Dass der 40. Todestag des Schweizers Karl Barth in Basel gegangen wird, ist keineswegs so selbstverständlich, wie es auf den ersten Blick scheint. Obwohl seine Zugehörigkeit zur Universität Basel mehr als drei Jahrzehnte dauerte, wäre seine Rückkehr in die Heimat unter anderen Umständen keineswegs selbstverständlich gewesen. Vielmehr hängt Karl Barths Wirken in Basel ganz unmittelbar mit den finsteren Seiten der deutschen Geschichte zusammen: mit dem nationalsozialistischen Regime, das auch über Universität und Kirche herrschen wollte, und auch mit einer Kirche, die keineswegs durchgängig dem klaren Kurs folgte, den Karl Barth ihr anempfahl, und es auch an der Unterstützung fehlen ließ, zu der sie gegenüber dem Verfasser der Barmer Theologischen Erklärung verpflichtet gewesen wäre.
Karl Barths Todestag, aber ebenso die 75. Wiederkehr des Tages, an dem die Bekenntnissynode in Barmen sich die von ihm entworfene Barmer Theologische Erklärung zu Eigen machte – diese 75. Wiederkehr ist am Pfingstsonntag des nächsten Jahres zu begehen – , sind herausgehobene Anlässe dafür, den Dank zum Ausdruck zu bringen, den die Evangelische Kirche in Deutschland diesem großen Schweizer Theologen schuldet. Seine Theologie wirkt nicht nur nach; sondern sie ist unter uns gegenwärtig, wie der Karl-Barth-Preis der Union evangelischer Kirchen in der EKD exemplarisch verdeutlicht.
Wie sollten wir unseren Dank für Karl Barths Dienst an Kirche und Theologie anders abstatten als dadurch, dass wir uns um das bemühen, was ihn Zeit seines erwachsenen Lebens beschäftigte – , nämlich gute Theologie?
I. Die Frage
Die Frage, was gute Theologie ist, kann man nur beantworten, indem man Kriterien für eine solche Theologie angibt. Leider gibt es auch schlechte Theologie, die diese Kriterien nicht erfüllt. Wo nötig, muss das auch ausgesprochen werden, um besserer Theologie willen.
Aber wir sollten unser Licht und das Licht unserer Theologie nicht unter den Scheffel stellen. Wir wären nicht hier, wenn es nicht gute Theologie gäbe, wenn uns nicht gute Theologinnen und Theologen geprägt hätten und nach wie vor prägten. Karl Barths vierzigster Todestag ist ein guter Anlass, das zu betonen.
Dabei nötigt ein Blick auf Barths Biographie, die Kriterien guter Theologie nicht zu formal anzusetzen. Denn immerhin erinnern wir uns heute an einen Theologen, der in ein akademisches Lehramt berufen wurde, ohne je die akademischen Qualifikationsstufen der Promotion und der Habilitation durchlaufen zu haben. In der Folgezeit nahm er sich stets die Freiheit, formale Kriterien für gute Theologie zurücktreten zu lassen und sich ganz am Inhalt zu orientieren. Nicht die Fügsamkeit gegenüber den Kriterien, die seit dem Übergang zur Moderne für wissenschaftliches Erkennen gelten – die Unterscheidung zwischen dem erkennenden Subjekt und dem zu erkennenden Objekt vor allen anderen – , prägen Barths Begriff der Theologie. Vielmehr liegt es an Karl Barth, ja, man möchte sagen, allein an ihm, dass eine populäre Darstellung des Weges der evangelischen Theologie im 20. Jahrhundert den Titel erhielt: „Die Sache mit Gott“.
Inzwischen sind solche Bezeichnungen seltener geworden. Heute fürchtet die Theologie wieder stärker, sie könne sich um die wissenschaftliche Reputation bringen, wenn sie sich zu unvermittelt an ihrer eigenen Sache orientiert. In die Debatte darum, was gute Theologie sei, ist wieder Bewegung gekommen.
Ich will mich an diese Frage unter vier Gesichtspunkten annähern: Die Person, der Ort, das Thema, der Weg. So heißen diese vier Gesichtspunkte.
II. Die Person
Gute Theologie braucht gute Theologen. Die personale Dimension guter Theologie ist von entscheidender Bedeutung. Ich habe damit keineswegs ein Kriterium im Sinn, das allein auf die Theologie anzuwenden wäre. Alle Wissenschaft lebt vielmehr von der Erkennbarkeit der Personen, die sie betreiben; denn sie alle beziehen ihre Kraft aus einer Begeisterungsfähigkeit, ohne die Wissenschaft nicht gelingen kann, und einer damit korrespondierenden herausragenden Befähigung zu solcher Arbeit. Deshalb: Keine gute Theologie ohne das Charisma der Person. Dafür ist Karl Barth ein herausragendes Beispiel – aber er ist nicht das einzige.
Als ich im Sommersemester 1960 im Alter von siebzehn Jahren mit dem Studium der Theologie begann, war Heidelberg als Studienort ausersehen. Doch ich machte Gebrauch von dem angenehmen Zufall, dass das Semester in Basel einige Tage früher begann als in Heidelberg, wo der Semesterbeginn damals noch auf den 1. Mai festgelegt war. So fuhr ich zusammen mit dem Bruder eines Pfadfinderfreundes von Lörrach aus an einigen Tagen nach Basel, um Karl Barth zu hören. Er hatte als Theologe für mich deshalb einen herausragenden Rang, weil uns unser Religionslehrer in Freiburg auf ihn aufmerksam gemacht hatte. Manche Abende hatten wir in dessen Studierstube verbracht und den „weißen Elefanten“ hinter dem Schreibtisch bestaunt. Warum man bei Barth das Kleingedruckte lesen müsse, erklärte er uns schon damals. Man verstehe dadurch das Profil dieser Theologie im Verhältnis zu den großen Formationen der theologischen Tradition. Und dieses Profil entwickle sich in der unmittelbaren Auseinandersetzung mit biblischen Texten. Das Kleingedruckte erspare manchen exegetischen Kommentar. So lernten wir es von unserem Religionslehrer, am Abend, in seinem verqualmten Studierzimmer.
Profil musste man auch bei Karl Barth zeigen, das merkten wir auch in jener ersten Woche des Sommersemesters 1960, in der wir nicht nur Barths Vorlesung besuchten, sondern uns auch unerlaubt in sein Seminar setzten. Reden durfte dort nur, wer einen Platz in der ersten Reihe um den Seminartisch hatte: mit eigenem Gesicht und eigener Verantwortung für den Fortgang des theologischen Gesprächs. Dass man, wenn man Barths Theologie ernst nahm, kein „Barthianer“ sein könne, wurde mir auf diese Weise vor dem Beginn meines ersten Studiensemesters klar. Jedenfalls daran habe ich mich in den 48 Jahren seitdem gehalten.
Von Barth wird berichtet, dass er sich auch in seinen späten Jahren noch als „stud. theol.“ bezeichnet habe. Ein guter Theologe zu sein, bedeutet, stets ein Lernender zu bleiben. Auch deshalb verbietet es sich, die Positionen von wichtigen Lehrern der Theologie absolut zu setzen.
Aber die Personen sind wichtig. Das wurde mir an keinem anderen Dokument deutlicher als an dem Briefwechsel zwischen Adolf von Harnack und Karl Barth, der, daran kann man nicht deuteln, unmittelbar mit der Frage nach guter Theologie zu tun hat. „Fünfzehn Fragen an die Verächter der wissenschaftlichen Theologie unter den Theologen“ richtete Adolf von Harnack 1923 an den, wie er ganz am Ende der Korrespondenz begütigend erklärte, „befreundeten Theologen“. Angesichts meines jugendlichen Interesses für Barth war es für mich eine schockierende Erfahrung, dass ich mich schon beim ersten Lesen dieses Schlagabtauschs auf die Seite Harnacks und nicht auf die Seite Barths gezogen fühlte; vielleicht führte mein Weg mich auch deshalb zunächst in die Patristik, in die Disziplin Harnacks, und erst später in die Systematische Theologie, also in Barths theologisches Fach.
Aber auch dieser Übergang machte mich nicht einfach zum „Barthianer“. Man darf die Feststellung des Inhalts des Evangeliums nicht dem „Erlebnis“ des Einzelnen überlassen, sondern hat dafür geschichtliches Wissen und kritisches Nachdenken nötig – von dieser ersten Harnackschen These gegen Barth an leuchtete mir ein, dass mit dem Eingehen auf das wissenschaftliche Wahrheitsbewusstsein der Moderne für die Deutung des christlichen Glaubens kein Verlust, sondern ein Gewinn verbunden ist. Aber Barths Insistieren darauf, dass das Objekt der Theologie zuallererst selber „Subjekt“ sei – nämlich der sich offenbarende Gott selbst – , behielt für mich zugleich eine unüberbietbare Anziehungskraft.
Es mag damit zusammenhängen, dass ich immer wieder den Wunsch verspürte, mich bestimmten Formen der theologischen Konfrontation und kategorischen Behauptungen über positionelle Unvereinbarkeiten zu entziehen. Bis zum heutigen Tag wird beispielsweise Barth von manchen auf eine recht einseitige Weise als Beleg dafür verwendet, das „Evangeliumsgemäße“ sei das einzig entscheidende Kriterium guter Theologie. Andere treten gegen Barth und mit Schleiermacher als Verfechter einer kulturhermeneutischen Perspektive auf, in der allein die gegenwärtigen Formen religiöser Sinnstiftung die Relevanz von Theologie bestimmen. Ganz gegen eine heute an sich vorherrschende Tendenz, theologiegeschichtliche Konstellationen zu historisieren, werden dabei die Positionen der Dialektischen Theologie einerseits, des Kulturprotestantismus andererseits absolut gesetzt.
Dabei kann doch kein Zweifel daran bestehen, dass der Kulturprotestantismus zwischen Schleiermacher und Harnack einerseits, die Dialektische Theologie Karl Barths andererseits ihre jeweiligen Stärken heute gerade dann zeigen, wenn man sie historisiert, also in ihrem historischen Kontext versteht. Geht es im einen Fall darum, die ausgreifenden Ansprüche europäischer Kultur im Augenblick ihrer weltgeschichtlichen Relativierung theologisch zu fassen, so geht es im anderen Fall darum, das Bewusstsein einer offenkundig gewordenen Krise zu verarbeiten. Ein Jahrhundert später diese epochale Konstellation einfach zu reproduzieren, ist offenkundig unfruchtbar. Nur in die Schuhe der damaligen Kontrahenten zu schlüpfen, erweist sich als epigonal.
Gegenüber den Herausforderungen des 21. Jahrhunderts wirkt eine solche Debatte wie ein Nachhutgefecht. Ich verstehe den Sinn des heutigen Kolloquiums so, dass es über solche Betrachtungsweisen deutlich hinausführt. Erfreulicherweise auch dadurch, dass es von vornherein „transatlantisch“ angelegt ist. Denn eine erstaunliche Aktualität erweist Karl Barth – wie neben ihm aus jeweils unterschiedlichen Gründen Dietrich Bonhoeffer und Paul Tillich – auch dadurch, dass er bis zum heutigen Tag diesseits wie jenseits des Atlantiks theologisches Denken zu stimulieren vermag. Auch in diesem Anregungspotential erweist sich die Richtigkeit der These, dass gute Theologie unlösbar an die Person dessen gebunden ist, der Theologie treibt.
III. Der Ort
Zu guter Theologie gehört die Bindung an die Wirklichkeit der Kirche. Aber dies verträgt sich mit der Beheimatung der Theologie am Ort der Wissenschaft, also insbesondere an der Universität. Die auch an diesem Ort fortbestehende Bindung an die Wirklichkeit der Kirche kann sich programmatisch unter dem Titel einer „Kirchlichen Dogmatik“ zeigen; es gibt dafür aber auch andere Wege. Die Bindung an die Kirche schließt die kritische Auseinandersetzung mit den kirchlichen Zuständen der eigenen Zeit ein. Aber gute Theologie ist ohne ein Ja zur Kirche weder denkbar noch lebbar.
Die christliche Theologie ist von Anfang an im Lebenszusammenhang der Kirche entstanden; sie bleibt auf diesen Zusammenhang immer angewiesen. Das gilt, wie die neueren Untersuchungen von Christoph Markschies beispielhaft gezeigt haben, seit der Theologie der alten Kirche. Schon in dieser frühen Zeit bildet zugleich der Brückenschlag zwischen der Bindung an die Kirche und der Bindung an Orte der Wissenschaft ein besonderes Charakteristikum der christlichen Theologie. Das prägt dann auch die Entstehung und Entwicklung der europäischen Universität seit dem Mittelalter. Für die römisch-katholische Theologie gestaltet sich das Verhältnis der beiden Orte als Vorordnung des kirchlichen Lehramts vor die Theologie aus.
Davon unterscheidet sich die reformatorische Verhältnisbestimmung auf charakteristische Weise. Für sie ist entscheidend, dass der Theologie selbst eine Teilhabe am Lehramt der Kirche und damit eine kirchenleitende Aufgabe zuerkannt wird. Sowohl aus diesem Grund als auch im Blick auf die Ausbildung des geistlichen Nachwuchses gilt die Theologie als eine praktische Wissenschaft.
Das ist eine sperrige Aussage. Sie knüpft an die alte Nähe der Theologie zu Medizin und Jurisprudenz an. Auch sie haben eine unmittelbar berufsvorbereitende und in diesem Sinn „praktische“ Bedeutung. Vor allem dienen auch sie der kompetenten Ausübung eines „Vertrauensberufs“, für den nicht nur fachliche Exzellenz, sondern auch persönliche Integrität ausschlaggebend ist. Insofern wiederholt sich auch an dieser Stelle noch einmal die Einsicht in die herausragende Bedeutung der Person. Aus dieser Perspektive muss man sich übrigens die „transatlantische“ Frage gefallen lassen, ob das europäische Modell der Theologenausbildung dem Gesichtspunkt der Persönlichkeitsentwicklung – die Übung persönlicher Spiritualität eingeschlossen – den Rang einräumt, den er benötigt.
Dass die Theologie eine praktische Wissenschaft ist, erweist sich aber auch noch unter einem anderen Aspekt als außerordentlich aktuell. Der bleibende Sinn dieser Bestimmung zeigt sich heute angesichts einer unter diesem Gesichtspunkt eher verfehlten Einordnung der Theologie in die Gruppe der Kulturwissenschaften sowie der Vorstellung, das Studium der Theologie ließe sich umstandslos in stomlinienförmiger Bologna-Manier auf einen Bachelor- und einen Master-Studiengang aufteilen. Problematisch ist das jedenfalls dann, wenn ein Bachelor der Theologie einen eigenständigen Berufszugang in der Kirche eröffnen soll. Denn wenn die Theologie als praktische Wissenschaft bereits mit einem Bachelor abgeschlossen werden kann – auf welche Praxis bereitet dann dieser Bachelor vor? Und wie verhalten sich die praktischen Aufgaben zueinander, die von einem Bachelor und von einem Master der Theologie, jedenfalls in der Kirche, wahrgenommen werden können?
Es genügt, solche Fragen zu stellen, um sich zu vergegenwärtigen, dass die reformatorische Bestimmung der Theologie als einer praktischen Wissenschaft auch für uns Heutige eine bleibende Orientierungskraft entfalten kann. Diese Bestimmung hat das neuzeitliche Theologieverständnis in der evangelischen Theologie in einer bemerkenswerten Kontinuität geprägt. Dass dies für Karl Barths „Kirchliche Dogmatik“ gilt, ist allgemein bekannt. Doch genau an diesem Punkt gibt es keine Differenz zu seinem, ein Jahrhundert früher wirkenden Antipoden Friedrich Schleiermacher. Für ihn ist die Theologie bekanntlich „der Inbegriff derjenigen wissenschaftlichen Kenntnisse und Kunstregeln ... , ohne deren Besitz und Gebrauch eine zusammenstimmende Leitung der christlichen Kirche, d.h. ein christliches Kirchenregiment, nicht möglich ist.“
Unter Kirchenleitung versteht Schleiermacher dabei die praktische Tätigkeit, die darauf gerichtet ist, dass die Kirche als ganze ihren Auftrag wahrnimmt – nämlich den Glauben an Gott zu wecken und ihn zu loben. Wer Theologie treibt, nimmt damit kirchenleitende Verantwortung wahr – keineswegs nur in der äußerlich erkennbaren Übernahme kirchlicher Leitungsämter, sondern ebenso im praktischen Dienst in der Gemeinde. Denn die These, die Kirche sei der Ort der Theologie, ist ja nur dann ernst genommen, wenn auch der praktisch tätige Absolvent der Theologie sich eben nicht nur als Absolvent, sondern als Theologe versteht.
Dafür nun bildet Karl Barth ein besonders überzeugendes Beispiel. Denn diejenigen Arbeiten, die ihn – ohne Promotion und Habilitation – ins akademische Lehramt brachten, gewannen im Safenwiler Pfarramt Gestalt. Damals stellte sich die Frage, ob ein Pfarrer – ohne Promotion und Habilitation – ins akademische Lehramt gelangen könne; mit dieser Möglichkeit rechnet heute niemand mehr. Heute dagegen stellt sich die Frage, ob ein bestallter akademischer Lehrer der Theologie wohl kirchlich ordiniert werden könne – ohne Vikariat und Zweites Examen, wozu auf dem akademischen Weg keine Zeit geblieben war. Für die These, dass die Theologie eine praktische Wissenschaft sei, bleibt diese Umkehrung nicht folgenlos.
Doch die grundsätzliche Verbindung von Theologie und Kirche bleibt auch unter derart veränderten Bedingungen bestehen. Zum einen ist die Theologie auf die Aufgaben der Kirchenleitung ausgerichtet, nämlich darauf, dass ihre Kenntnisse und Kunstregeln angeeignet und gebraucht werden. Zum anderen ist die Kirchenleitung auf Theologie angewiesen, nämlich darauf, dass ihr praktisches Handeln kritisch auf sein Zusammenstimmen mit den entsprechenden Kenntnissen und Kunstregeln überprüft wird. Wie wichtig diese doppelte Bindung ist, kann ich aus eigener täglicher Erfahrung bestätigen.
Bei allem konstruktiv-kritischen Miteinander von Theologie und Kirchenleitung ist freilich nicht zu übersehen, dass diese beiden Seiten institutionell voneinander geschieden sind. Gerade durch dieses institutionelle Auseinandertreten können die Theologie zur kritischen Instanz der kirchlichen Praxis und die Kirchenleitung zur kritischen Instanz der Theologie werden. Diese kritische Verbundenheit von Theologie und Kirchenleitung kann nur unter der Voraussetzung der Freiheit wirklich fruchtbar werden.
Nur unter der Bedingung der Freiheit kann die Verpflichtung der Theologie auf die Wahrheit sich entfalten. Ohne diese Wahrheitspflicht würde die Theologie zuallererst gegenüber ihrem Auftrag zum Dienst an der Kirche versagen. Sie würde sich aber zugleich ihrer Bedeutung für die Universität verweigern, die zuallererst, wie Eberhard Jüngel einmal formuliert hat, in „der ihr wesentlichen Bestimmung“ zu sehen ist, „für Wahrheit verantwortlich zu sein“.
IV. Das Thema
Das erste und wichtigste Thema der Theologie ist Gott. Gute Theologie redet von Gott. Dazu holt sie ihre Inspiration aus der Bibel und erhält dafür Orientierung aus der kirchlichen Tradition, insbesondere aus den Bekenntnissen.
Oder in einer an Karl Barth anschließenden Formulierung von Eberhard Jüngel: Gegenstand der Theologie ist „das auf Wahrheit Anspruch erhebende, sich in den biblischen Texten manifestierende und aus den biblischen Texten zu gewinnende Wort Gottes. Der Wahrheitsanspruch dieses Wortes ist nur im Glauben verifizierbar.“
Dieses Kriterium wurde freilich ursprünglich unter den Bedingungen kultureller und religiöser Homogenität formuliert. Die Bezugnahme auf nichtchristliche Religionen vollzog sich in der europäischen Theologie unter dem Gesichtspunkt, auch die indigenen Religionen von Missionsgebieten in den Blick zu nehmen. Das „Wort Gottes“ jedoch trat nicht zu anderen Wörtern in Konkurrenz. Auch wenn die These von der Absolutheit des Christentums verabschiedet wurde, geschah das nicht, weil andere Religionen auf Anerkennung drängten. Die These, Religion sei Unglaube, ließ sich auch deshalb relativ leicht vertreten, weil es nicht allzu schwer war, den christlichen Glauben aus der Umklammerung durch die Religion zu befreien.
Heute ist das anders. Die Interdependenz in der einen Welt trägt nicht nur ökonomischen, sondern auch kulturellen und religiösen Charakter. Christliche Selbstverständigung, die das nicht berücksichtigt, braucht sich über ihren Relevanzverlust nicht zu wundern. Trotzdem meinen manche immer noch, bei der Bestimmung des gegenwärtigen Ortes der Theologie ausschließlich auf den Horizont der christlichen Theologie, ja unter Umständen sogar nur auf Paradigmen aus der Geschichte der deutschsprachigen evangelischen Theologie zurückgreifen zu müssen. Doch der Situation globaler Pluralität, die sich gerade in Europa in jedem einzelnen Land, wenn auch auf unterschiedliche Weise, widerspiegelt, werden wir nicht gerecht, wenn wir unser theologisches Selbstverständnis auf derart hermetisch abgeschlossene Weltbilder stützen.
Die Wahrnehmungsfähigkeit heutiger Theologie muss sich nicht nur auf andere konfessionelle Gestalten des Christentums und auf die Ausprägungen des Christentums in anderen Kontinenten ausdehnen; sie muss sich ebenso mit anderen Religionen, weltanschaulichen Überzeugungen und nichtreligiösen Lebensformen auseinandersetzen. Unter Formeln, die lediglich mit einem Allgemeinbegriff von Religion arbeiten, bleiben die Differenzen, um die es dabei geht, unterbestimmt. Solche Formeln leiten gerade nicht dazu an, die Doppelaufgabe zu lösen, die sich noch immer am besten in der Zusammengehörigkeit von Identität und Verständigung fassen lässt.
Die heutige Herausforderung besteht in der Doppelaufgabe der Beheimatung im Eigenen und der Wahrnehmung des Fremden, der Ausbildung einer eigenen Identität und der Verständigung mit dem Anderen. Wie bildet sich und worin zeigt sich christliche Identität unter den Bedingungen einer religiös pluralen Gesellschaft? Und wie gelingt das Zusammenleben von einander Fremden, ohne dass dabei Toleranz mit Selbstvergleichgültigung verwechselt wird? Fragen dieser Art stellen sich mit wachsender Dringlichkeit. Antworten erschließen sich nur dann, wenn die Bestimmtheit der christlichen Rede von Gott in den Dialog der Religionen eingebracht wird. Karl Barths Einsicht, dass die christliche Rede von Gott sich nur von der Selbstoffenbarung Gottes in Jesus Christus her erschließt, gewinnt deshalb eine ganz neue Aktualität.
Denn dem Konfliktpotential, das in der Pluralität der Religionen liegt, lässt sich nicht durch eine Verharmlosung ihrer Unterschiede beikommen. Der interreligiöse Dialog gelingt weder dadurch, dass man im Zuge einer allgemeinen Religionshermeneutik die Differenz religiöser Haltungen zum Verschwinden bringt, noch dadurch, dass man sich ins Schneckenhaus der eigenen Tradition verkriecht und andere Überlieferungen und Lebensformen mit Nichtachtung bedenkt. Der Rat der EKD hat in seiner Handreichung „Klarheit und gute Nachbarschaft“ konkretisiert, was dies im Hinblick auf das Verhältnis von Christen und Muslimen in Deutschland bedeuten kann. Nicht nur die positiven, sondern auch die kritischen Reaktionen auf diesen Text haben mich in der Überzeugung bestärkt, dass wir damit auf dem richtigen Weg sind.
Dass die These, Theologie sei die Rede von Gott, in Aporien führt, hat schon Karl Barth mit der notwendigen Klarheit hervorgehoben. Wenn er gute Theologie darin erkennt, dass sie im Blick auf die Rede von Gott Beides, unser Sollen und unser Nichtkönnen, zum Ausdruck bringt, macht er damit schon klar, dass Theologie, indem sie von Gott redet, zugleich vom Menschen redet. Sie reflektiert, dass und wie sich der Mensch in seiner Beziehung zu Gott wahrnimmt.
Die Reformation und die aus ihr gespeiste Theologie spricht dem Menschen einen ganz neuen Rang zu, weil sie die Würde des Einzelnen in der Beziehung zu Gott und nicht in seinen Leistungen, seiner Herkunft, seinem Stand, seiner Rasse oder seiner Nation wurzeln lässt. Zwar entzieht die Aufhebung des religiösen Leistungsgedankens der positiven Bewertung von Leistungen nicht den Boden; aber sie misst sie mit menschlichem Maß. So wird deutlich, dass es in diesen Leistungen um den verantwortlichen Umgang mit den Gaben geht, die dem Menschen anvertraut sind. Es geht nicht um die Erlangung der ewigen Seligkeit. Wir leben aus der uns anvertrauten Würde, aber wir stellen sie nicht selber her.
Gerade im Blick auf den Menschen ist gute Theologie durch ein spezifisches Grenzbewusstsein geprägt. Sie stellt die Frage, welche Grenzen menschlichen Bemächtigungsansprüchen gestellt sind. Sie tritt dafür ein, die Grenze der Herrschaftsansprüche des Menschen über den Menschen zu achten, die mit der Würde jedes Menschen gegeben ist. Sie tritt ebenso dafür ein, dass die Verfügungsansprüche des Menschen dort eine Grenze haben, wo der Mensch sich selbst oder andere nur noch wie eine Sache behandelt, deren Lebensrecht er selbst meint abschließend beurteilen zu können. Deshalb meldet sie sich zu Wort, wo neue Tendenzen dazu auftauchen, lebenswertes und lebensunwertes Leben voneinander zu unterscheiden oder auf die Möglichkeiten der modernen Medizin mit dem Ruf nach der aktiven Sterbehilfe oder dem assistierten Suizid zu antworten. Hier in der Schweiz sind dazu Erfahrungen gesammelt worden, die uns in Deutschland haben aufmerken lassen. Grenzbewusstsein ist heute in spezifischer Weise im Blick auf den Umgang des Menschen mit sich selbst, auf die Verfügung über Anfang und Ende seines Lebens vonnöten.
V. Der Weg
Der frühe Barth hat auf die Frage nach dem Weg der Theologie eine unzweideutige, aber doch bezweifelbare Antwort gegeben: „’Wahrhafte Aussagen über Gott’ – so hielt er Adolf von Harnack entgegen – werden überhaupt nur da gemacht, wo man sich statt auf irgendeine Höhe der Kultur oder der Religion vor die Offenbarung und damit unter das Gericht gestellt weiß, unter dem mit allen menschlichen Aussagen über diesen Gegenstand doch wohl auch die Goethes und Kants stehen. Schleiermachers Bangemachen vor der ‚Barbarei’ ist als unwesentlich und unsachlich abzulehnen, weil das Evangelium mit der ‚Barbarei’ so viel und so wenig zu tun hat wie mit der Kultur.“
Die Äquidistanz gegenüber Kultur und Barbarei, die er dem Evangelium unterstellt, hat Barth selbst in seiner Theologie zum Glück nicht durchgehalten. Die programmatische Ferne gegenüber der Kultur steht vielmehr zu seinen eigenen, durchaus hochkulturellen Vorlieben in einem erkennbaren Kontrast. Man darf freilich nicht verkennen, dass die These von der Diastase zwischen Evangelium und Kultur aus der Verzweiflung über den Bankrott einer angeblich christlichen Kultur im Ersten Weltkrieg geboren war. Die Einsicht in einen solchen Bankrott ist uns Nachgeborenen ohne Zweifel nicht ferner, sondern näher gerückt. Deshalb darf man es sich mit dem Abschied von Barths Diastase auch wieder nicht zu einfach machen. Vielmehr lohnt es sich, darauf zu achten, in welcher Denkbewegung Barth sich selbst von dieser Diastase entfernte. Er schwor der kompletten Diastase zwischen Evangelium und Kultur ab, indem er einer Denkfigur des Anselm von Canterbury nachdachte: Fides quaerens intellectum – der Glaube auf der Suche nach Erkenntnis.
Wer einsieht, dass der Glaube sich für sein Verstehen der menschlichen Vernunft bedient, wird auch nicht davor zurückscheuen, dass er für seine Darstellung von den Möglichkeiten menschlicher Kultur Gebrauch macht. Wenn die Unterscheidung zwischen Glaube und Vernunft nicht in deren Diastase mündet, dann braucht auch die Unterscheidung zwischen Glauben und Kultur nicht die Kulturlosigkeit des Glaubens zur Folge zu haben. Vielmehr gehört es zu den Paradoxien in der Wirkungsgeschichte der reformatorischen Freiheitsbotschaft, dass evangelische Theologie die Freiheit der Offenbarung durch eine Befreiung von der kulturellen Gestalt meinte sichern zu müssen, in der sie sich vermittelt. Als ob man, um Johann Baptist Metz zu zitieren, den kulturellen Rost nur vom Eisen des Evangeliums abklopfen müsse, um es blank zurückzubehalten. So verständlich diese Absetzbewegung war, so sehr ist es heute angezeigt, die Freiheit des Glaubens nicht nur als Freiheit von der Welt, sondern auch als Freiheit in der Welt, nicht nur als Freiheit von der Kultur, sondern auch als Freiheit zur Kultur zu verstehen. Und ebenso ist auch die Freiheit nicht nur als Freiheit von einer irdisch-geschichtlichen Existenzform, sondern als Freiheit zur irdisch-geschichtlichen Existenzform zu verstehen. Das Mittlere zwischen der „Kirche im Defekt“ und der „Kirche im Exzess“, um ein berühmtes Barthsches Begriffspaar zu verwenden, liegt nämlich nicht in der unsichtbaren Kirche, sondern in der Kirche als sichtbarer, erfahrbarer Gemeinschaft der Glaubenden.
Dass diese Gemeinschaft der Glaubenden als Kirche der Freiheit gestaltet wird, ist immer wieder das entscheidende Thema von Kirchenreform in evangelischem Verständnis. Die Befreiung der Kirche aus ihrer „babylonischen Gefangenschaft“ ist der Grundimpuls reformatorischen Handelns. Die „Freiheit eines Christenmenschen“ findet in einer „Kirche der Freiheit“ eine Entsprechung.
Die Formel von der „Kirche der Freiheit“ hat allerdings für Karl Barth, so weit ich sehe, keine tragende Rolle gespielt. Der Gedanke einer „Realisierung der Freiheit“ war ihm fremd. Denn er verstand die Freiheit des Glaubens immer als etwas Vorgegebenes, das gerade deshalb als Autorität zu akzeptieren sei.
Karl Barth thematisiert übrigens in der „Kirchlichen Dogmatik“ nicht die „Kirche der Freiheit“, sondern die „Freiheit in der Kirche“ (KD I/2, § 21). Diese Freiheit in der Kirche erweist sich in erster Linie als eine Freiheit des Wortes. Dieses Wort ruft Menschen zu einer Wahl und Entscheidung, zu einem eigenen Beschließen und Bestimmen (S. 750). Aber das Wort Gottes bleibt das Subjekt der Freiheit in der Kirche. Die antwortende Freiheit des Menschen ist deshalb eine „Freiheit unter dem Wort“. Die menschliche Freiheit in der Kirche zeigt sich also vor allem anderen in der „Übernahme einer Verantwortung für die Auslegung und Anwendung der heiligen Schrift“ (S.797).
Damit wird ein Weg beschrieben. Die Bewegung der Theologie wird eindeutig in der Kirche verankert. Denn Theologie ist in einer solchen Perspektive insgesamt nichts anderes als die „Übernahme einer Verantwortung für die Auslegung und Anwendung der heiligen Schrift.“ Man wird indessen mit Barth über Barth hinaus nicht nur fragen dürfen, sondern auch fragen müssen, wie die Kirche, die durch die „Übernahme der Verantwortung für die Auslegung und Anwendung der heiligen Schrift“ geprägt ist, Gestalt annimmt. Eine Kirche, die aus der Freiheit des Wortes lebt und sich in der Freiheit unter dem Wort bewährt, muss auch als Kirche der Freiheit erkennbar sein.
Dabei bleibt festzuhalten: Man kann die Kirche nicht „machen“. Die Kirche ist als Gemeinschaft derer, bei denen sich im Hören auf das äußere Wort gemeinsames Gewisswerden, Vertrauen und Hoffen einstellt, ein Geschöpf des Wortes Gottes. Deshalb steht im Zentrum des Selbstverständnisses der Kirche das Element der Unverfügbarkeit. Aber das schließt das Gestalten des Verfügbaren nicht aus. Auch die Antizipation erwartbarer Entwicklungen und die Aufgabe, ihnen gegebenenfalls gegenzusteuern, sind dadurch nicht ausgeschlossen. Denn weder die „Freiheit des Wortes“ noch die „Freiheit unter dem Wort“ kann in der Resignation gegenüber erwartbaren Entwicklungen einen adäquaten Ausdruck finden. Deshalb leuchtet mir der immer wieder zu beobachtende Defaitismus, mit dem die Kirchen in der Mitte Europa demographische Wandlungen über sich ergehen lassen und eine wachsende Distanz großer Bevölkerungsgruppen vom christlichen Glauben hinnehmen, theologisch nicht ein. Wer diesem Defaitismus absagt, ist indessen zu konkretem Handeln herausgefordert. Er muss akzeptieren, dass der Auftrag zur Mission sich nicht nur anderwärts, sondern auch im eigenen Lande stellt.
Er wird zugleich darauf angewiesen sein, das, was durch kirchenreformerisches Handeln zu beeinflussen ist, von dem zu unterscheiden, was solchem Einfluss einstweilen oder auf Dauer entzogen ist. Insofern ist Reinhold Niebuhrs viel zitiertes Gelassenheitsgebet auch als Motto einer Kirche der Freiheit zu lesen: „Gott, gib mir die Gelassenheit, Dinge hinzunehmen, die ich nicht ändern kann; gib mir den Mut, Dinge zu ändern, die ich ändern kann; und gib mir die Weisheit, das eine vom anderen zu unterscheiden.“ Eine knappere und eindrucksvollere Begründung dafür, warum Theologie sich nicht nur als Wissenschaft, sondern auch als Weisheit begreifen sollte, kenne ich übrigens nicht.
Solche Weisheit verzichtet darauf, alles selbst beherrschen zu wollen. Sie lässt sich von jener Demut leiten, die auch Karl Barths letzte Notiz prägt: „Es wird regiert.“