Laudatio anlässlich der Verleihung der Martin-Luther-Medaille des Rates der EKD an Richard von Weizsäcker in Emden
Margot Käßmann
„Dass jemand mit so vielen weißen Haaren so cool sein kann“... Die junge Frau mit dem Nasenring und den frechen Locken strahlt. Keine Spur von Langeweile im Gesicht. Wach wirkt sie und nachdenklich. Dabei hat sie gerade mit hunderten von Gleichaltrigen eine geschlagene Stunde auf Papphockern ausgeharrt, in einer tristen Messehalle im Neonlicht. „Wir haben ganz vorne gesessen.“, erzählt sie mir aufgeregt, als hätte sie sich bei einem Popkonzert in die erste Reihe geschmuggelt. „Wenn so einer sagt, dass wir uns als Christen in die Politik einmischen sollen, dann mache ich das auch!“. Der Mann, von dem sie so beeindruckt ist, könnte ihr Großvater sein. Richard von Weizsäcker ist sein Name.
Sie, verehrter Herr von Weizsäcker, haben die höchsten Ämter in Staat und Kirche ausgefüllt. Sie waren Bürgermeister und Bundespräsident, Kirchentagspräsident, Mitglied der Kammer für Öffentliche Verantwortung, Synodaler und Mitglied des Rates der EKD. Viele Auszeichnungen und Ehrungen haben sie für Ihr außerordentliches Engagement in unserer Kirche und unserem Gemeinwesen erhalten. Aber kann man 17jährige damit wirklich beeindrucken? Junge Menschen sind ja nicht bestechlich. Sie haben ein sehr feines Gespür für Glaubwürdigkeit und echte Überzeugungen. Nicht die Ämter und Ehrenzeichen, sondern die Art, wie jemand ein Amt ausfüllt, beeindruckt sie. Die Persönlichkeit, die Glaubwürdigkeit, die Autorität sind entscheidend.
In einer Zeit, in der der Grad der Bedeutsamkeit eines Menschen manches Mal an der Größe des Dienstwagens gemessen oder der Sondergratifikationen gemessen wird, kommen Sie, verehrter Herr Weizsäcker, lieber zu Fuß. Ihre Bedeutung für uns alle ergibt sich aus ihrer inneren Haltung, aus der Klarheit ihrer Rede und aus einer Überzeugungskraft, die vom guten Argument lebt. Nüchternheit und Freimut, Wachheit und Bescheidenheit, das sind protestantische Tugenden, die Sie für nunmehr zwei Generationen, auch für mich, zum Vorbild haben werden lassen. Sie sind ein Zeitzeuge, dessen Ermahnungen nie schulmeisterlich sind, eine Leitfigur, die nicht wie ein Idol angehimmelt werden will, eher ein Lehrer, der zur Mündigkeit ermutigt.
Freiheit, scheint mir Ihr Lieblingswort zu sein. Nun könnte sich das für einen großen Demokraten von selbst verstehen. Aber Sie beziehen sich in ihrer Liebe zur Freiheit auf den Apostel Paulus. Das ist keineswegs selbstverständlich. „In Freiheit bestehen“, das ist ein Wort des Apostels, das nicht nur über dem Kölner Kirchentag von 1965 stand, dessen Präsident sie waren. „In Freiheit bestehen“, so war auch ihre spontane Ansprache in der Berliner Gedächtniskirche im November 1989, also vor fast genau zwanzig Jahren, überschrieben. „In Freiheit bestehen“ – dieser Satz könnte wie ein Motto über ihrem Leben stehen. Wer ihre Reden und ihre autobiographischen Erinnerungen liest, wer Sie auf öffentlichen Podien und bei Gesprächen im kleinen Kreis erlebt, der könnte auf die Idee kommen, dass die große Freiheitsschrift von Martin Luther eine Blaupause für Ihr Leben ist.
„Ein Christenmensch ist ein freier Herr über alle Dinge und niemandem untertan. Ein Christenmensch ist ein dienstbarer Knecht aller Dinge und jedermann untertan.“ So lautet die Freiheitsdefinition des Reformators. Freiheit als geschenkte Freiheit zu begreifen, die der Mensch sich nicht selbst erarbeitet erarbeiten kann, das ist die erste Pointe des evangelischen Freiheitssinns, der sie, verehrter Herr Weizsäcker, so offenkundig prägt. Deshalb haben Sie auch im politischen Bereich immer wieder betont, wie kostbar Freiheit ist. Tyrannei und Unterdrückung, alle Tendenzen von Machtmissbrauch und radikal antidemokratische Kräfte haben sie unermüdlich bekämpft. Alle Formen von politischer Unfreiheit haben sie schonungslos beim Namen genannt, diplomatisch im Ton, aber ohne Kompromiss in der Sache. Sie haben friedenspolitische Akzente gefordert, als die Abschreckungspolitik immer aberwitziger wurde. Sie haben zur Entspannung aufgerufen, als sich der Ton zwischen den beiden deutschen Staaten Ende der sechziger Jahre immer mehr verschärfte. Sie haben sich für einen verantwortlichen und wahrhaftigen Umgang mit der deutschen Geschichte eingesetzt und ein großes Herz gehabt für die Aussöhnung mit Osteuropa. Sie haben die Macht der Parteien in der Demokratie kritisiert. Sie haben zu einer Weltinnenpolitik aufgefordert, als das Schlagwort von der „Globalisierung“ noch ein Fremdwort war. Und sie haben mit feinem Humor immer wieder letzte und vorletzte Dinge auseinander gehalten. Dazu braucht es eine große innere Freiheit.
Lieber Richard von Weizsäcker, für mich haben Sie aber auch den zweiten Teil von Luthers Freiheitsdefinition mit Leben erfüllt. Ein Christenmensch ist ein dienstbarer Herr aller Dinge und jedermann untertan. Der Satz ist unbequem und geht einem nicht so glatt über die Lippen. Ein freier Christenmensch ist ein Diener der Anderen. Sie haben diese evangelische Grundeinstellung mit Leben gefüllt, als sie die Anliegen der Menschen zur eigenen Angelegenheit erklärten. Sie hatten und haben das Gemeinwohl im Blick. Das ist die evangelische Antwort auf das Gottesgeschenk der Freiheit, das nicht von klugen Worten und von guter Regierung und Kirchenregierung, sondern von einer inneren Haltung lebt, einer Haltung, die das altmodische Wort vom „dienen“ so erst nimmt, dass es junge Leute von heute zur Nachahmung einlädt. Die Martin-Luther-Medaille wird protestantischen Persönlichkeiten verliehen, heißt es im Programm zur heutigen Preisverleihung. Viele Menschen in unserem Land mögen mit Luther nicht mehr viel verbinden. Sein evangelischer Sinn der Freiheit ist ihnen abhanden gekommen, das empfinde ich als Tragödie im Mutterland der Reformation. In Persönlichkeiten wie Ihnen aber findet der Geist der Reformation eine lebendige Anschauung.
Der Rat der EKD hat mich gebeten, Ihnen diese Medaille heute zu verleihen, lange, bevor in Sicht kam, dass ich Ratsvorsitzende werden könnte. Ich habe diese Aufgabe gern übernommen. Einerseits freue ich mich natürlich immer, in Emden zu sein. Diese schöne Stadt liegt in wunderbaren Sprengel Ostfriesland meiner Landeskirche und die Johannes A Lasco Bibliothek ist inzwischen auch ein Zeichen für das gute Miteinander von Reformierten und Lutheranern hier, etwa wenn unser lutherischer Regionalbischof vor Ort in der reformierten Bibliothek die Pastorinnen und Pastoren zum Generalkonvent zusammen ruft.
Zum anderen habe ich Sie immer wie einen väterlichen Freund erlebt, vor dem ich allerhöchsten Respekt habe, der aber wohlwollend freundlich mich ermutigt hat. Da ist zum einen unsere gemeinsame Erfahrung in Leitungsgremien des Ökumenischen Rates der Kirchen, wenn auch um einige Jahre versetzt. Und vor allem in meiner Zeit als Generalsekretärin des Deutschen Evangelischen Kirchentages habe ich Ihr ruhiges und klares Urteilsvermögen schätzen gelernt. Sie sind einer der Baumeister dieser großartigen Bewegung und haben sie mitgeprägt in einer Generation der Gründerväter gemeinsam mit Reinold von Thadden-Trieglaff, Klaus von Bismarck und vielen anderen. Damit haben sie beigetragen zum semper reformanda, der notwendigen ständigen Erneuerung der Kirche der Reformation. Und Sie waren einer der Brückenbauer zur Kirche in der DDR. Die Präsidien der Kirchentagsbewegung haben sich immer wieder getroffen und die Verbindung nicht abreißen zu lassen. Darüber gibt es viele wunderbare Geschichten, die ganz gewiss Carola Wolff am allerbesten erzählen könnte. Aber diese Geschichten folgen gleich beim Empfang. Jetzt freue ich mich von ganzem Herzen, Ihnen die Luthermedaille überreichen zu dürfen!