Statement in der Pressekonferenz zur Vorstellung der Orientierungshilfe „Im Alter neu werden können“
Margot Käßmann
Der Rat der EKD veröffentlicht heute eine Orientierungshilfe, die die alternde Gesellschaft zum Thema hat. Das veränderte Alter und die Verschiebungen im Altersaufbau stellen uns vor eine historisch völlig neue Situation. Viele sehen die großen Chancen, die die geschenkten Jahre geben; andere sehen mit Ängsten in eine Zukunft, in der ältere Menschen den größten Anteil der Bevölkerung stellen. Der Text, der von einer Ad-hoc-Kommission unter Vorsitz von Prof. Dr. Andreas Kruse erarbeitet wurde, macht aus dem Glauben heraus Mut, die Chancen zu ergreifen, die in dem Mehr an Lebenszeit liegen und notwendige Veränderungen beherzt anzugehen.
Im Alter neu werden können, so lautet der Titel der Orientierungshilfe. Der Text zeigt auf, dass alt zu sein aus der Perspektive des Glaubens nicht bedeutet, fertig zu sein mit dem Leben, sich aus dem öffentlichen Leben zurück zu ziehen. Er erinnert uns an die Grundeinsicht unseres Glaubens, dass Menschen in Gottes Gegenwart trotz allem, was war und was ist, immer wieder neu werden, neu anfangen können und dass diese Zusage an keine Bedingungen geknüpft ist, schon gar nicht an ein bestimmtes Lebensalter. Dies ist nicht nur eine geistliche Perspektive. Sie hat Konsequenzen für den einzelnen Menschen und für die Gestaltung der Gesellschaft insgesamt. Denn in jedem Alter Neues beginnen zu können, setzt eine „Gesellschaft für alle Lebensalter“ voraus, in der Alle Beiträge zum gesellschaftlichen Miteinander leisten können und ihr Leben entsprechend gestalten können. Das ist in Bezug auf das Alter bisher weder in der Arbeitswelt noch in der Zivilgesellschaft – und auch nicht in der Kirche - hinreichend verwirklicht.
Eine wesentliche Voraussetzung für einen anderen Umgang mit dem Alter ist, dass wir uns von festlegenden Altersbildern und starren Altersgrenzen verabschieden. Das fällt oft schwer, denn der sogenannte Ruhestand war lange eine nicht hinterfragte Selbstverständlichkeit. Aber das Altern ist kein festgelegtes Programm, das bei allen Menschen gleich verläuft. Der Text öffnet die Augen, für die Tatsache, dass ein hohes kalendarisches Lebensalter heute kaum etwas über eine Person aussagt. Entscheidend sind die Lebensbedingungen und die persönlichen Potenziale. Wir alle kennen sicherlich Beispiele aus dem eigenen Umfeld, die zeigen, wie unterschiedlich Menschen im Alter sein können. Und es ist mittlerweile auch wissenschaftlich belegt, dass die Unterschiede zwischen Menschen in keiner anderen Lebensphase so stark ausgeprägt sind wie im Alter. Daraus müssen wir Konsequenzen ziehen. Wir müssen alten Menschen offen begegnen und sie in ihrer Einzigartigkeit begreifen. Die Orientierungshilfe wirbt dafür, flexible Regelungen zu suchen, die allen Menschen, die dazu in der Lage sind, Teilhabe und Mitverantwortung ermöglichen. Dass einer des anderen Last trage, gilt unabhängig vom Lebensalter, und ist von den individuellen Kompetenzen und Ressourcen abhängig. Starre Altersgrenzen, die Menschen ab einem bestimmten Lebensalter pauschal die Möglichkeiten der Mitwirkung entziehen, sind angesichts der Vielfalt der Lebensformen und der Kompetenzen des Alters nicht mehr angemessen. Warum soll jemand, der leidenschaftlich gern in seinem Beruf arbeitet, das nicht auch noch mit 67 tun, wenn er dazu geistig und körperlich in der Lage ist? Warum kann ein agiler 60-Jähriger in der Feuerwehr nicht mehr aktiv sein? Warum dürfen Ältere mancherorts nicht in politische Gremien oder den Kirchenvorstand gewählt werden oder als Schöffe tätig sein? Zugegeben: Pauschale Regeln sind viel einfacher anzuwenden als der Blick auf jede Einzelne und jeden Einzelnen. Trotzdem müssen wir in Zukunft genauer hinschauen und auf Gemeinplätze über das Alter verzichten.
Großes gesellschaftliches Entwicklungspotenzial macht die Orientierungshilfe bei der sozialen Teilhabe Ältere aus. Wir müssen uns deshalb fragen, wie wir die Möglichkeiten der Älteren zur Selbstsorge und zur Mitsorge verbessern können. Schon jetzt entstehen vielerorts neben den etablierten Vereinen und Verbänden Netzwerke, Gruppen und Nachbarschaftsinitiativen, in denen sich Ältere für ihre Nächsten und für ihre eigenen Interessen engagieren. Engagierte „Laien“ unterstützen professionelle Dienste bei der Betreuung Pflegebedürftiger in der Nachbarschaft, Ältere bieten für benachteiligte Kinder Hausaufgabenhilfe oder organisieren ein alternatives Wohnprojekt. Diese Initiativen sind keine Konkurrenz, sondern eine wichtige Ergänzung und Bereicherung des bereits Bestehenden. Sie brauchen Spielraum und Unterstützung.
Das neue Alter wird auch die Kirche verändern. Schon jetzt werden wichtige Bereiche des Gemeindelebens vor allem von Älteren getragen. Gerade die neuen Altengenerationen wollen sich mit ihren Fähigkeiten selbstbestimmt einbringen und erwarten entsprechende Möglichkeiten in der Kirche. Wir werden in der Konsequenz von einem Kirchenbild wegkommen, das besagt, da ist der Pfarrer und dort sind die Ehrenamtlichen, die zugewiesene Aufgaben übernehmen. Wir werden Kirche stärker miteinander gestalten, und das kann, wo es gut funktioniert, großartig sein, weil es neue Kräfte weckt. Aber dann müssen wir natürlich auch Eigenständigkeit und Mitverantwortung zulassen und Entscheidungskompetenzen teilen.
Ein weiterer wichtiger Aspekt, den der Text beleuchtet, ist die Neugestaltung der Pflege. Dieses Thema wird gerne tabuisiert. Der Gedanke, selbst pflegebedürftig oder dement zu werden, macht Angst. Er passt nicht zu den Leitbildern von Autonomie und Anti-Aging. Diese Verdrängung führt dazu, dass Pflege- und Hilfsbedürftige oft nicht mehr in ihrer Individualität, sondern nur noch mit ihren „Defiziten“ wahrgenommen werden. Der Text macht deutlich, dass wir dringend eine breite gesellschaftliche Diskussion über die Pflege brauchen. Wir müssen Tendenzen der Abwertung und Ausgrenzung pflegebedürftiger Menschen entgegen treten. Wir müssen uns klar darüber werden, dass Verletzlichkeit und Endlichkeit zum Menschsein gehören und wir müssen uns fragen, was uns eine gute Pflege wert ist. Die Orientierungshilfe legt dar, dass sich die Rahmenbedingungen in der Pflege verändern müssen. Gute Pflege verlangt Wertschätzung, hohe Fachlichkeit, Zeit und eine angemessene Bezahlung. Auch die pflegenden Angehörigen brauchen dringend Unterstützung. Sie dürfen mit ihrer Aufgabe nicht allein gelassen werden. Sie brauchen institutionelle Beratung und niedrigschwellige Entlastungsangebote. Damit sich Berufstätigkeit und Pflege vereinbaren lassen, muss auch das Pflegezeitgesetz weiterentwickelt werden.
Die Orientierungshilfe ist von der Grundüberzeugung getragen, dass das veränderte Alter Perspektiven eröffnet und Veränderungen ermöglicht, von denen die Gesellschaft insgesamt profitiert. Wer das Buch aus der Hand legt, weiß, warum es lohnenswert, ist, sich von gängigen Leitbildern für das Alter zu verabschieden, auch wenn diese über Jahre und Jahrzehnte als normal, üblich, gut und vernünftig galten.