Weihnachtspredigtüber Lukas 2, 1-14 im Berliner Dom - Der Ruf der Engel überwindet die Sorge vor der Zukunft

Wolfgang Huber

I.

„Kann die christliche Weihnachtsbotschaft auch Nichtgläubigen Mut machen?“ Diese Frage wurde mir vor kurzem gestellt.

Welche Vorstellung war wohl mit dieser Frage verbunden? Liegt ihr die Meinung zu Grunde, dass die frohe Botschaft der Engel nur bei Kirchengeübten auf Verständnis stößt? Die Fülle der Teilnehmer an diesem Gottesdienst und ebenso die zunehmende Zahl derer, die heute in Berlin und im ganzen Land das Evangelium der Weihnacht hören wollen, sprechen eine andere Sprache.

Oder meinte die Fragestellerin, dass die christliche Weihnachtsbotschaft von sich aus alle Grenzen überschreitet – auch die Grenzen zwischen Glaubenden, Suchenden oder selbst Ungläubigen? Solche Grenzüberschreitungen schildert uns schon die Weihnachtsgeschichte selbst. Die Botschaft des Friedens und der Freude, die sich mit dem neu geborenen Kind verbindet, erreicht selbst die Hirten auf dem Feld und wird bald Weise aus dem Morgenland herbeilocken. Ähnlich klingt diese Botschaft auch heute über Stadt und Land. Weihnachtliche Orientierung wird gesucht in einer Zeit, in der das Wort „Krise“ zu einer der am meisten gebrauchten Vokabeln geworden ist. Gerade heute wird es gebraucht, das trotzige und zuversichtliche: Fürchtet euch nicht.

Die Frage, ob die Weihnachtsbotschaft auch Nichtgläubigen Mut machen kann, findet im Weihnachtsevangelium selbst ihre Antwort. Der Engel des Herrn gibt sie. Er ruft: Fürchtet euch nicht! Denn siehe, ich verkündige euch große Freude, die allem Volke widerfahren wird. Das Fürchtet euch nicht! macht nicht Halt an Kirchenmauern und den Türen von Gemeindehäusern. Die Ermutigung Fürchtet euch nicht brauchen alle Menschen. Der Unfriede im eigenen Herzen, die fehlende Wärme untereinander, die Suche nach Trost und Zuversicht – in der Botschaft des Engels findet sich die Antwort. In diesem Ruf ist alle Sorge vor der Zukunft aufgehoben und überwunden. Die Botschaft der Weihnacht gilt jedermann. Diese Weite spiegelt sich auch in unseren Weihnachtsgottesdiensten. Alle sind willkommen; die Fülle nehmen wir gern in Kauf. Wir folgen dem Wink der Engel: Fürchtet euch nicht!

 

II.

Die Engel weisen auf die Krippe hin: Denn euch ist heute der Heiland geboren, welcher ist Christus, der Herr, in der Stadt Davids. Die Geburt des Kindes nimmt die Hoffnungen und die Sehnsucht der Menschen in sich auf. Es trägt den Kummer der Menschen. Auf ihm ruht die Hoffnung, dass heil wird, was zerbrochen liegt. Es ist der Trost der ganzen Welt. Deshalb ist die Weihnachtsbotschaft für alle Menschen da. Zugleich legt sie den Grund für all das, was die christliche Kirche ist und wirkt. Sie weist aber zugleich über die Grenzen der Kirche hinaus.

Die Botschaft der Engel, deren erste Zeugen die Hirten auf dem Feld sind, richtet sich an alles Volk. Eine Bewegung kommt in Gang, die am Ende der Geschichte Jesu wieder aufgenommen wird, wenn es heißt: Machet zu Jüngern alle Völker, taufet sie und lehret sie halten alles, was ich euch befohlen habe. Das Evangelium des Friedens soll alle erreichen. Als erste aber machen sich Hirten auf, sie wollen das Kind sehen, in dem sich Gottes Nähe zeigt. Im Stall an der Krippe finden sie bereits einen störrischen Esel und einen Ochsen, zwei Tiere, denen der Volksmund nicht gerade herausragende Verstandeskräfte zuspricht. Aber Weise kommen auch, mit einiger Verspätung versteht sich; sie haben schließlich auch einen weiten Weg. Sie kommen auf Umwegen, wie es bei besonders Klugen eben so ist.

Von dieser Krippe, an der sie sich alle versammeln – Tier wie Mensch, Weise wie Arme, zieht sich eine Spur des Gottvertrauens, der Zuversicht und der Solidarität durch die Geschichte. Dass jeder Mensch die gleiche Würde hat, ist ein Kennzeichen dieser Spur. Gegen diese Kenzeichen des christlichen Glaubens wurde immer wieder verstoßen, auch von christlichen Kirchen selbst. Aber sie haben sich immer wieder Gehör verschafft; und dieses Gehör brauchen sie gerade heute.

Auf diesem Boden ist der Gedanke der unteilbaren Menschenrechte gewachsen; vor sechzig Jahren hat er in der „Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte“ Gestalt gewonnen. Auch sie gelten allen; niemand ist davon ausgenommen. Aber für diese unteilbare Bedeutung der Menschenrechte müssen wir auch, ja gerade heute kämpfen: dort, wo Menschen ins Dunkel der Armut gedrängt, mit Gewalt bedroht oder in ihrer Freiheit eingeschränkt werden.

Das Konzept der sozialen Marktwirtschaft hätte kaum formuliert werden können ohne ein christliches Verständnis von Gerechtigkeit. Die christliche Verhältnisbestimmung von Freiheit und Verantwortung prägt bis auf den heutigen Tag die Wertvorstellungen unserer Gesellschaft. Deshalb treten wir energisch einem Verhalten entgegen, das persönliche Freiheit ausnutzt und persönliche Verantwortung vernachlässigt. Denn genau dieses Verhalten hat unsere Welt in eine tiefe Krise gestürzt. Dass „Verzocken“ zu einem der Unworte dieses Jahres gewählt wurde, zeigt, von welcher Denkweise wir uns abwenden müssen. Die wachsende wirtschaftliche Unsicherheit führt in diesen Weihnachtstagen eine nachdenkliche Stimmung herbei. Viele sorgen sich um ihre Zukunft. Sie fragen sich, was das kommende Jahr für sie bereithält. Meine Sorge gilt ganz besonders denen, die in wachsender Zahl an den Türen der Suppenküchen oder an den Ausgabestellen von „Laib und Seele“ warten, die auf eine Mahlzeit bei der Armentafel hoffen, weil sie sich anderes schlicht nicht leisten können. Vor allem Kinder gehören in einem beängstigend hohen Maß dazu.

Sehr herzlich danke ich all denen, die sich für die Armen in unserer Stadt und in unserem Land einsetzen, die auch heute, in der Heiligen Nacht, ihre Kraft und ihre Zeit in vielfältiger und phantasievoller Weise einbringen, damit andere die Freude der christlichen Weihnacht erleben können.

Aber solche Hilfe muss auch über den Tag hinausreichen. Wir müssen denen, die an den Rand gedrängt sind, wieder den Weg dazu öffnen, dass sie am Leben der Gesellschaft teilnehmen und mit eigener Kraft ihren Lebensunterhalt erwerben können. Stärker noch als unsere Unruhe über die wirtschaftliche Entwicklung muss die Unruhe sein, mit der wir gerade heute für eine gerechte Beteiligung aller eintreten.

 

III.

Die Weihnachtsbotschaft enthält eine Wahrheit, die für alle Menschen gut und heilsam ist. Gott zeigt sich als Mensch unter Menschen. Wer in Dunkelheit und Leid nach einem Strahl der Hoffnung sucht, findet ihn in dem Licht, in welchem die Krippe erstrahlt. Wer merkt, dass er Freude und Friede nicht selbst schaffen kann, birgt sich in der Botschaft der Engel, dass Gottes Friede und die Freude über die Geburt des Gottessohns höher ist als all unsere menschlichen Versuche, Frieden auf Erden werden zu lassen.

Deshalb wird diese Botschaft wieder und wieder besungen und gemalt. Aber es werden aus ihr auch Konsequenzen gezogen. Zu ihren Wirkungen gehören nicht nur Weihnachtsbilder und Weihnachtslieder. Zu diesen Wirkungen gehört die gelebte Nächstenliebe im Alltag ebenso wie das Wirken der Diakonie und die weltweite christliche Solidarität, für die wir in diesem Jahr zum fünfzigsten Mal die Aktion „Brot für die Welt“ durchführen. Die weihnachtliche Zuversicht ist die Quelle der uneigennützigen Hilfe, ohne die unsere Gesellschaft wirklich arm dran wäre. Auch unsere Kinder und Enkel sollen in der kulturellen Welt des Christentums, auch in der Kultur des Helfens, heimisch werden – diese Hoffnung bestimmt uns gerade an Weihnachten.

 

IV.

Die Schlichtheit und die Armut, die den Stall von Bethlehem kennzeichnen, machen deutlich, dass der Friede auf Erden nicht auf materiellem Wohlstand beruht. Hirten wie Könige, Arme wie Machtvolle beugen ihre Knie an der Krippe. Sie richten sich auf Gott aus. Sie hören auf den Gesang der Engel. Die Gemeinschaft im Namen Gottes an der Krippe weist darauf hin, was das Leben auch in seinen Brüchen und an seinen Abgründen trägt. Sie weckt die Bereitschaft, sich miteinander auf den Weg des Friedens zu machen. Wir können einander zum Halt werden, weil Gott selbst uns hält.

Wir lassen uns leiten von dem Stern, der auf die Krippe Jesu weist. Denn wir spüren, dass das Leuchten des Sterns von Bethlehem weiter strahlt als noch so schön glitzernde Werbung. Das Licht der Weihnacht stiftet Zuversicht und Hoffnung; lasst uns diesem Licht folgen – gerade in diesem Jahr. Amen.