auf das Antlitz des Nächsten. Jedem Menschen, gleich welcher Hautfarbe, Volkszugehörigkeit oder Religion, ist das Bild Gottes eingeprägt. Keiner darf preisgegeben werden. Davon in Wort und Tat Zeugnis abzulegen, sind wir als Christen in besonderer Weise gefordert. Dabei darf Toleranz nicht als die Fortsetzung der Ratlosigkeit mit anderen Mitteln missverstanden werden.
Die Erinnerung an die Schreckensnacht und ihre Folgen ist gerade auch heute, da die Zeitzeugen allmählich verstummen, von großer Bedeutung. Mahnt sie uns doch, alles zu tun, um eine Gesellschaft in Freiheit und gegenseitiger Achtung zu gestalten, die sich ihrer Verantwortung vor Gott und den Menschen stellt.