I.
Vor fünfzig Jahren fing es in der Berliner Deutschlandhalle an. Es sollte nur eine einmalige Aktion sein. Der Dank für die Hilfe, die wir in Deutschland in den schweren Nachkriegsjahren erfahren hatten, bildete den Ausgangspunkt. Tonnen auf der Bühne bildeten dafür das Symbol. Milchpulver hatten sie in das hungernde Deutschland gebracht. Nun hatten die Berliner ihr Dankopfer hineingeschüttet, damit es die Hungernden in Indien und Afrika erreichte. Otto Dibelius, der damalige Berliner Bischof und Ratsvorsitzende der EKD, kommentierte das so: „Die Antwort der Dankbarkeit nach überwundener Not ist die Liebe zu denen, die noch auf Hilfe warten“.
Jedem Deutschen stand im Jahr 1959 unmittelbar vor Augen, dass die Milchpulvertonnen in der Nachkriegszeit Lebensretter waren. Jeder Berliner wusste, was er den Hilfslieferungen in der Zeit der Blockade verdankte. Die selbst erfahrene Hilfe wurde zum Gründungsimpuls für die Aktion „Brot für die Welt“. „Wir wollen helfen!“ war ein Satz, der am Beginn von „Brot für die Welt“ unzählige Male zu hören war.
Die Wirkung war verblüffend. Der Geist der Nächstenliebe steckte an. Mit dem Aufruf „Brot für die Welt“ wurde weit mehr in Gang gesetzt, als die Urheber zu hoffen wagten. Eine Welle, die das ganze Land ergriff. Kirchengemeinden und Diakonische Werke sammelten das Geld; Körbe von Spendenbriefen gingen bei ihnen ein. Die Aktion konnte unmöglich ein einmaliges Ereignis bleiben. Sie wurde zu einer Bewegung, die unsere ganze Kirche ergriff. Heute gehört „Brot für die Welt“ zu Advent und Weihnachten wie Adventskranz und Weihnachtsbaum.
II.
Die Spenderinnen und Spender gaben reichlich und gern. Doch sie wollten und wollen genau wissen, wohin ihre Spende fließt und wem sie zugute kommt. Was geschieht mit dem, was ich tue? Wird es am konkreten Ort, in einer bestimmten Familie, für die einzelne Person etwas verändern? Rasch wurde deutlich, wie wichtig eine gute Informationsarbeit über die Länder und die Spendenprojekte war. Wer spendet, öffnet nicht nur den Geldbeutel, sondern auch das Herz; sein Blick weitet sich für die Nöte der Menschen und für die Lage, in der sie sich befinden.
In den ersten Jahren standen konkrete Projekte der Hilfe zur Selbsthilfe im Mittelpunkt. Doch schon bald rückten die strukturellen Ursachen der Armut in den Vordergrund. Angestoßen durch Debatten in der Ökumene wurde die Arbeit politischer. Gemeinsam mit seinen Partnern machte „Brot für die Welt“ die internationalen Machtstrukturen zum Thema und befragte die wirtschaftlichen Orientierungsmuster der Industrienationen. Freilich war derartige „Systemkritik“ unter den Spenderinnen und Spendern ebenso umstritten wie in Synoden und Kirchenleitungen.
Aus solchen Debatten entstand vor 25 Jahren die „Inlandsarbeit“ von „Brot für die Welt“. Sie rückte die besondere Verantwortung der Industrieländer zur Überwindung der Armut in den Vordergrund. Viele werden sich noch an manche Slogans dieser Phase erinnern, beispielsweise: „Einfacher leben, damit alle überleben“ oder „Hunger durch Überfluss“.
In der Zeit der deutschen Teilung war „Brot für die Welt“ eine bemerkenswerte gesamtdeutsche Gemeinschaftsaktion. Dass sie Bestand hatte, war angesichts der politischen Konfrontation zwischen Ost und West ein Wunder. Dass wieder zusammenwachsen konnte, was zusammengehört, haben wir nach 1990 an der Aktion „Brot für die Welt“ besonders dankbar erlebt. Aber ebenso wie alle evangelischen Landeskirchen beteiligen sich auch die evangelischen Freikirchen an dieser Initiative. Der breite Konsens unter den evangelischen Christen in Deutschland wie die tiefgehende ökumenische Übereinstimmung in solchen Fragen sind ein kostbarer Schatz.
III.
Seit der Gründung von „Brot für die Welt“ hat sich die Menschheit verdreifacht, über eine Milliarde Menschen leben in absoluter Armut. Die Aufgabe von „Brot für die Welt“ ist zu Beginn des 21. Jahrhunderts genau so dringlich wie vor fünfzig Jahren. Ich kenne den Einwand, alles, was man da tun könne, gleiche doch dem Tropfen auf den heißen Stein. Doch eines anderen wird belehrt, wer einmal Menschen in einem sudanesischen Flüchtlingslager gesehen hat, denen durch neue Brunnen Zugang zu sauberem Wasser gewährt wird, wer in Äthiopien jungen Leuten begegnet, die auf einen Beruf vorbereitet werden, oder wer in Südafrika erlebt, wie die Treatment Action Campaign die Behandlung von Aids-Kranken mit antiretroviralen Medikamenten durchsetzt. Das sind einige Beispiele, die ich in jüngster Zeit mit eigenen Augen gesehen habe; es sind Projekte, die „Brot für die Welt“ mit deutschen Spendengeldern fördert.
Fünfzig Jahre „Brot für die Welt“ sind eine eindrucksvolle Erfolgsgeschichte. In vielen Kirchengemeinden ist der Spendenaufruf am Ersten Advent mit einem Gottesdienst verbunden, der die Solidarität mit den Armen zum Thema hat. Zahllose Kirchengemeinden organisieren in der Adventszeit Basare für „Brot für die Welt“ oder gestalten Programme, die das Verständnis für die Ursachen der weltweiten Armut und für Wege zu ihrer Überwindung wecken. In unserem Eintreten für die Verwirklichung der Milleniums-Entwicklungsziele hat „Brot für die Welt“ einen wichtigen Ort. Und wir wissen alle: Die Zeit drängt. Bis 2015 soll die weltweite Armut halbiert sein – ein kühnes Ziel! Aber wir stehen zu diesem Ziel – auch in einem Jahr, in dem die globale Finanzmarktkrise die Aufmerksamkeit auf ganz andere Themen lenkt. Doch gerade jetzt dürfen die Ärmsten der Armen nicht vergessen werden!
Die Aktion „Brot für die Welt“ ist tief verwurzelt in Kirchen und Gemeinden. Darüber bin ich von Herzen froh; und dabei soll es auch bleiben. Den Partnern in vielen Ländern der Dritten Welt sowie den engagierten beruflichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, insbesondere aber den Spenderinnen und Spendern sage ich an diesem Jubiläumstag einen großen und herzlichen Dank. Möge dieser Geist der Nächstenliebe weiterhin kräftig wachsen! Möge „Brot für die Welt“ unter Gottes Segen weiterhin viel Gutes bewirken! Das ist mein herzlicher Wunsch an diesem Jubiläumstag.