Predigt über Jeremia 1, 4-8 im Ökumenischen Gottesdienst anlässlich der Olympischen Spiele in London im Deutschen Haus

Nikolaus Schneider

Liebe Gemeinde,

Krisen und Katastrophen gab es zu allen Zeiten der Menschheitsgeschichte

  • nicht nur vor mehr als zweieinhalb Jahrtausenden, als viele Schriften unseres Alten Testaments entstanden sind,
  • und auch nicht nur heute, wo viele Menschen in Europa unter einer Finanz- und Staatsschuldenkrise leiden und wo uns allen durch die Medien jeden Tag neue Katastrophenbilder aus vielen Teilen unserer Welt vor Augen geführt werden.

Krisen und Katastrophen erlebten und erleben Menschen zu allen Zeiten aber auch in ihren ganz persönlichen Lebensgeschichten. Auch hier bei den Olympischen Spielen: Etwa wenn Sportlerinnen ein gerade noch von ihnen bejubelter Sieg durch eine Schiedsrichterentscheidung aberkannt wird. Oder wenn Sportler alle in sie gesetzten Erwartungen nicht erfüllen konnten und die Medien statt des erhofften Medaillenjubels Spott und Hohn über sie ausgießen. Oder wenn der Erfolgsdruck so groß ist, dass für Athletinnen und Athleten, für Trainer und Betreuerinnen aber auch für alle Verantwortlichen der Erfolg zur Sinngebung der menschlichen Existenz wird und dass ein Versagen dem Leben  Sinn und Würde raubt.

Gerade in solchen Zeiten von Krisen und Katastrophen brauchen Völker und brauchen Menschen Trost, Stärkung, Gewissheit und Zuversicht, die nachhaltig wirken. Sie brauchen keine billige Vertröstung und keine flachen Sprüche. Ein nachhaltiger Trost erfordert mehr als schöne Worte und Streicheleinheiten. Eine nachhaltige Stärkung erfordert auch einen realistischen Blick auf die Ursachen und Auswirkungen der Krise und Katastrophe. Eine nachhaltige Zuversicht hält auch die Konfrontation mit eigenem Fehlverhalten aus und stellt sich der Notwendigkeit, eigene Einstellungen und eigenes Verhalten zu verändern.

In der Bibel lesen wir, wie Gott für nachhaltigen Trost, Stärkung, Gewissheit und Zuversicht sorgt. Wie er deshalb in den Krisen- und Katastrophenzeiten seines Volkes Propheten erwählt und berufen hat. Einer dieser Propheten war Jeremia. Seine Berufungsgeschichte ist der Predigttext für diesen Gottesdienst. Sie wird uns in den Versen 4 bis 8 des ersten Kapitels im biblischen Jeremiabuch erzählt:

„Und des HERRN Wort geschah zu mir:
Ich kannte dich, ehe ich dich im Mutterleib bereitete,
und sonderte dich aus, ehe du von der Mutter geboren wurdest,
und bestellte dich zum Propheten für die Völker.
Ich aber sprach: Ach, Herr HERR, ich tauge nicht zu predigen;
denn ich bin zu jung.
Der HERR aber sprach zu mir:
Sage nicht: „Ich bin zu jung“, sondern du sollst gehen, wohin ich dich sende,
und predige alles, was ich dir gebiete.
Fürchte dich nicht vor ihnen, denn ich bin bei dir und will dich erretten,
spricht der HERR.“

Nach biblischem Verständnis können Menschen sich nicht selbst und auch nicht einander zu Propheten ernennen – etwa aufgrund einer besonderen Ausbildung zum Magier und auch nicht mit Hilfe einer frommen Zeremonie. Die Bibel erzählt uns davon, dass Gott selbst sich Menschen aussucht. Er allein entscheidet, welchen Menschen er in bestimmten Situationen sein Wort und seine Wahrheit in einer ganz besonderer Weise offenbart. Jeremia hatte also keine Wahl. Das Propheten-Amt war ihm von Gott zugedacht, noch bevor er gezeugt wurde.

Und: Jeremia ist nicht freudig überrascht oder gar stolz auf seine Aussonderung und Berufung durch Gott. Jeremia quälen Angst und Selbstzweifel. Jeremia fühlt sich zu jung und zu unerfahren. Das Schicksal eines Unheil-Propheten schreckt ihn. Er weiß genau: Es ist nicht einfach, den Menschen unangenehme Wahrheiten zu sagen, ihre Selbstgerechtigkeit und scheinheilige Frömmigkeit zu demaskieren und Gottes Gericht anzukündigen. Jeremia fürchtet sich vor der Missachtung und Verachtung durch seine jüdischen Volksgenossen, vor Einsamkeit und vor Verfolgung – und zwar zu Recht!

Gott zieht seine Berufung angesichts von Jeremias Angst nicht zurück. Aber Gott nimmt Jeremias Angst ernst und setzt der berechtigten Angst sein göttliches Versprechen entgegen:

Jeremia, fürchte dich nicht vor den Reaktionen der Menschen.
Denn ich bin bei dir und werde es nicht zulassen,
dass Menschen dich mundtot machen
oder dass sie dein Leben endgültig zerstören.
Ich, dein Gott, will dich erretten!

Die Berufungsgeschichte des Propheten Jeremia ist eine einzigartige Geschichte. Kirchliche Berufungen sind mit Jeremias Berufung zum Propheten-Amt nicht zu vergleichen. Und alle anderen – etwa in einen Kader oder in ein Team - auch nicht.

Aber zwei Aspekte dieser Berufungsgeschichte scheinen mir doch von zeitloser Bedeutung zu sein für alle Menschen, die sich einer Begegnung mit Gott und mit seinem Wort stellen wollen und die ihre Lebenswege auch als Glaubenswege verstehen:

1. Die Begegnung mit Gott erfüllt Menschen nicht nur mit Stolz und Freude, sondern oft auch mit Furcht und Erschrecken.  
Und
2. Wenn Menschen dem Wort Gottes gehorchen, gehören sie nicht unbedingt zu den Siegertypen dieser Welt.

Zum Ersten:
Die Begegnung mit Gott erfüllt Menschen nicht nur mit Stolz und Freude, sondern oft auch mit Furcht und Erschrecken.  

Ich weiß nicht, ob es Ihnen auch so geht: Mich erschreckt der Gedanke, dass Gott mich besser kennt als ich mich selbst. Es ist mir wahrlich unangenehm, zu glauben: Gott weiß immer und überall, was ich gerade denke und fühle. Gott durchschaut alle meine Masken und alle meine großen und kleinen Schwindeleien. Er merkt es sogar, wenn ich mir selbst etwas vormachen will.

Und noch widerständiger ist mir der Gedanke, dass Gott mein Leben schon vor meiner Geburt vorgeplant haben könnte. Dass alle meine Entscheidungen nur Teil seines großen Planes wären. Dass meine Freiheit nur eine Illusion ist.

Die Vorstellung, dass Gott wie ein Marionettenspieler die Menschen nur an Fäden auf einer großen Weltbühne nach seinem Willen tanzen lässt, entspricht nicht meinem Gottesbild – und auch nicht dem Gottes- und Menschenbild der Bibel. Sonst wäre der Ruf zum verantwortlichen Leben sinnlos. Die Berufungsgeschichte des Jeremia ist also eine einzigartige Geschichte eines einzigartigen Propheten.

Und doch ist das Bekenntnis für den christlichen Glauben unverzichtbar:

Gott ist der Schöpfer und HERR der Welt und allen Lebens.
Gott hält auch den Anfang und das Ende meines Lebens in seiner Hand.
Gott hat die Macht, in die Geschichte der Welt und in die Geschichte meines Lebens wirkmächtig einzugreifen.

In diesem Glauben erfahren und erkennen wir: Die Rede von einem allezeit „lieben Gott“ wird Gottes Handeln und Gottes Willen nicht gerecht. Wir Menschen sollen Gott „fürchten und lieben“. Ohne Furcht und Ehrfurcht vor Gott werden wir zu leicht der Gefahr erliegen, uns ein Gottesbild nach unseren eigenen Bedürfnissen zu basteln. Ein Gottesbild, das uns zur eigenen Selbstrechtfertigung dient, das unseren alltäglichen Lebensstil nicht infragestellt, uns aber an Sonn- und Feiertagen mit angenehmen Gefühlen erfüllt.

Ein solches Gottesbild steht jedoch im Widerspruch zu dem Gott, der uns in der Bibel bezeugt wird. Und ein solches Gottesbild zerbröselt ganz schnell, wenn wir Krisen und Katastrophen erleben, wenn unsere Hoffnungen enttäuscht werden oder wenn wir uns unserem eigenen Versagen stellen müssen. Wenn wir unser Herz und unseren Verstand für Gottes Wort und für Gottes Geist öffnen, dann werden wir erfahren: Auch wenn die Begegnung mit Gott uns Menschen nicht immer  mit Stolz und Freude, sondern manchmal auch mit Furcht und Erschrecke erfüllt, bleibt wesentlich: Der lebendige Gott ist mit uns unterwegs, und zwar immer!

Und zum Zweiten:
Wenn Menschen dem Wort Gottes gehorchen, gehören sie nicht unbedingt zu den Siegertypen dieser Welt.

Wie schön wäre das: Wir hören Gottes Wort. Wir gehorchen dem Wort Gottes. Und im Gegenzug sorgt Gott dafür, dass unsere Pläne gelingen, dass unsere Wünsche und Sehnsüchte sich erfüllen, dass wir siegreich und erfolgreich durch das Leben gehen. Leider Gottes ist das aber nicht so. Leider Gottes lässt Gott seine Menschen ganz schön oft „im Regen stehen“, selbst wenn sie sich aufrichtig um sein Wort und um seine Gebote bemüht haben. Und selbst dann, wenn sie ihn aufrichtig und mit vertrauensvollem Herzen um seine Hilfe gebeten haben.

Mich bewegt es oft, wenn ich Fußballer sehe, wie sie sich vor dem Anstoß bekreuzigen und damit Gott wohl um ein siegreiches Spiel bitten. Und es mögen wohl auch bei diesen olympischen Spielen so manche Sportlerinnen und Sportler Gott um Kraft und Segen für ihr erfolgreiches Auftreten und Abschneiden gebeten haben. Ich hoffe und wünsche sehr, dass diese Athletinnen und Athleten dann beim Ausbleiben eines Sieges ihre Niederlage nicht als ein Zeichen der Nicht-Existenz Gottes bewerten oder als ein Zeichen ihrer Gottverlassenheit.

Gott sei Dank haben wir an Christi Leben, Sterben und Auferstehen erfahren können: Die Niederlagen, das Versagen, das Leiden und auch das Sterben von Menschen sind keine Zeichen für Gottes Ferne. Gerade in unseren schweren Zeiten und Stunden will Gott uns Menschen nahe sein. Und den Schwachen, den Gedemütigten und Erfolglosen gilt Gottes ganz besondere Liebe! Wenn wir unser Herz und unseren Verstand für Jesus Christus, Gottes lebendiges Wort öffnen, dann werden wir erfahren: Gottes Zuneigung gilt nicht in erster Linie den Siegern dieser Welt.

Liebe Gemeinde,
in der jüdischen Tradition gilt der Prophet Jeremia als der „Prophet der Tränen“, weil er mit seiner Botschaft den Menschen Israels Tränen gebracht hat. Aber Jeremias Botschaft zielte mit diesen Tränen doch auch auf Hoffnung, auf die tröstende und in der Katastrophe standhaltende Hoffnung: Die Gerechtigkeit Gottes will das Verhalten der Menschen nicht verdammen, sondern „zu-Recht“ rücken. Und Gottes Gericht will Menschen letztendlich nicht vernichten, sondern retten!

Der Schriftsteller Franz Werfel hat diese Hoffnung in seinem 1937 erschienenen Jeremia-Roman ganz eindrücklich so zum Ausdruck gebracht: In der Schlussszene des Romans irrt der Prophet Jeremia durch die Trümmerfelder der einst so schönen und stolzen Stadt Jerusalem. Im zerstörten Tempel findet er dann unter all dem Schutt eine Scherbe mit einem Satzfragment der 10 Gebote. Und Jeremia entziffert aus den Schriftzeichen dieser Scherbe die Verheißung: „…damit du lebest…“.

Damals galt es für Israel und heute gilt es für uns: Gottes Wort verspricht uns nicht immer ein leichtes und unbeschwertes Leben. Unsere Bindung an Gott und an sein Wort ist keine Garantie dafür, dass wir immer und überall zu den Siegern gehören. Aber Gottes Wort schenkt uns Hoffnung in unseren Krisen und Katastrophen, wenn uns Unrecht geschieht oder wenn wir über uns selbst und über unser eigenes Versagen verzweifeln wollen.

Denn in seinem lebendigen Wort Jesus Christus spricht Gott heute auch zu uns:

Fürchte dich nicht vor den Reaktionen von Menschen und Medien.
Denn ich bin bei dir und werde es nicht zulassen,
dass du selbst oder dass andere Menschen dein Leben endgültig zerstören.
Dein Leben ist letztgültig bei Gott bewahrt!

Amen