Zur Bedeutung religiöser Bildung in der frühen Kindheit - Vortrag an der Evangelischen Fachhochschule Bochum

Wolfgang Huber

Mit einer terminologischen Vorbemerkung will ich beginnen: Ich verwende im Folgenden die Begriffe Erziehung und Bildung zwar nicht synonym, aber in großer begrifflicher Nähe zueinander. Die Trias von Erziehung, Bildung und Betreuung, die im Kinder- und Jugendhilfegesetz (§ 22 Abs. 2 KJHG) juristisch verankert ist, liefert ein gutes begriffliches Raster, mit dem gearbeitet werden kann. Jedoch entspricht es der wohl begründeten Auffassung der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD), dass dem im religiösen Sinne verstandenen Bildungsaspekt der Primat gegenüber den anderen Aspekten zukommen müsse. Wir haben dies in unserer Veröffentlichung „Wo Glaube wächst und Leben sich entfaltet“ dargelegt.  Denn das gehört zum kirchlichen Kerngeschäft: den Kindern auch schon in der frühen Kindheit, also im sogenannten „Elementarbereich“ elementare Bildung, also eine „Elementarbildung“ (Heinrich Pestalozzi) zukommen zu lassen, die wesentlich religiöse Gehalte umfasst. Diese Elementarbildung hat sich  am Bild der Gestalt Jesu zu orientieren, und Aufgabe der Bildungsprozesse ist es, sich an seinem Bild auszurichten und junge Menschen dazu einzuladen, dem Menschen Jesus „um Gottes willen“ ähnlich zu werden. Wenn ich im Folgenden also von Bildung und/oder Erziehung spreche, so meine ich stets Bildung in diesem äußerst gehaltvollen und umfassenden Sinne. Sie ist ein Thema der Theologie, aber auch eine Aufgabe der christlichen Kirchen.

1. Erziehung und Bildung von Anfang an

Von der religiösen Bildung und Erziehung im Elementarbereich gilt mit Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher: „Es beruht alle wesentliche Förderung des ganzen menschlichen Lebens auf der Erziehung.“  Mit dieser fundamentalen These leitete Schleiermacher im Jahr 1826 seine Vorlesungen über Pädagogik ein. Erziehung wiederum, so Schleiermacher, sei in ihrem Kern immer auch religiöse Erziehung. Wer daher das menschliche Leben fördern will, der muss eine religiöse Früherziehung möglich machen. Daraus folgt eine Verpflichtung für die Eltern des Kindes und seine unmittelbare familiäre Umgebung, aber auch für das gesellschaftliche Umfeld, das junge menschliche Leben nach Kräften zu fördern und alles seinem Heranwachsen Förderliche zu tun. Bei den Eltern, aber auch bei der Gesellschaft liegt somit eine Pflicht zur Erziehung. Aus der Sicht des Kindes dagegen kann und muss man von einem Recht auf Erziehung sprechen.

Das Recht des Kindes auf Erziehung und die korrespondierende Verpflichtung seiner Eltern und der Gesellschaft gilt von Anfang jedes Menschenlebens an. Dass jedem Menschenkind eine „Bildung von Anfang an“ zukommen müsse, ist eine uralte Überzeugung der christlichen Kirche. Denn Bildung bestimmt und prägt die menschliche Existenz von Anfang an. Dabei ist es durchaus aus möglich, dass es bereits vorgeburtliche Bildungsprozesse gibt. Wenn ein ungeborenes Kind durch den Bauch seiner Mutter hindurch Musik hört, so kann es scheinen, als ob das Kind gebannt am Lauschen ist. Man darf vermuten, dass hier ein pränatales Bildungserlebnis vorliegt. Dieses kleine Beispiel zeigt übrigens, dass die Würde schon der ungeborenen Menschen in einem sachlichen Zusammenhang mit ihrer Bildungsfähigkeit und -bedürftigkeit steht. Jedoch steht fest, dass ein Mensch spätestens mit seiner Geburt in den Raum der Bildung eintritt. Von daher hat auch die Taufe von Neugeborenen ihre anthropologische Begründung. Weil die christliche Kirche die Praxis der Kindertaufe kontinuierlich seit 2000 Jahren praktiziert, versteht sie Kinder als bildungsfähige, aber auch bildungsbedürftige Menschen. Sie plädiert schon von daher für eine Bildung von Anfang an, für Bildung im Elementarbereich, für Elementarbildung. "Bildung von Anfang an" war eine Überzeugung der christlichen Kirche von Anfang an. Die frühen Christen lehnten daher Abtreibungen und Kindestötungen konsequent ab. Damit standen sie durchaus in Widerspruch zu ihrer römisch-hellenistischen Umwelt. Sie pflegten außerdem liebevoll ihre Kranken und fingen Außenseiter in ihren sozialen Netzwerken auf. Diese liebevolle Zuwendung zu den Schwachen in der Gesellschaft und dieses freundliche Augenmerk auf den Beginn und das Ende des Lebens war sicherlich ein soziologischer Faktor, der den Aufstieg des Christentums zur Weltreligion mit ermöglichte.  Vor dem Hintergrund antiker Philosophien und Weltanschauungen stellte das christliche Verständnis vom Wert jedes Kindes als Geschenk Gottes eine geistige und kulturelle Revolution dar.

2. Der religiöse Gehalt der Elementarbildung

Von Bildung im eigentlichen Sinne kann in christlicher Sicht nur dann gesprochen werden, wenn es sich um Bildung im religiösen Sinne handelt, also um eine Ausrichtung der gesamten Erziehung am Bilde Gottes, wie es uns in der historischen Gestalt Jesu „vor Augen gestellt wird“. Hierzu gibt es wiederum von Friedrich Schleiermacher bedeutsame Aussagen. So lenkt er die Aufmerksamkeit auf das Erziehungsprinzip der Analogiebildung. Die ganze Entwicklung menschlichen Lebens und somit auch die Erziehung vollziehe sich als Erregung und Erweckung des noch Schlummernden durch Analogiebildungen:

„Die Lebensentwicklung des Menschen in ihrem eigentlichen Typus betrachtet von Anfang an, ist nichts anderes als Erregung, Erweckung des noch Schlummernden durch das schon erregte, tätige Analoge.“
 
Was ist daran für die religiöse Bildung nun so bedeutsam? Schleiermacher geht auf die Analogie zwischen Gott als Schöpfer der Menschen und dem Vater als Erzeuger der Menschen ein, also jene Analogie, die im Grundgebet des christlichen Glaubens, dem „Vaterunser“, begegnet. Diese Analogie ermögliche dem Kind das Verstehen des Gottesverhältnisses und eine lebendige Auffassung davon:

„Aber was kann das Kind davon wirklich lebendig auffassen? Das, was am nächsten liegt, ist die Analogie zwischen dem allgemeinen menschlichen Zustand in Beziehung auf das höchste Wesen und dem Zustande des Kindes im Verhältnis zu den Eltern. Dieses Gepräge tragen die Erzählungen, in denen das höchste Wesen als Vater dargestellt wird; die Vorstellung von Gott als dem Vater ist dem Kinde eine lebendige; es hat eine Analogie, woran es das, was ihm als Religiöses gegeben wird, sich veranschaulicht.“

Sicherlich steht Ihnen allen der Nutzen der Analogiebildungen für alle Arten pädagogischer Prozesse klar und deutlich vor Augen. Auch religiöse Kommunikation und selbst die Theologie kommt nicht ohne analogisches Denken, ohne Analogieprinzipien aus. Mag es sich dabei nun um die klassische analogia entis der Scholastik oder aber die analogia fidei sive relationis von Karl Barth handeln. Welche wunderbaren Analogien Vorschulkinder in religiösen Fragen entdecken können, davon erzählt das schöne Büchlein „Jesus hieß mit Nachnamen Gott“, das ich allen zur Lektüre empfehlen kann.

Ein fünfjähriger Junge erzählte eine kleine Geschichte aus dem Paradies: "Adam rief den Elefanten und sagte zu ihm: Du wirst Elefant heißen, weil du groß bist, riesig, du hast große Ohren, eine runzlige Haut, einen Schwanz und den Rüssel. Zur Taube hat er gesagt: Du wirst Taube heißen, weil du ein lebhaftes Tier bist, du fliegst in den Himmel und bist das Zeichen des Friedens."

Ein anderes, gerade fünf Jahre altes Kind malt sich aus, wie es im Himmel aussehen mag: "Die Engel sind fünf Jahre alt. Sie essen Fleisch, Kartoffeln, Coca Cola. Der Vater ist Jesus, er arbeitet im Himmel. Er repariert den Himmel, wenn er bei einem Gewitter zerbricht."

Schön auch das Statement eines Sechsjährigen zu Jesus: "Einmal hat Jesus vierzig Blinde getroffen. Sie hatten keine Augen. Sie waren ohne Hände. Sie waren so geboren, ohne Augen und ohne Hände. Jesus hat gesagt: Was habt ihr denn gemacht? Und dann befiehlt er: Bekommt Augen, bekommt Hände. Er konnte das machen, weil er zaubern konnte. Er war der Lieblingssohn von Gott. Wir sind auch Kinder Gottes, aber er war der erste, er war etwas Besonderes."

Diese exemplarischen Kinderäußerungen regen hoffentlich nicht nur zum Schmunzeln an, sondern belegen vor allem auch, wie Kinder kindlich und kindgemäß ihre eigene Theologie, Schöpfungslehre und Christologie entwickeln. Schon Vorschulkinder sind eben Theologen, "... jedes Kind entwickelt gleichsam seine eigene Theologie“ . Kinder erfassen auf ihre eigene Weise, wer Gott ist und wie er den Menschen begegnet. Und sie ringen darum, ihren Glauben mitzuteilen. Sie brauchen, damit dieser Glaube entstehen, wachsen und sich mitteilen kann, bildhaftes Material, aus dem sich ihre Vorstellungen formen können. Deshalb und in diesem Sinne brauchen Kinder religiöse Bildung.

Martin Luther schilderte einmal in einer Predigt im Jahr 1531, wie man kleinen Kindern die Vorstellung von Schutzengeln nahe bringen könne. Er sagt in eindrucksvollen Worten, die von der Erfahrung eigener Vaterschaft gesättigt sind:

„Also soll ich bald von jugend auff ein Kind gewehnen, das ich zu jm sage: Liebes Kind, du hast einen eigen Engel, wenn du des morgens und des abends betest, wird derselbig Engel bei dir sein, wird bey deinem Bettlein sitzen, hat ein weisses Röcklein an, wird dein pflegen, dich wiegen und behüten, daß der böse Mann, der Teufel, nicht zu dir kommen könne. Item wenn du das Benedidite unnd Gratias gerne sprechen wirst für dem Tische, wird dein Engelein bey dem Tische sein, dir dienen, wehren und wachen, daß dir kein ubels widerfare und das dir die Speise wol bekomme. Wenn man solchs den Kindern einbildete [!], so würden sie von jugend auff lernen und gewohnen, daß die Engel bey ihnen sein ...“.

Sehr treffend redet Luther hier davon, dass man solche religiösen Vorstellungen den Kindern „ein-bilden“ solle. Auch wenn wir Luthers Sprache, Theologie und Bildwelt nicht einfach 1:1 übernehmen können, geht es auch heute noch darum, die von ihm gemeinte Sache zum klaren Ausdruck zu bringen und die von ihm genannte Aufgabe zu erfüllen: Kinder religiös zu erziehen, sie also zu bilden nach dem Urbild Jesu Christi.

3. Evangelische Kindertageseinrichtungen als Institutionen religiöser Elementarbildung

Die wichtigsten institutionellen Orte christlicher Elementarbildung sind die kirchlichen Kindertagesstätten. Im evangelischen Bereich gibt es davon nach den neuesten verfügbaren Zahlen  8.045 (Statistisches Bundesamt, 2006); in ihnen werden insgesamt 520.357 Plätze vorgehalten. Die EKD und ihre Diakonie sowie die römisch-katholische Kirche und die Caritas hielten im Jahr 2006 zusammen insgesamt 17.521 Einrichtungen vor. Bezogen auf die 48.200 Einrichtungen, die im Elementarbereich vorhanden waren, ist dies eine beachtliche Anzahl (36,35%), wenn auch keine absolute Mehrheit.

Die kirchlichen Kindertagesstätten sind wohl die wichtigsten, aber dennoch nicht die einzigen institutionellen Orte für religiöse Elementarbildung in den Kirchen. Denn natürlich sind die Eltern und Paten in aller Regel die religiösen Sozialisationsagenturen in der religiösen Elementarbildung der Kinder. Deshalb sind das Elternamt und das Patenamt von so grundlegender institutioneller Bedeutung für die christlichen Kirchen, wenn sie, wie die meisten dies ja tun, die Kindertaufe praktizieren. Über den eher familiären Rahmen hinaus gibt es in vielen christlichen sehr unterschiedliche Angebote wie Spielkreise, Miniclubs und Krabbelgruppen, später dann die Jungschar ─ und natürlich vor allem der gemeindliche Kindergottesdienst. Im Kindergottesdienst werden freilich Kinder aller Altersgruppen betreut, so dass Elementarbildung dort nur einen Aspekt darstellt. Und klar ist auch: Wer seine Kinder in den Kindergottesdienst schickt, der ist in aller Regel Mitglied in der Kirche oder steht ihr zumindest nahe.

In kirchlichen Kindertagesstätten dagegen finden sich regelmäßig ungetaufte Kinder, Kinder aus anderen Religionen oder auch aus dezidiert säkularen Familien. Das heißt mindestens zweierlei: Erstens bieten sich missionarische Chancen für die christlichen Kindertagesstätten. Indem sie ungetauften Kindern inspirierende Erlebnisse mit dem Bildungsmaterial des christlichen Glaubens ermöglichen, laden sie auf menschenfreundliche und unaufdringliche Weise zum Glauben an Jesus Christus ein. Zweitens ergibt sich die Möglichkeit, aber auch Notwendigkeit, in einer in der Regel grundsätzlich multikulturellen und multireligiösen Umgebung andere Kulturen und Religionen kennen zu lernen und mit Menschen aus diesen Bereichen in Kontakt zu treten – und zwar im Modus einer respektvollen, interessierten und toleranten Begegnungshaltung. Mission und Toleranz schließen sich also keineswegs aus, sondern sie bedingen einander im Gegenteil grundsätzlich. Dies hat die 10. Synode der Evangelischen Kirche in Deutschland auf ihrer 4. Tagung in ihrer Kundgebung zum Schwerpunktthema „Tolerant aus Glauben“ mit bemerkenswerter Klarheit festgestellt. Und dies gilt ganz besonders für unsere christlichen Kindertagesstätten. Denn wo sonst, wenn nicht in ihnen, wäre der Ort, um die gemeinte Toleranz aus Glauben „von Anfang an“ einzuüben?

Die evangelischen Kindertagesstätten sind vor diesem Hintergrund Einrichtungen, in denen Kindern aus sehr unterschiedlichen Herkunftsfamilien, -milieus und –kulturen auf anregende, aber unaufdringliche Weise religiöses Bildmaterial zur Verfügung gestellt werden soll, aus denen sich ihr Wissen über Gott und die Welt aufbauen kann. Sie sollen dort mit allen Sinnen Anregungen empfangen, die ihnen den christlichen Glauben nahe bringen können. So wie Donata Elschenbroich die Inhalte und das Zustandekommen des Weltwissens der Siebenjährigen untersucht hat, so widmen wir uns vor allem in den Kindertagesstätten gewissermaßen dem Gotteswissen der Siebenjährigen. Damit dieses entstehen und wachsen kann, braucht es qualitativ gehaltvolle, verantwortlich gesteuerte und liebevoll durchgeführte religiöse Bildungsprozesse. In neuerer Zeit gibt es im Blick auf die qualitätvolle Entwicklung der evangelischen Kindertagesstätten praxisorientierte Materialien. So erschien etwa im Jahr 2002 erstmals das von der Bundesvereinigung Evangelischer Tageseinrichtungen für Kinder (BETA e.V.) und dem Diakonischen Institut für Qualitätsmanagement und Forschung gGmbH gemeinsam herausgegebene Bundesrahmen Handbuch  „Qualitätsmanagement für Evangelische Kindertageseinrichtungen“. In Kürze erscheint eine zweite Auflage dieses wirklich vorzüglichen Werkes. Ebenfalls sehr hilfreich ist, um aus der Fülle guter Publikationen nur eine weitere exemplarisch herauszugreifen, das von Matthias Hugoth und Monika Benedix gemeinsam herausgegebene Buch „Religion im Kindergarten“ , das eine ganze Palette von bedeutsamen Beiträgen aus verschiedenen Perspektiven zur Thematik der religiösen Elementarbildung in Kindertagesstätten enthält.

4. Das Recht der Kinder auf religiöse Elementarbildung in der freiheitlichen Gesellschaft

Kinder haben in unserer Gesellschaft nicht nur ein Recht auf Bildung, sie haben, wie der Religionspädagoge Friedrich Schweitzer nicht müde wird, zu betonen, auch ein Recht auf Religion.  Sie haben ein Recht auf religiöse Elementarbildung und -erziehung. Deshalb muss es in unserer Gesellschaft religiöse Angebote und damit die Vermittlung von Lebenssinn und ethischen Werten auch in nicht-kirchlichen Kindertagesstätten geben. Zu dieser Thematik hat der Rat der EKD sich zuletzt in einer Thesenreihe aus dem Jahr 2007  ausführlich geäußert. In den Thesen 7 und 8 heißt es dort:

„7. Religiöse Bildung ist eine Aufgabe, die der freiheitlich-demokratische Staat nur in Zusammenarbeit mit den Religionsgemeinschaften erfüllen kann.

Ein freiheitlicher Staat darf nicht als religiöser Erzieher auftreten – das widerspräche der Religionsfreiheit; der Staat darf sich auch nicht mit einer bestimmten Religion identifizieren – damit wäre die Trennung von Staat und Kirche bzw. Religionsgemeinschaften in Frage gestellt. Zugleich muss dem Staat im Sinne der positiven Religionsfreiheit daran liegen, dass die einzelnen Bürgerinnen und Bürger durch religiöse Bildung dazu befähigt werden, ihr entsprechendes Grundrecht (Art. 4 GG) wahrzunehmen. Die daraus für den Staat erwachsenden Bildungsaufgaben können nur durch eine Zusammenarbeit mit den Religionsgemeinschaften erfüllt werden. Dies setzt allerdings Religionsgemeinschaften voraus, die ihre Glaubensüberzeugungen und Überlieferungen nicht bloß durch Eingewöhnung oder Prägung, sondern durch Bildung an Kinder und Jugendliche weitergeben wollen, und die bereit sind, sich auf eine Partnerschaft mit einem freiheitlichen demokratischen Staat einzulassen.

8. Religiöse Bildung braucht vielfältige Trägerschaften und Kooperation.

In Deutschland befindet sich die Mehrheit der Kindertagesstätten in freier Trägerschaft, die meisten davon in kirchlicher Trägerschaft. Damit folgen die Kirchen ihrem eigenen Selbstverständnis, das sie zur Sorge für Kinder verpflichtet. Zugleich beteiligen sie sich an einer öffentlichen Aufgabe, für deren Erfüllung der Staat zu sorgen hat. In der nichtstaatlichen Trägerschaft kommen die demokratischen Prinzipien von Trägerpluralismus (im Sinne von Art. 7 Abs. 4 GG) und Subsidiarität zum Ausdruck, die ein staatliches Erziehungsmonopol ausschließen sollen. Einrichtungen in evangelischer Trägerschaft sind dem evangelischen Glauben und einer auf ihn bezogenen religiösen Bildung verpflichtet, die auch für die Eltern transparent wird. Dies unterstreicht ihre pädagogische und religionspädagogische Bedeutung. Wenn auch kommunale oder andere Einrichtungen einen religionspädagogischen Auftrag wahrnehmen sollen, sind weitere Formen der Kooperation zwischen dem Staat bzw. den Einrichtungen und den Religionsgemeinschaften erforderlich. Im Bereich von Schule und Religionsunterricht hat sich die Form einer Kooperation, wie sie vom Grundgesetz Art. 7 Abs. 3 GG vorgesehen wird, bewährt, weil dabei die Trennung von Staat und Kirche bzw. Religionsgemeinschaften ebenso gewahrt bleibt wie die Möglichkeit einer freiheitlichen religiösen Bildung. Nur die Religionsgemeinschaften und ihre Angehörigen können, im Rahmen des für das gesamte Bildungswesen maßgeblichen Grundgesetzes, über religiöse Inhalte und religiöse Bildungsziele bestimmen. In Zukunft müssen unter Berücksichtigung der unterschiedlichen Trägerschaften Wege gesucht werden, wie die Zusammenarbeit mit den Religionsgemeinschaften unter den spezifischen, sich von der Schule unterscheidenden Voraussetzungen der Kindertagesstätte zu realisieren ist. Beispielsweise können Vertreterinnen und Vertreter der Religionsgemeinschaften auch in die Arbeit nichtkirchlicher Einrichtungen einbezogen werden, so wie dies in manchen Einrichtungen bereits geschieht, oder es können entsprechende Beratungsverhältnisse vereinbart werden. Ebenso können die Erzieherinnen selbst jeweils für ihren Glauben sprechen. Die mit allen diesen Möglichkeiten verbundenen rechtlichen Fragen etwa hinsichtlich der Grenzen der Religionsfreiheit oder hinsichtlich der erforderlichen Transparenz der religiösen Ausrichtung bedürfen allerdings der weiteren Klärung, an der sich die evangelische Kirche gerne beteiligt.“

Damit wird zweierlei festgehalten, und beides ist um der Unterscheidung von Staat und Kirche, von Gesellschaft und Religion willen bedeutsam: Der Staat darf nicht als religiöser Erzieher agieren – aber er muss den Angeboten der Religion und damit auch der Kirchen Raum lassen. Das Recht der Kinder auf Religion gebietet daher, dass ihnen nicht nur in denjenigen Kindertagesstätten, die in der Trägerschaft von Religionsgemeinschaften und Kirchen stehen, religiöse Inhalte eröffnet und vermittelt werden.

5. Chancengerechtigkeit von Anfang an

Lassen Sie mich noch einen weiteren Aspekt ansprechen, der aus meiner Sicht unbedingt zum Thema gehört. Da ich diesen Gesichtspunkt an anderer Stelle bereits einmal ausführlicher entfaltet habe , kann ich mich hier etwas kürzer fassen. Verweisen möchte ich aber wiederum auf Friedrich Schleiermacher. Er hat uns die Aufgabe vorgezeichnet; für ihn stand nämlich fest: „Denn es wäre frevelhaft, die Erziehung so anzuordnen, daß die Ungleichheit absichtlich und gewaltsam festgehalten wird auf dem Punkt, auf welchem sie steht. Dies würde eine Hemmung der menschlichen Natur verraten. Was aber der Fortschreitung der menschlichen Natur entgegenwirkt, das streitet auch gegen die Idee des Guten.“

Erziehung und Bildung müssen somit darauf abzielen, Ungleichheiten nach Möglichkeit zu beseitigen und Chancengleichheit oder – was ich als synonym verstehe – Chancengerechtigkeit  herstellen; auch hier füge ich, um nicht als Utopist zu gelten, hinzu: soweit dies uns Menschen möglich ist. Eine profilierte evangelische Elementarbildung lehrt somit nicht nur Werte wie etwa Gerechtigkeit, sondern sie lebt sie auch, indem sie für die Herstellung von Chancengerechtigkeit eintritt.

Ausgehend von dem Gedanken, dass jedem Menschenleben der gleiche Wert und die gleiche Würde vor Gott zukommen, engagiert sich die Kirche somit in ihrem Elementarbildungshandeln dafür, dass Menschen im Alltag ihres Lebens auch tatsächlich gleiche Chancen erhalten. Das Hinwirken auf die gleichen Lebenschancen kann aber nicht als Reparaturbetrieb irgendwann in der Mitte eines Lebens begonnen werden. Es kommt vielmehr darauf an, dass von Anfang an versucht wird, etwas zur Chancengerechtigkeit beizutragen. Ich nenne einige Facetten dieses Handelns:

- Chancengerechtigkeit anstreben, heißt zum Beispiel im Hinblick auf das Geschlechterverhältnis Jungen und Mädchen auf je individuelle Art und Weise zu fördern, also schon in dieser Altersstufe ein „Gender Mainstreaming“ zu praktizieren. Denn vor Gott sind Mädchen und Jungen, sind Frauen und Männer gleich. Er liebt alle seine Kinder.

- Chancengerechtigkeit muss einschließen, behinderte Kinder noch besser als bisher in solche Einrichtungen zu integrieren. Die gemeinsame Erziehung behinderter und nicht behinderter Kinder ist nicht nur ein gesellschaftlicher Auftrag, sondern vor dem Hintergrund des christlichen Menschenbildes auch eine besondere Verpflichtung für die Kirche und ihre Diakonie. Die EKD vertritt in diesem Sinne ein „integratives diakonisches Bildungsverständnis“. Denn Gott liebt behinderte und nicht-behinderte Menschen in gleicher Weise und in gleichem Maße.

- Chancengerechtigkeit muss sich auch konkretisieren an der Qualität der Begegnung zwischen unterschiedlichen Nationen, Religionen und Kulturen, die sich in der alltäglichen Praxis vieler Kindertagesstätten auf vielfältige Weise vollzieht. Ein evangelisches Bildungsverständnis schließt den Respekt vor anderen Religionen ein. Für evangelische Kindertagesstätten können Kinder, die in ihrem Leben prägende Erfahrungen mit Migration gemacht haben, eine Herausforderung, aber auch eine Bereicherung sein. Gott liebt Kinder aus allen Völkern und Kulturen, weil er der Herr der ganzen Welt ist.

- Zahlreiche Bildungsstudien der vergangenen Jahre haben gezeigt, wie wichtig die frühe Sprachförderung in den Kindertagestätten ist, weil sie der Integration von benachteiligten Kindern dienen kann. Klar ist, dass nicht erst in der Schule mit der Sprachförderung begonnen werden darf und dass dies erst recht nicht einfach den einzelnen Familien überlassen werden kann. In den Kindertagesstätten ist vor diesem Hintergrund ein besonderer Akzent auf die Förderung von Sprachentwicklung zu legen. Auch hier gilt der Grundsatz: Je früher man mit der Förderung beginnt, desto besser. Deshalb sollten die evangelischen Kindertagesstätten daran interessiert sein, noch mehr Kinder unter drei Jahren aufzunehmen, als dies bisher der Fall ist. Es muss auf jeden Fall bedenklich stimmen, dass alle erhobenen Daten darauf hindeuten, dass die unter drei Jahre alten Kinder in den evangelischen Kindertagesstätten unterrepräsentiert sind.  Weil Gott den Menschen durch das Medium der Sprache und des Wortes nahekommen will, müssen wir das Wort und die Sprachen pflegen. Auch schon und gerade in der Elementarbildung.

In der Summe lässt sich sagen, dass religiöse Bildung in der frühen Kindheit sowohl intentional als auch faktisch der Beförderung von Chancengerechtigkeit dient und dass die evangelische Kirche daher gut beraten ist, wenn sie diesen Zusammenhang klar und deutlich im Blick hat.

Schluss: Religiöse Bildung in der frühen Kindheit

Als die EKD im Jahr 2004 ihre programmatische Erklärung zu den Fragen der Elementarbildung veröffentlichte, hat sie am Schluss dieses Textes in knappen Thesen den Gehalt der Schrift zusammengefasst. In den Thesen heißt es unter anderem:

„Stand in den evangelischen Kindertagesstätten bis vor einigen Jahren vor allem das diakonische und sozialpädagogische Profil im Vordergrund, so ist heute zunehmend deutlich geworden, dass evangelische Kindertagesstätten wesentlich Bildungseinrichtungen mit einem eigenen Bildungsauftrag sind. Dazu gehört vor allem das Bemühen um eine frühe Förderung aller Kinder in allen Dimensionen einer kindgemäßen Bildung. Religiöse Erziehung hat darin einen selbstverständlichen Platz. Evangelische Kindertagesstätten müssen auch, ja, vor allem, Orte religiöser Bildung sein.“

Ich wiederhole: Evangelische Kindertagesstätten müssen auch, ja, vor allem, Orte religiöser Bildung sein. Dass dies in der Praxis umgesetzt wird und dass die religiösen Bildungsprozesse in diesen Einrichtungen grundsätzlich qualitätvoll, kontextsensibel und menschenfreundlich geschehen, dazu leisten Sie mit Ihrer Arbeit in der Evangelischen Fachhochschule Rheinland-Westfalen-Lippe in Bochum einen wesentlichen Beitrag. Dafür danke ich Ihnen im Namen der Evangelischen Kirche in Deutschland!