Predigt am Buß- und Bettag in der Pauluskirche in Berlin-Zehlendorf (Jesaja 1,10-17,18-20)
Wolfgang Huber
I.
Der Prophet Jesaja gehört für viele aufgeweckte und umkehrbereite Christen – also für viele, denen der Buß- und Bettag am Herzen liegt – zu den biblischen Favoriten. Gern begeben wir uns in seine prophetischen Heilsbilder hinein. Besonders berühmt ist die Vision, mit der das zweite Kapitel des Jesajabuchs beginnt:
Es wird zur letzten Zeit der Berg, da des HERRN Haus ist, fest stehen, höher als alle Berge und über alle Hügel erhaben, und alle Heiden werden herzulaufen, und viele Völker werden hingehen und sagen: Kommt, lasst uns auf den Berg des HERRN gehen, zum Hause des Gottes Jakobs, dass er uns lehre seine Wege und wir wandeln auf seinen Steigen! Denn von Zion wird Weisung ausgehen und des HERRN Wort von Jerusalem. Und er wird richten unter den Heiden und zurechtweisen viele Völker. Da werden sie ihre Schwerter zu Pflugscharen und ihre Spieße zu Sicheln machen. Denn es wird kein Volk wider das andere das Schwert erheben, und sie werden hinfort nicht mehr lernen, Krieg zu führen. Kommt nun, ihr vom Hause Jakob, lasst uns wandeln im Licht des HERRN! (Jesaja 2, 1-4)
Gern bergen wir uns in dieser Vision von der friedliche. Völkerwallfahrt zum Zion. Doch in einigen Regionen der Welt spielt sich derzeit ganz Anderes ab. Menschen, die sich zum christlichen Glauben bekennen, riskieren vielfach Leib und Leben. Ich denke hier insbesondere an die Situation der Christen im Irak; ich denke freilich ebenso an die Lage von Christen im Iran oder im Nordosten Indiens. Natürlich beziehe ich andere religiöse Minderheiten in meine Sorgen ein; doch zugleich kann ich die Augen nicht davor verschließen, dass heute weltweit Christen mehr als alle anderen von Bedrängnis und Verfolgung betroffen sind. Das Leiden unserer Glaubensgenossen können wir nicht verschweigen.
Allein aus Mossul, der drittgrößten Stadt des Irak sind in den vergangenen Wochen tausende Christen aus Angst um ihr Leben geflohen. Es gibt deutliche Anzeichen dafür, dass sich in Mossul eine regelrechte Tötungskampagne und eine Straff organisierte Vertreibungskampagne gegen die Christen vollzogen haben. In den letzten Tagen scheint sich die Sicherheitslage in dieser nordirakischen Stadt verbessert zu haben; manche christlichen Familien sind zurückgekehrt. Aber die Besorgnis bleibt groß; und die Verantwortung für die Aufnahme von irakischen Flüchtlingen im Rahmen eines Resettlement-Programms können wir nicht länger vor uns herschieben.
In Indien ist zusammen mit den christlichen Kirchen in der nordindischen Provinz Orissa auch unsere Partnerkirche, die Evangelisch-Lutherische Gossnerkirche in der Provinz Jarkhand, in die Bedrängnis einbezogen, die vom hinduistischen Nationalismus ausgeht. Bewegend ist es, wie indische Bischöfe um unsere Fürbitte flehen. Nichts anderes erbitten sie als Fürbitte: einen Buß- und Bettag.
Man gewinnt den Eindruck, dass Sicheln und Pflugscharen in Schwerter und Spieße zurückverwandelt werden, um andere zu töten. Wer bedenkt, dass wir vor zwei Jahrzehnten, am Ende der Ost-West-Konfrontation in Europa, von einer „Friedensdividende“ sprachen, die uns in die Lage versetzen würde, großzügiger dort zu helfen, wo Not und Armut in unserer Welt am größten sind, kommt zu der ernüchternden Feststellung, dass Schwerter und Spieße, Maschinengewehre und Raketen in wachsendem Maß eingesetzt – und zu diesem Zweck auch lukrativ verkauft – werden. Sicheln und Pflugscharen, Hilfe zur Selbsthilfe im Armutsgürtel der Erde dagegen gibt es immer noch zu wenig. Die Verwirklichung der Milleniumsentwicklungsziele, zu denen die Halbierung der weltweiten Armut bis zum Jahr 2015 gehörte, ist in weite Ferne gerückt. Konflikte nehmen zu; und ihre Formen werden gewaltsamer.
In dieser konfliktreichen Lage gerät auch die Freiheit in Gefahr, nicht zuletzt die Freiheit, sich zu einer Religion zu bekennen – auch öffentlich – und sie, so man will, auch zu wechseln. Keine Religion ist davon weltweit stärker betroffen als das Christentum. Sechzig Jahre nach Verabschiedung der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte wird die Religionsfreiheit, also ein zentrales Menschenrecht, im wahrsten Sinn des Wortes mit Füßen getreten. Gebe Gott, dass dies nicht der Geist ist, in welchem Menschen im 21. Jahrhundert miteinander umgehen. Aber unser Buß- und Bettag muss in Zukunft auch diesem Thema gewidmet sein. Den Ruf unserer christlichen Schwestern und Brüder nach unserer Fürbitte, nach unserer Solidarität können wir nicht überhören.
II.
Direkt vor der großen Vision von der friedlichen Völkerwallfahrt zum Zion findet sich bei Jesaja eine dreiteilige Gerichtsrede. Sie ist uns weniger geläufig und schon gar nicht vertraut, obwohl sie direkt vor der „Schwerter zu Pflugscharen“ – Passage steht.
Im ersten Teil dieser Gerichtsrede kündigt Jesaja dem abtrünnigen Volk das Gericht an. Der dritte Teil dieser Rede ist im Stil einer prophetischen Totenklage gehalten. Dazwischen findet sich der Predigtabschnitt für den Buß- und Bettag. Heute haben wir die Gelegenheit, den wesentlichen Zusammenhang von Gericht, Umkehr und Neubeginn im Licht von Gottes Barmherzigkeit zu erinnern. Das lebendige Wort Gottes entschleunigt unsere hastige Art des Denkens und Lebens. Es lässt mich innehalten und zieht mich aus der Besinnungslosigkeit heraus:
Höret des HERRN Wort, ihr Herren von Sodom! Nimm zu Ohren die Weisung unsres Gottes, du Volk von Gomorra! Was soll mir die Menge eurer Opfer?, spricht der HERR. Ich bin satt der Brandopfer von Widdern und des Fettes von Mastkälbern und habe kein Gefallen am Blut der Stiere, der Lämmer und Böcke. Wenn ihr kommt, zu erscheinen vor mir - wer fordert denn von euch, dass ihr meinen Vorhof zertretet? Bringt nicht mehr dar so vergebliche Speisopfer! Das Räucherwerk ist mir ein Gräuel! Neumonde und Sabbate, wenn ihr zusammenkommt, Frevel und Festversammlung mag ich nicht! Meine Seele ist Feind euren Neumonden und Jahresfesten; sie sind mir eine Last, ich bin's müde, sie zu tragen. Und wenn ihr auch eure Hände ausbreitet, verberge ich doch meine Augen vor euch; und wenn ihr auch viel betet, höre ich euch doch nicht; denn eure Hände sind voll Blut. Wascht euch, reinigt euch, tut eure bösen Taten aus meinen Augen, lasst ab vom Bösen! Lernt Gutes tun, trachtet nach Recht, helft den Unterdrückten, schafft den Waisen Recht, führt der Witwen Sache!
Gäbe es eine mit Macht ausgestattete kirchliche Zensurbehörde, dann würde mir dieser harsche Jesajatext wohl nicht begegnen. Und sollte es einer Gerichtsrede wie derjenigen des Jesaja dennoch gelingen, die Zensurgrenze zu unterlaufen, dann würde wohl die Schere im eigenen Kopf ihre Arbeit beginnen. Wir bekennen unseren eigenen Glauben. Wir preisen Gottes Liebe. Wir beklagen, dass diese Liebe in der Vergangenheit verleugnet wurde. Wir geben zu, dass die evangelische Kirche in der Zeit des Nationalsozialismus Schuld auf sich geladen hat. Wir haben uns in den letzten Jahren, seit dem Buß- und Bettag 2002, beispielhaft dem Schicksal von Christen jüdischer Herkunft in unseren eigenen Gemeinden zugewandt. Ich bin sehr dankbar für diese Spurensuche und die innere wie äußere Mühe, die sie bereitet hat. Ich hoffe darauf, dass diese Erinnerungsarbeit unsere Sinne schärft für Bekenntnis und Solidarität, wie sie heute nötig sind.
Denn das Eingeständnis vergangener Schuld genügt nicht. Bei der Solidarität mit den Opfern vergangener Gewalt kann es nicht bleiben. Würden wir das für sich selbst stehen lassen, dann würde unser Büßen und Beten wohlfeil, dann blieben unsere Gedenkwege folgenlos.
Vielleicht ist der Spiegel überscharf, den uns der scharfzüngige Journalist Henrik M. Broder vorhält. Aber man sollte doch ernst nehmen, was er im Zusammenhang mit dem 70. Jahrestag der Pogromnacht vor zehn Tagen formuliert hat:
„...Es ist vollbracht! Der 9. November liegt hinter uns. Und nichts ist passiert, an das künftige Generationen sich erinnern müssten. ... Überall im Lande fanden Gedenkfeiern statt, bei denen immer das Gleiche gesagt wurde: dass man den Anfängen wehren und nicht vergessen dürfe, dass die Erinnerung das Geheimnis der Erlösung sei, und dass derjenige, der sich nicht erinnern möchte, dazu verdammt wäre, die Fehler der Vergangenheit zu wiederholen. Sagen wir es höflich und mit der gebotenen Zurückhaltung: Überall wurden dieselben Sprüche gedroschen, als ginge es darum, die Nazis im letzten Moment auf ihrem Marsch zu stoppen. ... In einem heroischen Akt nachgeholten Widerstands wurden sie dann in die Flucht geschlagen. ... Dieser retroaktive Erfolg war nur möglich, weil sich die Zeiten geändert haben: Es steht kein Viertes Reich vor der Tür, die Neonazis sind eher eine ästhetische Zumutung als eine politische Gefahr, und dort, wo sie sich herumtreiben, wie in einigen ‚national befreiten Zonen’, liegt ein Versagen der Polizei vor – aber kein Systemfehler.“
Unbequemer muss unser Gedenken sein. Die eigene Schuld müssen wir vor Gott bringen, nicht nur die unserer Väter und Mütter. Der Prophet Jesaja ist darin noch unerbittlicher als der Journalist unserer Tage. Er redet uns als die Herren von Sodom und als das Volk von Gomorra an.
Ziemlich direkt und freimütig lässt sich beim Hören dieses Prophetenwortes fantasieren, wie sich manche kirchlichen Ereignisse in den Augen Gottes wohl ausnehmen mögen. Normalerweise verdrängen wir solche Gedanken. Am Buß- und Bettag unterbricht Gott diesen Gang der Dinge, indem er uns die Schere und auch die anderen Werkzeuge der Zensur aus den Händen nimmt. Denn wo der Geist Gottes Raum greift, da breitet sich Freiheit aus.
III.
Hundert Kilo, harte Fäuste, Riesenmundwerk, so wird er beschrieben. Vielleicht kennen Sie Uwe Hück, den Betriebsratsvorsitzenden bei Porsche. Wenn man den Zweimetermann mit schwarzem Anzug und Glatze erlebt, will man nicht glauben, dass ihn irgend etwas aus der Bahn werfen könnte. Als er zwei Jahre alt war, starben seine Eltern bei einem Verkehrsunfall. Er und seine drei Geschwister wuchsen im Heim auf. So gut wie täglich gab es Hänseleien und Gemeinheiten in der Schule. Uwe hatte den schwarzen Peter gezogen. Irgendwann begann er, sich zu wehren. Er lernte Taek wondo und Boxen, dann die Verbindung aus beidem, Thaiboxen. Anfang der achtziger Jahre war er Europameister. Neben dem Sport machte er die Lackiererausbildung, ging zu Porsche, wurde Betriebsrat, schließlich Betriebsratsvorsitzender. Sein Motto klingt sehr evangelisch: „Ich will Menschen helfen, die sich selbst nicht gut helfen können.“ Doch mit der evangelischen Kirche, der Hück angehörte, gab es Probleme. Die erlaubte sich einmal eine Schofeligkeit. Eine Witwe wollte zur Beerdigung ihres Mannes die Glocken läuten lassen und sollte dafür 220 Mark an die Kirche zahlen. Die Witwe hatte das Geld aber nicht, also gab es kein Geläut. Hück ärgerte sich und trat aus der Kirche aus. Ich gebe zu: Ich wäre froh, es gäbe keine derartigen Gründe, aus unserer Kirche auszutreten.
Ein weiteres Bild ist mir auf dem Weg zum Buß- und Bettag 2008 wichtig geworden. In Berlin-Mitte fressen sich seit Wochen Abrissmaschinen in die letzten aufragenden Betonwände des ehemaligen Palastes der Republik. Bald wird er völlig verschwunden sein. Der gegenüberliegende Berliner Dom, der sich einst in der Glasfassade von „Erichs Lampenladen“ spiegelte, wird seit gestern Abend für einige Tage mit einer Lichtinstallation "visuell geflutet". Mit dieser Aktion machen der Umweltverband WWF Deutschland, Dom und Landeskirche auf die möglichen Auswirkungen eines ungebremsten Klimawandels und die Gefahren steigender Meeresspiegel aufmerksam. Das Abschmelzen des Grönland-Eisschildes wegen der globalen Erwärmung kann in einigen Ländern zu einem Anstieg des Meeresspiegels von bis zu sieben Metern führen und den Lebensraum von mehr als 330 Millionen Menschen bedrohen. Anfang Dezember wird die UN-Klimakonferenz in Posen tagen. Wird sie mutiger sein als ihre Vorgängerkonferenzen? Wird Barack Obamas Bekenntnis zu einer entschiedeneren Klimapolitik sie beflügeln?
Für den Buß- und Bettag 2008 bedeutet mir das: Unser Erinnern an die Ereignisse vor siebzig Jahren, das wir mit guten Gründen zu einem zentralen Thema des Buß- und Bettags gemacht haben, muss sich in eine Kraft verwandeln, die uns über gegenwärtige Bedrohungen reden lässt. Wir müssen uns den Fragen des Propheten Jesaja stellen. Er weist im Auftrag Gottes darauf hin, dass die Herren von Sodom und Gomorra Blut an den Händen haben. „Aus der Geschichte lernen“, heißt, die Zeichen an der Wand rechtzeitig zu erkennen, Despoten und Fanatiker ernst zu nehmen, die ganz ungeniert handeln.
Noch einmal Henrik M. Broder: „Es ist einfacher und macht mehr Spaß, sich gegenseitig zu versichern, dass der 9. November 1938 ‚nie wieder’ geschehen dürfe, und über den Verlust zu klagen, den die Austreibung der Juden der deutschen Kultur zugefügt hat. Denn die Welt liebt Juden, die auf dem Weg in den Tod noch schnell ein paar Gedichte schreiben, über die später Literaturseminare abgehalten und Dissertationen verfasst werden können. Der tote Jude ist ein gern gesehener Gast in der guten Stube des schlechten Gewissens; Juden, die etwas weniger feingeistig sind, dafür aber Kampfjets fliegen und mit Gewehren umgehen können, werden ermahnt, ihre eigenen Traditionen nicht zu verraten: die des Humanismus, des Pazifismus und der Wehrlosigkeit.“
Gott hält uns gerade dann die Treue, wenn er uns sperrige und unbequeme Hinweise in den Weg legt. So bewahrt er uns davor, in unverzeihlicher Dummheit zu verkümmern. Dafür sollten wir ihm dankbar sein. Die Bußpredigt des Propheten Jesaja für den heutigen Tag schließt mit den Worten:
So kommt denn und lasst uns miteinander rechten, spricht der HERR. Wenn eure Sünde auch blutrot ist, soll sie doch schneeweiß werden, und wenn sie rot ist wie Scharlach, soll sie doch wie Wolle werden. Wollt ihr mir gehorchen, so sollt ihr des Landes Gut genießen. Weigert ihr euch aber und seid ungehorsam, so sollt ihr vom Schwert gefressen werden; denn der Mund des HERRN sagt es.
Amen.