Unerledigte Anfragen an die Theologie - Dank für die Verleihung des Karl-Barth-Preises
Prof. Dr. Dr. h.c. Wolfgang Huber
Wartburg in Eisenach
Es gilt das gesprochene Wort.
1.
Welch ein eigentümliches Gefühl, auf der Wartburg den Karl-Barth-Preis verliehen zu bekommen! Die Nachricht, dass mir dieser Preis zuerkannt wurde, empfand ich als große Überraschung. Ich gehörte in früheren Jahren selbst zur Jury für diesen Preis und weiß, wie hoch die Schwelle dafür ist, ein früheres Jury-Mitglied auszeichnen. Umso größer ist mein Dank an die jetzigen Jury-Mitglieder Hans-Jürgen Abromeit, Hans-Adolf Drewes und Christiane Tietz sowie an das Präsidium der Union Evangelischer Kirchen und dessen Vorsitzenden Ulrich Fischer. Ich war und bleibe beschämt darüber, dass Nikolaus Schneider und Hans-Richard Reuter gemeinsam die Laudatio übernommen hatten, und bin betrübt darüber, dass Nikolaus Schneider heute nicht hier sein kann. Wie wir alle denke ich mit herzlichen Genesungswünschen an ihn. Sehr herzlich danke ich nun Ulrich Fischer und Hans-Richard Reuter dafür, dass und wie sie den Zusammenklang von Theologie und kirchenleitender Verantwortung als Thema meines Lebens herausgestellt und gewürdigt haben. Ich danke schließlich meiner lieben Frau Kara dafür, wie sie in all den Jahren den Spagat zwischen Theologie und kirchenleitender Verantwortung mitgetragen, manchmal ausgehalten, vor allem aber in Liebe gefördert hat. Denn im praktischen Leben bedeutete das zum Beispiel: viele Nachtschichten und Ferienzeiten dem Lesen und Schreiben zu widmen – und manches andere dazu. Ich danke auch den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, die mich auf diesem Weg auf vielfältige Weise unterstützt haben.
Verglichen mit früheren Jahren bin ich inzwischen so etwas wie ein „frei schaffenden Künstler“; der Karl-Barth-Preis hilft mir dabei, für weiteres Arbeiten im Dienst von Theologie, Kirche und Gesellschaft die nötige Unterstützung zu organisieren. Auch dafür bedanke ich mich sehr.
2.
Welch ein besonderes Erlebnis, den Karl-Barth-Preis auf der Wartburg entgegen zu nehmen! In Martin Luthers Zufluchtsort wird ein Preis verliehen, der den Namen Karl Barths trägt. Es hat etwas Einschüchterndes, wenn zwei theologische Riesen so miteinander verbunden werden. Tröstlicher Weise hatten sie beide die Größe, dem Wort Gottes alle Autorität zuzuerkennen und diese nicht für das eigene Wort in Anspruch zu nehmen: Das offenbarte, das geschriebene und das verkündigte Wort Gottes hatte wie für Martin Luther so auch für Karl Barth den Vorrang.
Für Martin Luthers Arbeit am Gotteswort war die Übersetzung des Neuen Testaments während der Zwangspause auf der Wartburg von zentraler Bedeutung. Einen wichtigen Durchbruch erlebte auch Karl Barth zwar nicht auf der Wartburg, aber doch im nahe gelegenen Tambach. Zwar weiß ich nichts von einer Barthschen Stippvisite auf der Wartburg während dieser Tage; vielmehr weiß ich nur, dass er die Anreise unterbrach, um in Frankfurt am Main den Zoo und eine Operette zu besuchen.[1] Aber der Vortrag, den er am 25. September 1919 in Tambach hielt, konfrontierte die kirchliche Öffentlichkeit in Deutschland zum ersten Mal mit dem Konzept einer „dialektischen“ Theologie.[2] Mit dem vorgegebenen Thema „Der Christ in der Gesellschaft“ war nach Barths Verständnis nicht gefragt, welchen Ort die Christen, sondern welchen Ort Christus selbst in der Gesellschaft hat.[3] Diese Linie hält Barths Thüringer Vortrag bis zum letzten Satz durch: „Was kann der Christ in der Gesellschaft anderes tun, als dem Tun Gottes aufmerksam zu folgen?“[4]
Kurz nach diesem Vortrag wandte Barth sich einem der schärfsten Theologiekritiker unter den Theologen zu, nämlich dem Baseler Professor der Kirchengeschichte Franz Overbeck. Die radikale Außensicht auf Theologie und Kirche, zu der Overbeck sich genötigt sah, interpretierte Barth im Sinn „unerledigter Anfragen an die heutige Theologie“.[5] Die tiefen Zweideutigkeiten der Christentumsgeschichte, die Anzeichen eines sanften Verlöschens des Christentums in der Gegenwart und eine Theologie, die sich darin erschöpft, Ausdruck eines „weltklug gewordenen Christentums“ zu sein – so lassen sich Overbecks Diagnosen wenden, die Karl Barth als unerledigte Anfragen an die Theologie versteht.
Sich theologisch auf eine Außensicht von Christentum und Kirche einzulassen, scheint mir auch heute an der Zeit zu sein. Theologische Herausforderungen entstehen nicht nur aus der Binnenreflexion der Theologie selbst; sondern sie ergeben sich aus gesellschaftlichen Entwicklungen, politischen Umwälzungen, kulturellen Erscheinungen, befremdlichen Fragen unbequemer Außenseiter. Soll die Kirche überlegte Zeitgenossenschaft üben und in der Vielstimmigkeit der Gegenwart ihren eigenen Ton zu Gehör bringen, ist sie dringend auf eine Theologie angewiesen, die sich den von außen kommenden „unerledigten Anfragen“ stellt und Antworten auf sie sucht. Auf diese Weise kann eine „öffentliche Theologie“ entstehen, die nicht nur Einsichten des christlichen Glaubens in säkulare Denkzusammenhängen der Gegenwart übersetzt, sondern die theologischen Provokationen wahrnimmt, die in den ungläubigen Anfragen zeitgenössischen Denkens enthalten sind.
3.
Diese Art von Fragen zuzulassen, gibt schon das Datum der heutigen Preisverleihung Anlass. Am 11. September sind wir hier im Festsaal der Wartburg zusammen, am elften Jahrestag der religiös motivierten und legitimierten Terroranschläge auf die Twin Towers in New York. Seitdem gilt Religion vor allem deshalb als ein großes Thema des 21. Jahrhunderts, weil sie bedrohliche Seiten annehmen kann. Die These, insbesondere der Monotheismus wirke gewaltfördernd, ist zu einem Selbstläufer geworden. Das öffentlich rezipierte Bild von Religion wird in unserer Zeit geprägt durch Selbstmordattentate und Gewaltausbrüche zwischen verfeindeten Gruppen unterschiedlicher Religion, durch religiös motivierte Herrschaftsansprüche und religiös gerechtfertigte Kriege. Verglichen damit steckt der Versuch, Religionen in der Absage an die Gewalt und in der Vision eines gerechten Friedens zu verbinden, noch in den Anfängen. Das Vorhaben, alle Formen der Gewalt strikt einer Ethik der rechtserhaltenden Gewalt zu unterwerfen, findet noch längst nicht die Resonanz, die für eine wirksame Korrektur des in der Öffentlichkeit vorherrschenden Bildes nötig wäre. Die schmerzhafte Lerngeschichte des Christentums in der Abwendung von einer religiösen Legitimation der Gewalt ist noch längst nicht so erzählt, dass sie die Menschen ergreift.[6] Noch immer hat sich nicht herumgesprochen, dass der Bezug des Menschen auf den transzendenten Gott ihn gerade daran hindert, „sich selbst zum Sprachrohr oder zum Schwert Gottes zu ernennen.“ Der theologische Disput muss deshalb heute der Frage gelten, wie der Glaube an Gott sich zu der „Anmaßung“ verhält, „in seinem Namen handeln zu können.“[7]
Das heutige Datum legt es nahe, die unerledigten Anfragen an die Theologie zu erwähnen, die sich aus dem Verhältnis von Religion und Gewalt ergeben. Doch andere Beispiele vergleichbar grundsätzlicher Art sind schnell bei der Hand: Die große Zukunftskrise, die gegenwärtig durch die Eigendynamik verselbständigter Finanzmärkte ausgelöst wird, wirft nicht nur wirtschaftsethische oder fiskalpolitische oder verfassungsrechtliche Fragen auf. Im Kern kommt eine theologische Frage ins Spiel, die freilich heute eher in glaubensferner Sprache als in der Sprache der Theologen formuliert wird. Der selbstreferentielle Geldkreislauf moderner Finanzmärkte, so beobachtet beispielsweise der Literaturwissenschaftler Joseph Vogl, wird mit Erwartungen begleitet, die der Hoffnung auf das Reich Gottes vergleichbar sind.[8] Hier kann die Theologie ihre Fähigkeit zur Kritik des Mythos unter Beweis stellen und den lebensdienlichen Sinn der Unterscheidung zwischen Gott und Geld demonstrieren.
Ähnlich groß ist die Herausforderung, um ein letztes Beispiel zu nennen, die sich mit der Entwicklung der modernen Lebenswissenschaften und den Auswirkungen moderner Medizintechnologien verbindet. Drei Viertel der deutschen Wohnbevölkerung, so behauptet eine dieser Tage veröffentlichte Meinungsumfrage, sprechen sich dafür aus, dass die ärztliche Beihilfe zum Suizid zugelassen wird – und zwar keineswegs nur in Fällen, in denen eine besondere, insbesondere verwandtschaftliche Nähe der Ärztin oder des Arztes zu einem Patienten gegeben ist.[9] Auch unter Christen – unter Protestanten noch stärker als unter Katholiken – wächst die Zahl derer, die eine „aktive Sterbehilfe“ bejahen. Das geschieht nicht nur aus der Furcht, dass der Einsatz intensivmedizinischer Maßnahmen bis zum letzten Atemzug unzumutbares Leiden auf unerträgliche Weise verlängert; sondern darin zeigt sich auch, dass eine von Dankbarkeit und Verantwortung bestimmte christliche Lebenshaltung alles andere als selbstverständlich ist. Die christliche Vorstellung vom Leben als einer Gabe, über die der Mensch nicht verfügt, hat für viele an Plausibilität verloren. Die Glaubensgewissheit, dass wir unser endliches Leben Gott verdanken, muss aufs Neue erschlossen werden. Das ist eine theologische Herausforderung von zentraler Bedeutung.
4.
Noch in anderer Hinsicht werden Fragen an die Theologie laut. Wie selten zuvor werden religiöse Riten in Frage gestellt. Ich brauche in diesem Kreis nicht zu erörtern, warum das Recht jüdischer und muslimischer Eltern geschützt werden muss, ihre männlichen Nachkommen beschneiden zu lassen – und warum sichergestellt werden muss, dass diese Beschneidungen nach den Regeln der ärztlichen Kunst erfolgen. Ich will vielmehr auf einen anderen Aspekt dieser Diskussion aufmerksam machen: Die These vom Vorrang der körperlichen Unversehrtheit vor Religionsfreiheit und elterlichem Sorgerecht, die diese Diskussion auslöste, kann leicht im Sinn einer Konkurrenz zwischen Religionsfreiheit und Selbstbestimmung weitergeführt werden. Dann würde das staatliche Recht für die Behauptung in Anspruch genommen, die Taufe von Kindern sei ein grundrechtlich nicht zulässiger Eingriff in das Selbstbestimmungsrecht der Person. Karl Barth hielt bekanntlich aus theologischen Gründen bis zuletzt an seinem Widerspruch gegen die Kindertaufe fest. Doch was wäre die theologische Antwort auf die Forderung, mit Rücksicht auf die Selbstbestimmung der Person die Taufe bis zur Vollendung des vierzehnten oder des achtzehnten Lebensjahrs zu verbieten? Kirche und Theologie sind offenbar gut beraten, die Fragen von Sakrament und Ritus theologisch intensiv zu bedenken, bevor es zu solchen Vorstößen kommt.
5.
Auch ökumenische Fragen stellen sich keineswegs nur von innen, sondern ebenso nachdrücklich von außen. In Europa lösen sich die geschlossenen konfessionellen Milieus weitgehend auf. Der Soziologe Hans Joas hat diese Feststellung unlängst mit der Beobachtung verbunden, dass sich ein „überkonfessionell christliches Milieu“ herausbildet.[10] Zugleich verstärkt sich die Präsenz nichtchristlicher Religionen, insbesondere des Islam; und die säkulare Option erhebt deutlich ihre Stimme. Auch dadurch relativieren sich die Unterschiede zwischen den christlichen Kirchen.
Durch diese Entwicklungen gewinnt der gerade veröffentlichte Aufruf „Ökumene jetzt“ seine Plausibilität. Christen katholischer wie evangelischer Konfession, die in Politik und Öffentlichkeit hohe Reputation genießen, wollen ihre Kirchen ökumenisch miteinander verbinden. Zwar mag es verwundern, dass der Beginn des ökumenischen Problems erst mit dem Jahr 1517 datiert wird, als habe es das Schisma zwischen Ost- und Westkirche gar nicht gegeben. Man wird heute von Ökumene in weltweiter Perspektive auch nicht mehr sprechen können, ohne die wachsenden indigenen und pfingstlerischen Kirchen in aller Welt zu bedenken. Gleichwohl bleibt richtig, dass es im „Land der Reformation“ eine besondere Verpflichtung dazu gibt, der erreichten kulturellen Nähe in einem gemeinsamen christlichen Milieu auch einen kirchlichen Ausdruck zu geben.
Aber was ist mit der Theologie? Stimmt die Aussage, dass für die dauerhafte Trennung der westlichen Kirchen Machtfragen wichtiger waren als Glaubensfragen? Spricht nicht schon die Glaubenstreue derer, die in fremdem Land Zuflucht suchten, eine andere Sprache? Die Reformation war in ihrem Kern darauf gerichtet, den einen christlichen Glauben neu zum Leuchten zu bringen. Diese ihre Intention sollte man nicht durch die These vom Vorrang der Machtfragen verdecken.
Noch eine andere theologische Rückfrage will ich nennen: Ausdrücklich erklärt der Aufruf, das Ziel, dass Kirchen sich wechselseitig in ihrem Kirche-Sein anerkennen, reiche nicht zu. Zugleich wird dieses Ziel als zwar notwendig, jedoch als zu klein erklärt. Doch es ist schwer vorstellbar, wie eine organisatorische Verbindung unter Umgehung einer Ökumene des wechselseitigen Respekts und einer darauf beruhenden Ökumene wechselseitiger Freundschaft entstehen soll – woraus sich dann eine Ökumene der Gaben oder der Charismen entfalten kann.
Ohne theologische Klärung, so scheint mir, bleibt der Blick in die Zukunft ebenso diffus wie derjenige in die Vergangenheit. Ein theologischer Blick auf das, was ökumenisch schon gelungen ist, enthält übrigens eine einfache Lehre: Ökumenische Fortschritte sind heute deshalb so schwer geworden, weil wichtige Verständigungen – über die Rechtfertigungslehre oder über die gemeinsame Anerkennung der Taufe beispielsweise – erreicht wurden. Nun gewinnen die Unterschiede vor allem im Amtsverständnis zentrale Bedeutung. Hier kommt die Bewährungsprobe für den Gedanken einer Einheit in Vielfalt oder einer Vielfalt in Einheit, von der Papst Benedikt XVI. schon 2005 sprach; vom Modell versöhnter Verschiedenheit ist dieser Gedanke nicht abgrundtief getrennt. Man muss daran allerdings theologisch weiter arbeiten. Nicht zuletzt die ökumenische Situation bildet ein Beispiel dafür, dass Kirchenleitung und theologische Reflexion zusammen gehören. Die heutige Preisverleihung – dazu noch im Rahmen der Konsultation über „Kirchenleitung und wissenschaftliche Theologie“ – sehe ich als eine Ermutigung für alle, die den Weg theologisch verantworteter Kirchenleitung und kirchlich verantwortlicher Theologie weiter gehen wollen.
Fußnoten:
1 Eberhard Busch, Karl Barths Lebenslauf. Nach seinen Briefen und autobiographischen Texten, München 1975, 122.
2 Karl Barth, Der Christ in der Gesellschaft, in: Ders., Das Wort Gottes und die Theologie. Gesammelte Vorträge, München 1925, 33-69 (36); abgedruckt in: Jürgen Moltmann (Hg.), Anfänge der dialektischen Theologie, Teil 1, München 1966, 3-36, sowie in: Karl Barth, Dialektische Theologie. Schriften I, hg. von Dietrich Korsch, Frankfurt (Main) / Leipzig 2009, 187-228.
3 Barth, a.a.O. 36 (Moltmann, a.a.O. 6; Barth, hg. von Korsch, a.a.O. 188).
4 A.a.O. 69 (Moltmann, a.a.O. 37; Barth, hg. von Korsch, a.a.O., 228).
5 Karl Barth, Unerledigte Anfragen an die heutige Theologie (1920), in: ders, Die Theologie und die Kirche. Gesammelte Vorträge, Bd. 2, München 1928, 1-25.
6 Vgl. Wolfgang Huber, Religion, Politik und Gewalt in der heutigen Welt, in: Karl Kardinal Lehmann (Hg.), Weltreligionen. Verstehen – Verständigung – Verantwortung; Frankfurt (Main) / Leipzig 2009, 229-251.
7 Vgl. Rolf Schieder, Sind Religionen gefährlich?, Berlin 2008, 88, sowie Hans Joas, Glaube als Option. Zukunftsmöglichkeiten des Christentums, Freiburg/Br. 2012, 175 f.
8 Josef Vogl, Das Gespenst des Kapitals, Zürich 2010, 94. Siehe dazu ausführlicher Wolfgang Huber, Gott, Geld und Glück, in: Das Plateau Nr. 127, Oktober 2011, sowie ders., „Keine anderen Götter“. Über die Notwendigkeit theologischer Religionskritik, in: Christoph Schwöbel (Hg.), Gott – Götter – Götzen. XIV. Europäischer Kongress für Theologie, Leipzig 2012.
9 So das Ergebnis einer von der Deutschen Gesellschaft für Humanes Sterben in Auftrag gegebenen Forsa-Umfrage, vgl. Presseerklärung der Deutschen Gesellschaft für Humanes Sterben vom 10. September 2012.
10 Hans Joas, Glaube als Option, a.a.O., 187-190. 198.