Predigt zur aej-Mitgliederversammlung
Schwerpunktthema: „Fundamentalismus: Bedeutung, Ursachen, Tendenzen“
Als Jugendlicher habe ich mit den Schöneberger Sängerknaben bei der Deutschen Oper in Berlin mitgespielt und -gesungen. Manchmal hatten wir die anspruchsvolle Aufgabe, uns singend auf einer Drehbühne fortzubewegen. Das war ein bewegliches Bühnenbild, das sich beständig drehte und eine Szenerie – Häuser, Bäume, Straßen und Felder – an uns vorüberziehen ließ. Ich lief auf dieser Bühne auf der Stelle, unter meinen Füßen bewegte sich die Bühne weiter. Für das Publikum sah es dann so aus, als ob ich durch eine Landschaft wanderte. Das war aber nur die Illusion, in Wahrheit kam ich nicht vom Fleck.
Die Bühne wackelte und ruckelte, vor und hinter mir liefen andere, denen ich nicht auf die Füße treten wollte, und schön und präzise singen sollte ich dabei auch noch. Das war eine ganz schöne Herausforderung, auf schwankendem Boden, der sich beständig bewegte, so daher zu laufen, als sei es das Leichteste von der Welt. Ich war völlig mit mir selbst beschäftigt und musste mich auf jeden einzelnen Schritt konzentrieren. Nicht zu weit nach vorn, um dem Vordermann nicht in die Hacken zu treten, weit genug nach vorn, damit der Hintermann mir nicht in die Hacken trat, ständig darum bemüht, das Gleichgewicht zu halten und nicht hinzufallen und alle wie die Dominosteine mit umzureißen. Außerdem galt es nebenbei, den Takt einzuhalten und den Einsatz nicht zu verpassen.
Ich war jedes Mal heilfroh, wenn ich am Ende hinter den Kulissen meine Füße von der wackligen Bühne wieder auf festen Boden setzen konnte und mich nicht mehr nur um mich selbst kümmern musste. Endlich konnte ich wieder aufblicken und sah meine Sängerkollegen auf einmal nicht mehr als Hindernis und Gefahr, sondern als Menschen. Und ich sah auch wieder den Rest des Theaters: das Publikum, die Bühnenarbeiter, den Vorhang und die Scheinwerfer.
Fester Boden, ein gutes Fundament, auf dem man sich bewegt, das ist etwas sehr Positives, etwas Notwendiges und Gutes. Diese Erkenntnis habe ich damals gewonnen. Denn erst wenn der Boden, auf dem ich gehe, fest und sicher ist, wenn ich nicht unablässig damit beschäftigt bin, mein Gleichgewicht zu halten und nicht zu stürzen, dann erst bin ich wirklich frei, mich nicht nur um mich selbst zu kümmern, sondern auch noch anderes um mich herum wahrzunehmen und zu gestalten. Mit festem Boden unter den Füßen ist das Leben erheblich leichter zu bewältigen.
An solch einen festen Boden, an das stabile Fundament, auf dem sie steht, erinnert der Apostel auch seine Gemeinde in Kolossä. Ich lese aus dem 1. Kapitel des Kolosserbriefes:
Kol 1,15-23: 15 Er ist das Ebenbild des unsichtbaren Gottes, der Erstgeborene vor aller Schöpfung. 16 Denn in ihm ist alles geschaffen, was im Himmel und auf Erden ist, das Sichtbare und das Unsichtbare, es seien Throne oder Herrschaften oder Mächte oder Gewalten; es ist alles durch ihn und zu ihm geschaffen. 17 Und er ist vor allem, und es besteht alles in ihm. 18 Und er ist das Haupt des Leibes, nämlich der Gemeinde. Er ist der Anfang, der Erstgeborene von den Toten, damit er in allem der Erste sei. 19 Denn es hat Gott wohlgefallen, dass in ihm alle Fülle wohnen sollte 20 und er durch ihn alles mit sich versöhnte, es sei auf Erden oder im Himmel, indem er Frieden machte durch sein Blut am Kreuz. 21 Auch euch, die ihr einst fremd und feindlich gesinnt wart in bösen Werken, 22 hat er nun versöhnt durch den Tod seines sterblichen Leibes, damit er euch heilig und untadelig und makellos vor sein Angesicht stelle; 23 wenn ihr nur bleibt im Glauben, gegründet und fest, und nicht weicht von der Hoffnung des Evangeliums, das ihr gehört habt und das gepredigt ist allen Geschöpfen unter dem Himmel. Sein Diener bin ich, Paulus, geworden.
Jesus Christus ist das Fundament der Gemeinde. Und was für ein Fundament das ist! Der Apostel spannt den größtmöglichen Bogen. Er fängt weit in der Vergangenheit an. Aber er fängt nicht nur beim Anfang an, er fängt sogar noch vor dem Anfang an. Jesus Christus ist der Erstgeborene vor aller Schöpfung. Bevor man noch Licht vom Dunkel, Land vom Wasser und die verschiedenen Lebewesen voneinander unterscheiden konnte, da war Jesus schon bei Gott. So fundamental war er für Gottes Erschaffen, dass alles, Land und Meer, Tag und Nacht, Fische, Vögel, Landtiere und zuletzt der Mensch in ihm geschaffen wurden. Er war dabei, als Gottes Schöpfung in das Licht des ersten Tages blinzelte. Erst durch ihn konnte Gott sein Schöpferwerk vollbringen. Ohne ihn gäbe es diese Schöpfung nicht, gäbe es weder uns, noch die Gemeinde in Kolossä noch die Drehbühne der Deutschen Oper. Und so ist diese ganze Schöpfung auch zu ihm hin geschaffen, auf ihn ausgerichtet, findet in ihm erst ihre wahre Bestimmung und ihr Ziel.
Das zeigt sich daran, dass Jesus nicht nur irgendwann einmal in der Vergangenheit, vor Urzeiten, Grund und Fundament der Schöpfung war, sondern dass er auch heute noch, ganz aktuell und ganz alltäglich, das Fundament seiner Gemeinde ist. Der Apostel sagt: …er ist das Haupt des Leibes, nämlich der Gemeinde. Wenn man sich die christliche Gemeinde, zum Beispiel die in Kolossä, oder auch unsere hier, die Gemeinde der Evangelischen Jugend, als einen lebendigen Körper vorstellt mit Füßen, die laufen, Händen, die Indiaka spielen und Lippen, die Luftballons aufblasen, dann gibt es in diesem Organismus auch eine Schaltzentrale, die dem allen zugrunde liegt. Ein Grund, warum dieser Organismus das alles anstellt. Eine Motivation, die ihn anregt. Und ein Ziel, weshalb das alles sinnvoll erscheint. Das ist ein Fundament. Christus ist der Grund, warum wir hier alle sitzen, er hat uns die Motivation gegeben für unser Engagement und er ist selber das Ziel, auf das all unser Tun zuläuft.
Und noch weiter spannt der Apostel den Bogen: Jesus Christus war nicht nur in der Vergangenheit Fundament der Schöpfung und ist nicht nur in der Gegenwart Fundament unseres Gemeindelebens, er wird auch das Fundament unserer Zukunft sein. Christus ist Grund und Ursache für unsere Versöhnung mit Gott: Denn es hat Gott wohlgefallen, dass (…) er durch ihn alles mit sich versöhnte, (…) indem er Frieden machte durch sein Blut am Kreuz. Das Kreuz Jesu wurde zum Wendepunkte der Geschichte, damit die Geschichte ihren Zielpunkt erreichen kann: Die Versöhnung mit Gott. Darauf läuft alles zu: Versöhnung, Erlösung, Gemeinschaft mit Gott. Auch darin ist er uns voraus gegangen, er ist der Erstgeborene von den Toten. Durch seine Auferstehung hat er unserer Auferstehung den Boden geebnet, das Land bestellt, eben: das Fundament bereitet.
Das, liebe Gemeinde von Kolossä, ist euer Fundament: Christus, der war, der ist und der sein wird. Und das, liebe aej-Gemeinde, ist auch unser Fundament heute. Das größtmögliche, das es gibt: Noch vor Beginn der Geschichte, vor dem ersten Schöpferatem und bis in die fernste Zukunft, bis in alle Ewigkeit, war, ist und bleibt Christus unser Fundament. Die berühmten Worte des Psalms, wir haben sie eben gebetet: „Du gibst meinen Schritten weiten Raum“, die bekommen bei diesem welten- und zeitenumspannenden Fundament, dass uns der Apostel beschreibt, noch einmal eine ganz neue Dimension. So groß, so weit und so umfassend ist der Raum, das Fundament Christi, dass wir an keiner Stelle unseres Lebens, die vorstellbar ist, an seine Grenzen stoßen oder ohne es auskommen müssten.
Aber auch wenn Christus als unser Fundament unser ganzes Leben umspannt, haben wir doch manchmal das Gefühl, auf tönernen Füßen zu wanken, in Treibsand zu geraten oder zu straucheln. Als würden wir uns doch auf einer Drehbühne bewegen. Diese Erfahrung hat auch Petrus auf dem Wasser gemacht. Hatte er eben noch Halt und konnte selbst auf den windgepeitschten Wellen sicher gehen, schwankt der Boden unter seinen Füßen von einem Moment auf den anderen, er gerät ins Sinken und nur noch Jesus kann ihn vor dem Ertrinken retten.
In solch einer Situation sind wir wohl alle manchmal. Gerade Jugendliche merken, wie im Prozess des Erwachsenwerdens die alten Gewissheiten ins Wanken geraten. Das, was ich immer für wahr und richtig hielt, wird widerlegt oder stellt sich nur als die halbe Wahrheit heraus. Das, was für mich immer eindeutig war, entpuppt sich als mehrschichtig, vieldeutig und verwirrend. Solche Unsicherheiten gehören dazu, sie sind menschlich. Ehe wir’s uns versehen, laufen wir doch wieder auf der wackligen Drehbühne und sind damit beschäftigt, unser Gleichgewicht zu finden.
Es gibt zwei Wege, mit dieser Unsicherheit auf der Drehbühne umzugehen. Der eine ist, einen Stein ins Getriebe zu werfen, zwischen die Zahnräder der Bühnenmechanik, und so die ganze Bühne zum Stillstand zu bringen. Der Boden wackelt und ruckelt zwar nicht mehr und ich kann entspannt stehen. Der Preis dafür ist aber hoch: die ganze Szenerie, im Bild gesprochen: die ganze Welt, einfach alles kommt zum Stillstand. Nichts bewegt sich mehr, nur damit ich mich orientieren kann. Und plötzlich regiert nur noch die Angst, dass auch alles genauso stehen bleibt. Dass sich ja nichts ändert, dass sich ja nichts und niemand bewegt, denn das brächte ja wieder Unruhe und Chaos in die mühsam errungene Ruhe. Ein Fundament, das mich in die Weite blicken lässt, wäre das nicht. Es wäre eher ein ängstliches Klammern am Bestehenden, an meiner kleinen Welt, die ich mühsam angehalten habe und die mir nur so beherrschbar scheint. Ich stehe wie auf einer Insel, um die sich alles herumgruppieren muss. Keine freie Weite, sondern ängstliche Enge. Das ist kein Fundament mehr, das ist eher schon Fundamentalismus.
Eine zweite Möglichkeit gibt es, mit der Unsicherheit auf der wackligen Drehbühne umzugehen. Ich besinne sich auf mein Fundament und stelle mich bewusst auf dieses Fundament. Das ist, als ob ich einen Schritt herunter von der wackligen Drehbühne auf den festen Bühnenboden daneben mache. Die Bühne rumpelt zwar weiter und dreht sich, aber ich stehe auf sicherem Boden daneben und sehe zu. Ich sehe, wie die Welt sich dreht, ich kann ins Publikum sehen, sehe die Bühnenarbeiter hinter den Kulissen hin- und her huschen, kann mich bewegen, kann hierhin oder dorthin gehen, sogar einen Schritt auf die Drehbühne zurück wagen, weil ich weiß, wo mein Fundament liegt und wo ich wieder festen Boden unter den Füßen finden werde. Solch ein Fundament hat der Apostel seiner Gemeinde in Kolossä beschrieben. Ein Boden, der nicht wackelt und schwankt. Ein Fundament, das mir die nötige Sicherheit verschafft, festen Schrittes zu gehen. Ein Fundament, das die Grundlage dafür ist, dass ich nicht nur mit mir selbst beschäftigt bin, sondern auch die Welt um mich herum wahrnehmen und gestalten kann. In diesem Sinne: ein gutes, ein notwendiges, ein lebenswichtiges Fundament. Und eben kein Fundamentalismus.
An dieses Fundament, auf dem wir eigentlich schon lange stehen, das uns aber trotzdem manchmal entwischt, erinnert der Apostel seine Gemeinde – und auch uns. Wie nahe ist auch uns manchmal die einfache Lösung, einfach die Drehbühne anzuhalten, uns ängstlich auf die kleine Insel zurückzuziehen und alles nach unserer Pfeife tanzen zu lassen. Die Versuchung ist zuweilen groß und der Schritt dorthin manchmal nur erschreckend klein. Doch wie viel Freiheit und wie viel Weite riskieren wir dafür? Die Entscheidung für den Schritt herunter von der Drehbühne, zurück auf das feste und stabile Fundament, das ist der Glaube. Denn das Fundament steht längst. Paulus sagt an anderer Stelle: Einen andern Grund kann niemand legen als den, der gelegt ist, welcher ist Jesus Christus. Das Fundament ist schon da, es ist aufgespannt über Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Ich muss mich nur noch entscheiden, mich im Glauben darauf einzulassen. Dann spüre ich, wie es mich trägt, dass es mir den nötigen Halt gibt, dass es mir Freiheit und weiten Raum gibt. Auch wenn der fundamentalistische Stein im Getriebe manchmal verführerisch nahe liegt, ist doch das Fundament des Glaubens die bessere Lösung – für mich, weil ich Freiheit und Weite gewinne – und für andere, weil ich auch ihnen Freiheit und weiten Raum lasse.
Amen.