Von der Befreiung der Bilder – ein etwas anderer Blick auf den reformierten Bildersturm
Petra Bahr
Vortrag im Rahmen der Interdisziplinären Veranstaltungsreihe „Johannes Calvin und die kulturelle Prägekraft des Protestantismus“ der Universität Zürich aus Anlass des 500. Geburtstages von Johannes Calvin (1509 – 1564)
„Dann hat der Protestantismus jetzt also seine Bilderfeindlichkeit aufgegeben?“ So fragte vor einiger Zeit ein Journalist, als er davon hörte, dass die evangelische Kirche in Deutschland eine Kulturbeauftragte hat. Zuerst hielt ich diese Frage nur für den Ausdruck immer wieder anzutreffender religiöser Halbbildung eines Medienvertreters in der Deutschen Hauptstadt, der sich um die Details konfessioneller Unterschiede schon lange nicht mehr kümmert, seine Fragen an die Kirche dafür aber um so selbstbewusster stellt. Wir unterhielten uns eine Weile. Er gab Fetzen seiner Max-Weber-Lektüren aus dem Proseminar Soziologie zum besten, dachte laut über das Verhältnis von moralischem Rigorismus und Kultfeindlichkeit nach, verwechselte schnell noch elegant Kult und Kultur und klopfte sich selbst auf die Schulter für dieses tiefsinnige Wortspiel. Zum Abschluss gab er noch eine These von der produktiven Bigotterie des Katholizismus zum Besten. Hier, sagte er, feiere man den Papst wie einen Popstar und mache dann doch, was man wolle. Die Religion stifte den Glamour, die Kunst die Freiheit des Geistes. Beide bräuchten starke Bilder, und weil die Protestanten darauf verzichten müssten, bliebe ihnen nur die schnöde Moral. Dieser Ton selbstbewusster Unbedarftheit begegnet mir seitdem immer wieder. Auf dem kulturpolitischen Parkett ist das Raisonnement über die vermeintliche Bilderfeindlichkeit der Protestanten ein beliebter Gesprächseinstieg für religionskritische Bemerkungen über die vermeintliche Kulturlosigkeit der Kirchen. Mit einer Flöte Sekt in der Hand lassen sich die fest verhafteten Klischees trefflich hinausposaunen. Man mag diese Begegnungen ins Anekdotische ermäßigen und die Gesprächspartner vor religionskundlich versierterem Publikum ins Lächerliche ziehen oder über den Niedergang anständiger Religionskritik trauern.
Ich gebe zu, dass ich vor allem vor letzterer Reaktion nicht gefeit bin. Heute Abend wähle ich freilich einen anderen Ansatz. Ich nehme die kursierenden Bilder über die Bilderfeindlichkeit des Protestantismus ernst, übrigens auch den Umstand, dass zwischen Protestantismus und Calvinismus nicht mehr unterschieden werden kann, und versuche mich an einer Arbeit am Klischee. Nimmt man die Definition ernst, dass Klischees ins Bild gesetzte Vorurteile sind, die aus starken Meinungen resultieren, lohnt sich dieser Versuch, weil von hier aus so etwas wie eine Bestandsaufnahme gemacht werden kann, die fragt, was vom Calvinismus jenseits theologischer oder historischer Überprüfungen übrig geblieben ist. Die Frage, die mich in meinen Überlegungen leitet, ist also weniger die Frage, welche Beschreibung der calvinistischen Spielart des Protestantismus historisch richtig ist, nicht einmal der Streit um die angemessene Deutung seiner kulturellen, politischen, rechtlichen oder ökonomischen Folgen, sondern die Frage, welche Wirkungen das entfaltet, was als Gerücht über den Calvinismus nach wie vor Meinungen präjudiziert und den Richtungssinn von schnellen Urteilen bestimmt. Dazu konzentriere ich mich auf das Thema der Bilderfeindlichkeit. Wahlweise ließe sich auch die berühmte These von der Geburt des Kapitalismus aus dem Geist des Protestantismus so oder ähnlich in den Blick nehmen. Denn auch diese These erweist sich als sehr viel hartnäckiger als ihre religionswissenschaftliche oder wirtschaftsgeschichtliche Widerlegung. Mein Beitrag gliedert sich in zwei Teile. Zum einen erinnere ich an verschiedene Aspekte, die der theoretische und der angewandte Ikonoklasmus, der Bildersturm, in der Phase der „zweiten Reformation“ (Hans Schilling) hatte.
Hier geht es mir natürlich nicht um eine systematische Rekonstruktion, sondern um vergessene Momente einer gedanklichen Bewegung, die große kulturelle Konsequenzen hatte. Meine Vermutung will ich ihnen schon jetzt verraten, denn sie mündet in den zweiten Teil meines Vortrags. So schmerzhaft und problematisch so manche Bilderschändung war, die religiöse Bilderabstinenz hat mittelbar der freien Kunstentwicklung nicht geschadet. Im Gegenteil hat sie Vorformen eines modernen Kunstmarktes und die ästhetische Freiheit künstlerischer Betätigung allererst ermöglicht. Die Bildkritik der calvinistischen Bewegung – ich fasse etwas unscharf auch die puritanische Bewegung darunter – war nicht kulturzerstörend, sie war im Gegenteil ungeheuer kulturproduktiv und hat auch die theoretische Reflexion auf die Macht der Bilder befördert. Exemplarisch möchte ich diese These an dem großen niederländischen Maler Rembrandt anschaulich machen.
1. Religiöse Bilderkritik als Kulturkritik
Im Jahr 1524 eskalierte die Zürcher Reformation in einer spektakulären Aktion von großer symbolischer Kraft: Der Reformator Zwingli zieht mit zwei Leutepriestern und den Entscheidungsträgern der Zünfte und Gilden in die Kapelle des Großmünsters ein. Zwingli zeigt auf dieses Bild und jenes Prinzipalstück. Zuerst entfernen die hohen Herren die Bilder. Dann wird der Altar abgerissen. Ein Jahr später wiederholt sich diese ungewöhnliche Prozession. Der Rat der Stadt zieht mit dem Kirchenschatz auch die wertvollen Kopfreliquiare ein. Zwei Akte, die gemeinhin als Bildersturm erinnert werden. Bei genauerer Betrachtung haben diese beiden Aktionen allerdings nur wenig mit den Akten der Barbarei gemeinsam, die wir heute mit Bilderstürmen verbinden. Schon im 16. Jahrhundert wird der Akt der Säuberung der Kirchen, Dome und Kapellen von religiösen Bildern, von Altären, Reliquiare und Skulpturen vor allem als spontaner Gewaltakt des Mobs erinnert: Wütende Neugläubige brechen Kirchenportale auf, stürzen sich in wütender Raserei auf Maria, den heiligen Bartholomäus oder den Pantokrator und kratzen den Gesichtern die Augen aus. Köpfe werden abgeschlagen, Beine amputiert – die Chronisten der Bilderstürme bedienen sich der Metaphern, die aus der Welt der Gemetzel und der Meuchelmorde kommen. Das Soziogramm der ertappten Akteure spricht Bände. „Loses Volck“, „lose rotte“, „das gepofel“ sei, schuld an den Ausbrüchen, so die Zeitzeugen. Die Bilderstürmer werden so im städtischen Gesellschaftsgefüge klar ganz unten verordnet. Der Bildersturm als Konflikt wird ex post als Konflikt mit der städtischen Obrigkeit diffamiert. Bildersturm und sozialer Aufruhr werden so tendenziell identifiziert. Solche Gewaltexzesse hat es gegeben, keine Frage. Auch die Reformation hat Radikale an verschiedenen Orten Europas zu fundamentalistischen Aktionen gegen die religiösen Kunstschätze der Altgläubigen verführt. Kulturgüter wurden vernichtet und Aggressionen symbolisch gegen das gewendet, was Gold ist und glänzt.
Die Gründe dafür sind allerdings selbst bei diesen Akten der Barbarei vielfältig und nur selten auf ein anspruchsvolles bilderkritisches Theologieprogramm zu reduzieren. Oft genug sind handfeste politische oder soziale Interessen im Spiel, in denen das illegitime Entfernen von Bildern und Statuen als ideale symbolische Politik funktioniert. Wer hier als Pöbel diffamiert wird, ist die bürgerliche Obrigkeit von gestern oder morgen, je nach Ausgang des Konfliktes. Machtkämpfe zwischen Rat und oppositionellen Bürgern können ebenso im Hintergrund stehen wie Konflikte zwischen Herrscher und Volk, in denen die reformatorische Bewegung wie ein Katalysator wirkt. Volker Reinhard hat diese Kernschmelze unterschiedlicher Konflikte in der Reformation Calvins in Genf eindrücklich beschrieben. Detailstudien über ikonoklastische Handlungen im 15. und 16. Jahrhundert zeigen im übrigen, wie soziale Umbrüche, vorzugsweise in städtischem Umfeld, sich mit bilderkritischen Gedanken der zweiten Reformation verbinden. Bildkonflikte sind in hohem Maße Indizien von Krisen, an denen sich der Streit ums Bild nur symbolisch verdichtet, weil sich an der Bilderfrage andere Fragen brechen. Der Bilderstreit wird so buchstäblich zu einem Stellvertreterkrieg. Daran erinnert auch die Tatsache, dass der Streit ums Bild das Christentum im 16. Jahrhundert wahrlich nicht zum ersten Mal beschäftigt. Seit dem Bilderstreit von Byzanz im 6. und 7. Jahrhundert wiederholen sich Konstellationen, in denen sich Fragen der religiös angemessenen sinnlichen Repräsentation Gottes mit Fragen politischer Repräsentation verbinden.
Zürich ist ein gutes Beispiel für die Anreicherung vieler Konfliktlagen, die in der theologischen Neubewertung den Bildern in religiösen Räumen eine zeichenhafte Lösung finden. Es ist ja durchaus bemerkenswert, dass der Bildersturm die sinnlichste aller reformatorischen Umbrüche ist. Ausgerechnet die Bilderkritiker setzen auf starke Bilder, auf Bilder, deren Nachleben bis in die Einbildungskraft Berliner Journalisten der Gegenwart andauert. Wer Bilder öffentlich entfernt, kann sich der öffentlichen Aufmerksamkeit aller sicher sein. Die neue Abendmahlslehre mag zu kompliziert, das neue Kirchenverständnis zu gelehrt sein, wenn die Heiligenbilder, die Statuen und die Hochaltäre verschwinden, ändert sich auch die Frömmigkeitskultur der sogenannten kleinen Leute. Der Ikonoklasmus im Züricher Großmünster ist deshalb paradigmatisch für viele Aufräumaktionen im Zuge der zweiten Reformation. Dieser Bildersturm hat mit einem spontanen Exzess nichts gemein, es handelt sich, wie später in Brandenburg und in vielen freien Städten, um einen Bildersturm von oben, der geordnet, teilweise sogar gesetzlich geregelt verläuft und nicht gegen, sondern unter Beteiligung der städtischen Führungselite vollzogen wird. Die symbolische Wirkung ist nicht unbedingt kleiner, aber die Assoziation des barbarischen Wutaktes führt meistens in die Irre. So hat der Bildersturm in Zürich auch noch eine – folgt man den Klischees – echt calvinistische Pointe: Die Kopfreliquiare, dieser Inbegriff des „heiligen Brimboriums“ werden zwar entfernt, aber keineswegs im Fluss versenkt oder gar zerstört. In Zürich wusste man gut zwischen dem Symbolwert und dem finanziellen Realwert zu unterscheiden.
Letzteren wusste man durchaus zu schätzen. Deshalb verstaute man die Wertsachen in Kellern oder verkaufte sie gar. Max Weber hätte an dieser Geschichte seine helle Freude gehabt, aber auch er bliebe uns die Antwort auf die Frage schuldig, ob hier der Geist der Reformation oder die Krämerseele der Handelsleute Antriebskraft für solcherart Achtung war. Auch die Altartafeln von Hans Leu wurden nicht verbrannt oder zerschlagen. Die Stadtoberen bestellten vielmehr einen Künstler, der die Stadtheiligen mit der von ihnen verdeckten Stadtansicht übermalte – ein Verfahren, das in den 70er Jahren des zwanzigsten Jahrhundert den Künstler Anselm Kiefer zu Übermalungen klassischer Bilder verleitet. Sein „Bilderstreit“, wie er den Zyklus nennt, macht ihn berühmt. Der Akt der Übermalung verdichtet noch einmal den gesellschaftlichen Umbruch, der mit der reformatorischen Bewegung verbunden ist: die mittelalterliche Heiligenlandschaft wird nun überlagert von dem Bild einer aufstrebenden Stadt mit imponierender Silhouette.
Bei aller Verselbstständigung von bilderfeindlichen Exzessen von genuin theologischen Ausgangsfragen sollte man es sich allerdings nicht so leicht machen, ausschließlich andere als religiöse Gründe für die „Aufräumaktionen“ in Kirchen und Andachtsräumen zu suchen und sich so der theologischen Verantwortung zu begeben. Dass in Wahrheit andere als religiöse Motive zu Umbrüchen führen, religiöse Motive deshalb nur vorgeschoben seien, um andere, in der Regel politische Interessen zu vertuschen, ist eine beliebte Denkfigur, die wir im Augenblick gerne ins Spiel bringen, wenn es um die Konfliktherde der Welt geht, in denen Religion eine Rolle spielt. Ob Palästina oder Afghanistan, immer wieder ist zu hören, die Religion sei nur vorgeschoben, in Wahrheit ginge es um Armut oder um Öl, um die Demütigungen durch den Westen oder um den Kampf für Souveränität oder mehr Selbstständigkeit. Religion wird so zum Brandbeschleuniger für vermeintlich religionsferne Probleme und damit zum geeigneten Mittel für einen unheiligen Zweck, der in der Regel mit der Emotionalisierung der Massen angegeben wird. Dieses Argument verschleiert die Macht religiöser Überzeugungen ebenso wie die Tatsache, dass religiöse Bewegungen immer kulturelle, soziale und politische Auswirkungen haben, wie auch der kulturelle, soziale und politische Kontext Folgen für religiöse Überzeugungen hat. Zwischen „eigentlich und uneigentlichen Folgen“ zu unterscheiden ist meines Erachtens problematisch. Hilfreicher ist es da schon, ein Bündel von sich wechselseitig verstärkenden Ursachen anzugeben. Das gilt auch in der frühen Neuzeit. Die Durchschlagskraft der mit prophetischer Verve vorgetragenen Bildkritik, wie sie im Anschluss an Zwingli, Calvin und andere reformatorische Vordenker erfolgte, ist letzten Endes nur mit genuin theologischem Argumentationsmuster verstehbar.
Paul Tillich erinnert in seiner Schrift „Protestantismus als Kritik und Gestaltung“ daran, dass die calvinistische Bilderkritik in der Zeit des reformatorischen Aufbruchs keineswegs ein zweitrangiges Thema war, das weit abgeschlagen hinter der Frage der Prädestination oder der frommen Lebensführung stand. Sie ist im weiteren Sinne Teil des Großthemas christlicher Lebensführung und hängt systematisch mit der Kritik an der katholischen Eucharistielehre zusammen. Der Verdacht der Idolatrie, des Götzendienstes oder der Magie kann ja erst entstehen, wenn Bildern viel, vielleicht zu viel zugetraut wird. Calvins theoretischer Ikonoklasmus führt deshalb mitten in die Frage nach der Legitimität sinnlicher Repräsentation Gottes durch äußere Zeichen, in denen Gott trotz seiner Bindung an die Zeichen der Welt als souveräner und freier Gott gedacht werden kann. Erst wenn die manifeste Bindung des Urbildes an das Abbild, des Bezeichneten an das Bezeichnete unterstellt wird, wie es in der katholischen Eucharistie durch den Gedanken der Realpräsenz geschieht, kann das Bild die Macht entfalten, die Zwingli und Calvin brechen wollen. Der Magieverdacht bringt die Reformatoren auf den Plan. Auch das Luthertum reagiert scharf, allerdings mit einer anderen Entmachtungsstrategie. Luther pädagogisiert die Bilder. Er hängt sie buchstäblich tiefer und bestreitet ihren Rang als materielle Träger einer göttlichen Energie oder Gegenwart. So „entheiligt“ er sie und macht sie zu nützlichen Medien religiöser Bildung. Bilder werden zur biblia pauporum, zur Illustration für das leseunkundige Volk. Das ist nur auf den ersten Blick bilderfreundlicher. Die Suche der Wittenberger nach einem protestantischen Bildprogramm, wie es z.B. in den Gemälden Cranachs erscheint, zeigt, dass die Theologie der Bilder im Osten des Reiches eine andere Richtung nimmt. Es spricht von einer größeren Gelassenheit im Umgang mit der sinnlichen Anschauungskraft des Glaubens. Ob diese freundliche Aktion des „Tieferhängens“ aber auch in den Wirkungen kunstfreundlicher war, ist heute umstritten.
Der Calvinismus provoziert, wenn man so will, eine religiöse Krise der Repräsentation und sucht in der Bilderabstinenz zugleich einen Ausweg aus den Bildkonzepten des Mittelalters. Nun muss man die katholischen Bildtheorien des späten Mittelalters gegen die praktizierte Volksfrömmigkeit im Rückblick verteidigen, aber die Praxis im Umgang mit Heiligendarstellungen, Marienfiguren und Andachtsbildern hatte in der Tat einen magischen Anspruch: Im Dargestellten wurde das angebetet, was zur Darstellung kommt. Der Heilige, dem die Tränen und Wünsche gelten, vor dem man kniet und den man küsst, ist in den Augen der alltagsfrommen Christenmenschen, die sich für die komplexen mittelalterlichen Zeichentheorien nicht interessieren, so wirklich wie die eigene Hand. Wenn Gott schon in einem Stück Brot anwesend sein konnte, wie viel mehr dann in einem Heiligenbild, das mit seinen malerischen Tricks Illusion und Wirklichkeit für das menschliche Auge kaum unterscheidbar macht. Bei der Eucharistie mag ja noch viel Glaube gefordert sein. Das Bild versteht sich von selbst, es ist selbstevident. In der „sakramentalen Schau“ der Andachtspraxis ist das Sakralbild ein apotropäischer Gegenstand, eine Art Zauberbild, das von der physischen Verbindung zwischen dem Betrachter und dem Betrachteten lebt, vorgestellt als Energie oder fließender Stoff.
Viel Alchemie ist in diese Bildkonzeption eingeflossen, ein Grund mehr für die Calvinisten, diesen Bann brechen zu wollen – um der Undarstellbarkeit Gottes willen, das ist wahr. Es wird aber unterschätzt, wie sehr die Unterbrechung dieser sakralen Schau auch das Sehverhalten der Menschen insgesamt verändert. Um es einmal emphatisch zu formulieren: die Bilder werden entsakramentalisiert und nun als weltliche Artefakte zu dem, was sie im Bann des sakramentalen Blickes nicht sein konnten: Bilder, die eine weltliche Sicht auf die Welt ermöglichen. Deshalb hat die Bilderkritik des Calvinismus als Massenmedium für den besseren Gotteskontakt auch eine machtkritische Pointe. Wenn die Andacht aus dem Hören kommt, sind die inneren Bilder, die sich einstellen, dem korrigierenden Zugriff der Pfarrer und der Väter radikal entzogen. Die vermeintliche Entsinnlichung der Gotteshäuser führt so, das lässt sich bis in die Hirnforschung belegen, zu einer befreiten, man möchte sagen, beinahe entfesselten Phantasie. Da Menschen nicht anders als durch Bilder und visuelle Landschaften sich selbst und die Welt verstehen, weil schon die trivialsten Aussagen der Sprache auf Bildern aufruhen, provoziert die Bilderfeindlichkeit im sakralen Sinne zu der Produktion eigener Vorstellungen. Die strenge Disziplinierung der Sinne mag deshalb auch als Palliativ gegen eine ausschweifende Einbildungskraft verstanden werden. Denn sind die Bilder erst einmal frei zur inneren Verfügung, entfalten sie ihre eigene Macht.
Die Konsequenz aus der Bilderzucht im inneren der reformierten Kirchen und Andachtsräume ist deshalb mitnichten die Schaffung von bilderfreien Zonen. Weiße Wände wirken wie Projektionsflächen für den eigenen Bilderkosmos. Tom Sawyer, der Held meiner Kindheit, ist übrigens das beste Beispiel für diese Kreativität, die aus der sinnlichen Leere kommt. Seine besten Streiche kommen ihm in der schlichten weißen Holzkirche, während er in der Sonntagsschule neben Tante Polly sitzt. Mark Twain hat die puritanische Lebenswelt seines kleinen Protagonisten in wunderbaren Farben gezeichnet. Die Stärkung der kindlichen Einbildungskraft aus dem Geiste der optischen Langeweile wird nirgendwo schöner beschrieben als hier. Was vom Calvinismus übrig blieb, haben viele Menschen als Kinder mit der Taschenlampe unter der Bettdecke erfahren, eher vermutlich als in den Verlautbarungen reformierter Kirchenbünde.
2. Vom magischen Bild zum Reflexionsbild – das Beispiel Rembrandt
Dass der calvinistische Kampf gegen das religiöse Bild die weltliche Kunstproduktion maßgeblich befördert hat, haben Studien über den Kunstbetrieb in den Niederlanden des 17. und 18. Jahrhunderts gezeigt. Die calvinistischen Andachtsräume mögen ohne Bilder auskommen, die calvinistischen Bürgerhäuser zieren die Meisterwerke der holländischen Meister. Und die Stadt mit den größten Kunstsammlungen von Privatleuten in Deutschland war lange Wuppertal. Offenbar entspricht dem Trend zum inneren Bild als Ausdruck religiöser Freiheit in der Gemeinde ein Trend zur Verinnerlichung in der Kunst selbst, die in der Forschung auf calvinistische Prägungen zurückgeführt werden. Am deutlichsten wird dieser Transformationsprozess an den Sujets, die ehemals als Heiligenbilder dienten – Bilder von Maria oder den Aposteln, biblische Szenen und Märtyrergestalten. Diesen Wandel, der als mittelbarer vermeintlicher Ausfluss der calvinistischen Bilderfeindlichkeit zu einer neuen Malweise und zu einer neuen Bildtheorie führt, kann man an Rembrandt zeigen, dem berühmten Vertreter der niederländischen Malerei des Goldenen Zeitalters, dessen Technik bis heute Künstler zur Auseinandersetzung reizt. Rembrandt, im 19. Jahrhundert der Lieblingsmaler der Gebildeten, wurde dem katholischen Rubens gegenübergestellt. Während Rubens auf die sichtbare Verkörperung christlicher Glaubensinhalte setzt, führt der Weg Rembrandts, so paradox das für einen Maler auf den ersten Blick klingt, zur Verinnerlichung.
Die stark durch den Protestantismus gefärbte deutschsprachige Gelehrtenrepublik des 19. Jahrhunderts hat die Malerei Rubens mit bilderstürmerischen Etiketten verklebt, die seine Kunst eher verstellen. Das Lieblingsschimpfwort war das der „Äußerlichkeit“, der den Glauben als im Sinnlich-Körperlich-Vitalen zeigt. Aber der Verdacht ist dem der Calvinisten gegenüber den Andachtsbildern entfernt verwandt. Rembrandts künstlerisches Profil zeigt sich in einer bis dahin unbekannten Subjektivierung. Er arbeitet weder für die Kirche noch für die Fürsten. Als freier Künstler ist er den Schwankungen des Marktes ausgesetzt, die seine Arbeit honorierte oder ablehnte. Aus dem Publikumsliebling wird nach 1624 ein hochverschuldeter Mann. In sechzig Selbstbildnissen eröffnet eer dem Betrachter seine Konfessionen und in schonungsloser Offenheit Einblick in sein Innerstes. Vor allem der Prozess des Alterns bleibt ein Lebensthema. In späteren Bildern hat er sich oft als Apostel Paulus dargestellt und seinen Bezug zur „Rechtfertigung allein aus Glauben“ Ausdruck verliehen. Der Gedanke, dass Gott den Einzelnen ungeschönt mit krummem Rücken, eingefallenen Schultern, Falten, Narben und Verfärbungen wahrnimmt – und der Maler deshalb auch die großen Heiligen als das zeigen kann, was sie sind: von Gott geschundene und geliebte Menschen. Seine Paulusportraits unterscheiden sich von allem, was wir bislang in der Bildgeschichte des Abendlandes gesehen haben.
Der große Theologe, der gefürchtete Polemiker, der angefochtene Missionar, der Märtyrer – in den Bildern Rembrandts flieht er jeder Stereotype. Paulus ist nicht länger außerordentlicher Heiliger, er ist ein Mensch, dem die Ereignisse in der Welt ins Gesicht geschrieben sind. Rembrandt malt uns seinen Paulus und wir entdecken in diesem Gesicht andere Gesichter, die uns die nächsten sind. Der Weg von der Fixierung auf die Heiligen zur Zuwendung zum Nächsten, eine Argumentation, die in der Folge der Bilderkämpfe des 16. Jahrhunderts immer wieder angeführt wird, kommt hier neu und frisch zur Geltung. Rembrandt profaniert die Heiligen, indem er sie zu Menschen macht, die anrühren und zu einem neuen Sehen verführen. Seine Bilder wirken weltlich in einem umfassenden Sinne. Alltag und Dreck und die Ambivalenz menschlicher Lebensverhältnisse, Hässlichkeit und Krankheit haben genauso Platz wie eindrückliche Gesten der Barmherzigkeit und der Nähe. Weltlicher kann die Darstellung der Welt nicht sein.
Über das Kalkül des Lichtes in Rembrandts Bildern ist so viel gesagt und geschrieben worden, das jedes Erstsemester der Kunstgeschichte darüber fachsimpelt, aber die Erinnerung daran, dass Licht die Technik ist, mit der die Darstellung des Undarstellbaren so eingelöst wird, dass das Bilderverbot im Medium des Bildes eingelöst wird, sei hier doch erwähnt. Ich möchte Ihnen heute ein anderes Bild vor Augen führen, dass zeigt, wie die Kritik am religiösen Bild zu neuen Formen der Kunst führt, die durchaus eine neue theologische Herausforderung sind, gerade, weil sie den sakramentalen Bildersinn verweigern. Im Jahr 1646 malt Rembrandt van Rijn ein Bild mit dem Titel „Die heilige Familie hinter dem Vorhang“. Heute hängt es in den Staatlichen Kunstsammlungen in Kassel. Auf dem Bild sehen wir eine bildparallel geführte Stange, an der ein roter Vorhang hängt, der zur rechten Seite gezogen ist, um ein dahinterliegendes, offensichtlich kostbares Gemälde mit einem das Licht reflektierenden Rahmen freizulegen: ein Bild im Bild. Der Bildraum, in dem sich die Heilige Familie aufhält, ist ein dunkles Gelass. Wir ahnen nur schemenhaft, was sich dort befindet. Im Vordergrund brennt ein Feuer, neben dem eine Katze kauert. Im Hintergrund hackt ein Mann, Josef, Holz. In der linken Bildhälfte sitzt eine ärmlich gekleidete Frau, die ein schreiendes Kind hält. Noch nie ist die Heilige Familie je vorher in solcher Armseligkeit gezeigt worden. „Wenn dies keine Profanation ist, was wäre noch eine“, hat Jacob Burckhardt 1875 geschrieben. Dass das Heilige im Alltag der Welt aufscheint, ist ein von der Reformation mit Nachdruck vertretener Gedanke. Der Vorhang vor dem Bild erinnert den Betrachter daran, dass er sich nur ein Bild von der Heiligen Familie macht. Sie ist es nicht. Wie ein Voyeur wird der Zuschauer entlarvt, der einen illegitimen Blick in seine Szene erhascht, die er eigentlich gar nicht sehen soll. Das grandiose Spiel mit Bild und Bildentzug lässt keinen Zweifel aufkommen: Der Maler thematisiert hier das Problem der religiösen Bilder selbst. Er kommentiert in seinem großartigen Pinselstrich die Sehnsucht, eine Szene Gottes im Bild festzuhalten, unser Streben nach sinnlich Überwältigendem, das leichter glauben lässt, führt bei Rembrandt in den Alltag der Welt. Mehr Erhabenes ist nicht zu erhaschen!
Die Krise der Repräsentation, die in der calvinistischen Bilderabstinenz auf eigene Weise gelöst wird, führt schnurstracks in die Moderne, wo Bilder nur noch das sein müssen, was sie sein können: ästhetische Kommentare unserer Welt, die an religiösen Erwartungen und Ansprüchen, also an der letzten Deutung der Welt, scheitern müssen. Das Bilderverbot im modernen Sinne befördert die Einsicht in die Vorläufigkeit aller Bilder. Bilder können nichts mehr befehlen, schon gar nicht können sie den Kniefall verlangen, übrigens auch nicht den kunstreligiösen Kotau vor der ach so erhabenen Kunst, die unter der Hand auch religiöse Sehnsüchte befrieden soll. Nimmt man die calvinistische Auslegung des Bilderverbotes ernst, so hat das auch Folgen für die den Umgang mit Bildern. Bei Rembrandt wird aus dem klassischen weihnachtlichen Andachtsbild ein calvinistisches Denkbild, das auch die neue Bildmagie von Fotoshop und Internet zu befragen in der Lage ist. In der calvinistischen Bilderkritik steckt der Keim einer modernen Ethik der Bilder. Diese auszuformulieren gehört zu den großen Herausforderungen der Reformationsdekade.