"Im Geist der Güte – Der kirchliche Beitrag zur sozialen Stadt". Gemeinsamer Jahresempfang in Brüssel

Ralf Meister, Landesbischof der ev.-luth. Landeskirche Hannovers

"Flanieren, ist eine Art Lektüre der Straße. Wobei Menschengesichter, Auslagen, Schaufenster, Caféterrassen, Bahnen, Autos, Bäume zu lauter gleichberechtigten Buchstaben werden, die zusammen Worte, Sätze und Seiten eines immer neuen Buches werden."

Verehrte Gäste,
so beschreibt Franz Hessel in seinem Buch, Ein Flaneur in Berlin, 1929, die Existenz des Städters.

Die Lektüre der Stadt

Vom Flaneur

Städtische Flaneure lernen die Städte zu lesen, indem sie aufmerksame Beobachter der Stadtlandschaften sind. Diese Lektüre ist jedes Mal neu. So als lernte man eine neue Sprache. Natürlich bewegt man sich sicherer, wenn man schon einmal lesen gelernt hat: S- Bahn-Fahrpläne und chaotischen Großstadtverkehr kennt, Einkaufsrummel und urbane Orte der Stille; aber dennoch sind die Sätze, die man lesen lernt, in jeder Stadt verschieden. Berliner Schnauze und metropolitane Großmannssucht, und der „Mittelpunkt-der-Republik- sein-wollen“; Wiener Schmäh und Habsburger Geist in österreich-ungarischer Lebensperspektive; mulitkulturell und vielsprachig, doch in royalem Selbstbewusstsein des Commonwealth in London. Jede Stadt spricht ihre eigene Sprache. Nicht nur in der Architektur und im Stadtplan, nicht nur in ihren sichtbaren Zeichen und ihrer Geschichte. Sondern auch in den Erfahrungen ihrer Stadtbürger. Tatsächlich unterscheiden sich Städte erheblich und nicht nur oberflächlich nach Größe und Geschichte. „Haben Städte eine Farbe?“ fragte das Bahnmagazin im Frühjahr 2005 die Reisenden und viele antworteten: Ja.

New York sei gelb, London rot, Paris blau und Berlin sei grün [1]. Die Sprachen sind von Stadt zu Stadt verschieden. In Berlin rennen die Menschen häufiger einer U-Bahn hinterher als in München, obwohl sie in München meist viel länger auf die nächste warten müssen. Die Worte Lust, Spaß und Arroganz werden nirgends so häufig in Internet-Suchmaschinen eingegeben wie in Hamburg, während sich Berliner für Melancholie, Faulheit und Kultur interessieren. Die Sprachen der Stadt sind Zeichen, die sich aus Gebäuden und Gebärden, Geschwindigkeit und Gesten genauso zusammensetzen wie aus Stimmungen und Störungen, die jede Stadt fortdauernd selbst produziert. Es sind nicht nur marginale Dialekte in den städtischen Sprachen, sondern sie bestimmen mit, wie Kindheit, Armut oder Migration jeweils unterschiedlich erfahren werden. Ob in Berlin, Zürich oder Moskau, sind die Erfahrungen, „Ausländer“ oder „Anarchist“ zu sein, völlig unterschiedlich.

Von den Christen

Das gilt übrigens auch für die Erfahrung Christ zu sein. In einer so entkirchlichten Stadt wie Amsterdam, in der weniger als 10% Mitglieder einer protestantischen Kirche sind oder in Ostberlin, wo in einigen Wohngebieten der 60er Jahre weniger als 3 % Kirchenmitglied sind, heißt die Identifikation als Christ, in einer ständigen Übersetzungsleistung für sein eigenes Wertesystems zu leben. In diesen Städten ist ein christliches Ethos oder der Habitus einer religiösen Frömmigkeit eine exotische Stadtmarkierung, manchmal mit dem Charme, anachronistisch und verdächtig zu sein.

Symbolisches Kapital

Dennoch bleiben die Kirchen im europäischen Kontext noch eine wichtige institutionelle Größe. Das hängt zum einen mit dem historischen Gedächtnis Europas, aber zum anderen auch mit der aktuellen symbolischer Repräsentanz zusammen. Die symbolische Repräsentanz wird an kulturprägenden Kirchenbauten von Westminster Abbey über Notre Dame bis zum Berliner Dom ebenso deutlich wie an den Kirchenfestzeiten unserer Jahre und Wochen, die den Lebensrhythmus der überwältigenden Mehrheit der europäischen Bevölkerung bestimmen.

Soziales Kapital

Zunehmend aber wird es in den säkularer werdenden Städten auch an der sozialen Kompetenz religiös Handelnder bemerkbar, die in den Stadtquartieren caritativ die Lebenswirklichkeit der Menschen verbessern. Das aktive Quartiermanagment der Kirchen sichert in vielen städtischen Bereichen eine notwenige soziale Infrastruktur. Es lässt mehr und mehr aufhorchen, dass das ehrenamtliche Engagement innerhalb der Kirchen weiter steigt, während es in anderen Bereichen stagniert oder eher schrumpft. Man muss es so knapp sagen: Religiöse Menschen haben eine ausgeprägte Verantwortung für das soziale Zusammenleben und die Stiftung des Gemeinsinns.

Die Stadt im Wandel

Der Großstadtdschungel

Diese Verantwortung ist besonders deutlich innerhalb der Städte zu spüren, weil es einen spannenden Wandel in der Bedeutung der Stadt durch die vergangenen Jahrhunderte gegeben hat. Zygmunt Bauman, der polnisch-britische Philosoph, hat an einen Bedeutungsverlust der Stadt erinnert, der zwar auch zu biblischen Zeiten schon existierte, sich in der modernen Stadtentwicklung aber weiter verschärfte [2]. Städte wurden gegründet mit dem Versprechen der Sicherheit. Der Schutz vor Gefahren war ein wichtiges Motiv, das zur Entwicklung von Städten geführt hat. Städte waren oft von riesigen Mauern oder Zäunen umgeben, von den Dörfern in Mesopotamien über das biblische Jericho bis zu den europäischen mittelalterlichen Städten markieren diese Grenzbefestigungen das „drinnen“ und „draußen“. Wir erinnern uns an die Stadtmauerreste, die wir in europäischen Städten von Berlin bis Brüssel finden, die genau diese Absicherungen des städtischen Gemeinwesen leisten sollten. Diese Mauern waren über Jahrhunderte eine Grenze zwischen den Räumen der Unsicherheit, Wildnis und dem Chaos der Natur auf der einen und der geordneten, gesicherten Welt innerhalb der Stadtumfriedungen auf der anderen Seite. Feinde mussten draußen vor den Stadttoren bleiben. Städte waren Orte relativer Sicherheit. Das hat sich mit dem explosiven Stadtwachstum der letzten 150 Jahre grundlegend verändert und verändert sich weltweit in einem dramatischen Tempo. Und kaum noch werden Menschen mit der Verheißung eines sicheren Lebens in unseren kulturellen Kreisen in die Städte gelockt werden.

Entgegen den ursprünglichen Absichten von Stadt-Erbauern und den Erwartungen von Stadtbewohnern sind Städte in den vergangenen Jahrzehnten von den Zufluchtsorten vor Gefahren zu einem unsicheren Lebensort geworden. Die jahrhundertealte Beziehung zwischen Zivilisation und Barbarei hat sich besonders außerhalb Europas teilweise gewandelt. Das Stadtleben wird zum Naturzustand, der von der Herrschaft des Schreckens gekennzeichnet ist und von allgegenwärtiger Angst begleitet wird.

Ich erinnere mit diesem Bild nicht zuerst an europäische Städte heute, die weitestgehend noch Horte sozialer Sicherheit und friedlichen Zusammenlebens sind. Ein Blick in die Megacitys weltweit wirft sofort ein anderes Bild. In Literatur und Film ist dieser Wandel längst angenommen; erinnern sie sich an den brasilianischen Film City of God (2002), der die brutale Wirklichkeit eines Slumviertels in Rio de Janeiro beschreibt. Aber auch in unserer Alltagssprache beschreiben wir die städtische Wirklichkeit oftmals als Großstadtdschungel. Eine Beschreibung für die Unsicherheit, in einer gefährlichen Umgebung zu leben. Eine Umgebung, in der man schrecklichsten Gefahren direkt ausgesetzt ist und keinen Überblick mehr gewinnt, welche Wege noch sicher sind. Das führt zu neuen Ordnungen innerhalb der Städte selbst. Welche Quartiere und Nachbarschaften können als relativ gesichert gelten, welche müssen gemieden werden. Es ist kein Zufall, dass man inzwischen auch innerhalb europäischer Städte den Begriff der „no-go-areas“ benutzt und sogenannte privat abgesicherte Stadtquartiere entstehen lässt, die als gated communities nichts anderes als „Schutzkäfige“ im Dschungel der Großstadt sein wollen. Der Dschungel teilt sich in bewohnbare, scheinbar sichere Orte und die Nischen für die Verlorenen.

Was in europäischen Städten heute die Ausnahme ist, durchliefen Paris und London, Manchester und Berlin im 19. Jahrhundert fast analog zu den heutigen Erfahrungen der Megacities im 21. Jahrhundert. Als europäische Städte die ersten arrrival-cities [3] waren, die Millionen von arbeitssuchenden Menschen aufnahmen, versprachen sie Arbeit und damit einen Lebensunterhalt; der oftmals auch für die große Familie galt, die am Heimatort geblieben war.

Wachstum - Schrumpfung

Die Stadt als uralte und zugleich hochmoderne Siedlungsform verspricht Freiheit und Glück und zieht weltweit jedes Jahr Millionen von Menschen in ihren Bann. Sie verlassen ländliche Regionen, um in Städten nicht nur einen Arbeitsplatz, sondern auch eine neue Heimat zu finden. Sie flüchten vor Dürre oder Verwüstungen ihrer Landschaften, sie suchen Schutz vor Verfolgungen oder Nischen zum Überleben und ziehen Tausende von Kilometern in der Hoffnung auf ein besseres Leben. Tag für Tag wandern 150 000 Menschen in die Städte dieser Welt. Alle fünf Tage entsteht ein neues Rotterdam, alle drei Monate ein neues New York. Angesichts der weltweiten Bevölkerungsentwicklung gibt es keine sinnvolle Alternative zur städtischen Lebensform für die Mehrheit der Menschen. Die Stadt ist die einzige Lebensform, die eine Chance bietet, mit den begrenzten bewohnbaren Flächen auf der Erde verantwortlich umzugehen.

„Die Menschen werden sich in einer großen, endgültigen Verschiebung vom Landleben und der Landwirtschaft wegbewegen und in die großen Städte gehen. Das ist die Entwicklung, die vom 21. Jahrhundert am deutlichsten in Erinnerung bleiben wird ...“ schreibt Doug Saunders in seinem Buch Arrival City. Die Verstädterung geht auch innerhalb Europas weiter. Schon jetzt leben in Deutschland fast 90% der Bevölkerung in Städten. Tendenz weiter steigend. Dabei natürlich nicht alle in deutschen Großstädten. Als der Begriff Großstadt Anfang des 19. Jahrhunderts zum ersten Mal verwendet wurde und für Städte mit mehr als 20.000 Einwohnern galt, gab es zu dieser Zeit nur zwei deutsche Städte mit mehr als 100.000 Einwohnern (Hamburg 128.000 und Berlin 198.000). Heute existieren mehr als 80 deutsche Großstädte mit mehr als 100.000 Einwohnern. Die größte deutsche Stadt Berlin ist im Ranking der Städte weltweit irgendwo auf den Plätzen zwischen 70 und 80 und wird weiter nach hinten durchgereicht. 2008 war der Zeitpunkt erreicht, an dem zum ersten Mal mehr als die Hälfte der Weltbevölkerung in Städten lebte.

Doch zugleich erleben wir in dieser städtischen Verdichtung eine Spannung in Teilen Europas, die zwischen Wachstum und Schrumpfung liegt.4 In Ostdeutschland haben wir seit 1990 eine Stadtschrumpfung erlebt, die in einigen Städten zum Verlust von über 30% Einwohnern innerhalb von 20 Jahren geführt hat (Fort/Lausitz, Wittenberge). In diesen Bereichen – die inzwischen nicht ausschließlich in Ostdeutschland zu finden sind - liegt angesichts der demographischen Entwicklung nicht nur eine städtebauliche Herausforderung, sondern vor allem die Aufgabe, eine soziale Infrastruktur zu entwickeln, die von den Stadtbürgerinnen und Bürgern verantwortlich mitgetragen wird. Bei der Gestaltung einer zukunftsfähigen städtischen Infrastruktur sind die Kirchen ein Partner, um die wesentlichen Herausforderungen der Generationengerechtigkeit und Familienfreundlichkeit zu bewältigen. Ich erinnere die Einweihung einer kleinen evangelischen Schule in der Stadt Schwedt an der Oder in Brandenburg oder die vielen konfessionellen Kindertagesstätten in Deutschland. Bei dem Ausbau von Bildungseinrichtungen stoßen Kommunen oftmals an ihre Grenzen. Kirchliche Strukturen sind hingegen häufig gut etabliert, um solche Infrastrukturprojekte durchzuführen und sie mobilisieren oftmals ein höheres ehrenamtliches Engagement in der Förderung und Unterstützung dieser Einrichtungen als es staatliche Einrichtungen vermögen.

Die Stadt als Gemeinschaft

Städte strengen an. Denn die große Verheißung des Stadtlebens lautet: wie gelingt das enge Zusammenleben mit dem Fremden? Und um eine solche enge Nachbarschaft mit all ihren Fremdheitserfahrungen zu ertragen, braucht es, wie Georg Simmel in seinem berühmten Essay über das großstädtische Leben vor 110 Jahren schrieb: Gleichgültigkeit, Blasiertheit und Intellektualität [5]. Eine seelische "Schutzschicht", die auch bei heftigen kulturellen Zumutungen und sozialen Gegensätzen weiterhilft. Man kann nicht in der Stadt überleben ohne gleichgültig zu werden. Niemand kennt in der Stadt alle Menschen und Orte, alle sozialen Notlagen und Netzwerke. Der Städter ist jedoch immer nur partiell gleichgültig. Seine Indifferenz gegenüber der gesamten Stadt wird immer wieder von positiven wie negativen Überraschungen gestört. Alle die Gesten der Barmherzigkeit und des Mitleids bei großen Katastrophen stiften genauso eine gesamtstädtische Identität, wie das Feiern städtischer Feste, die kollektive Trauer genauso wie der gemeinsame Stolz auf den Fußballverein. Sie alle zeigen die Vielfalt städtischer Gemütslagen, die punktuell über alle Grenzen hinweg, Identität stiften. Städte erschaffen großartige Erregungsgemeinschaften von Menschen. Für einige Augenblicke wird der Sieg der Fußballnationalmannschaft bei einer WM zum überwältigenden Verbrüderungsereignis, in Dortmund reicht die Meisterschaft des BVB. Ein Karneval versetzt eine Stadt in einen kollektiven Taumel oder für zwei oder drei Generationen prägen sich historische Ereignisse ins Stadtgedächtnis ein.

Städte bleiben in dieser Fremdheit die großen Schulen, in denen wir Respekt und Toleranz lernen, denn sie sind Orte von Gegensätzen. Lebenswelten, die attraktiv sind und zugleich gefährdet durch ihre Heterogenität. Die Antwort darauf aber heißt nicht Gleichgültigkeit; dann wäre die Stadt nicht mehr als die zufällige Koexistenz vieler Menschen. Die Antwort heißt Toleranz und bedeutet das mühsame Geschäft, mit dem Fremden auch die eigene Fremdheit zu achten. Gerade in benachteiligten Stadtteilen, wo viele Problemfelder sich überlappen, wie z.B. Arbeitslosigkeit, Armut und soziale Ausgrenzung, ist es wichtig, den gesellschaftlichen Zusammenhalt aller Bevölkerungsgruppen zu verbessern. Wenn sich eine soziale "Abwärtsspirale" abzeichnet, können Politik und Gesellschaft nur entgegenwirken, indem sie mit integrierten Entwicklungskonzepten die Ressourcen im Stadt- oder Ortsteil bündeln. So entstehen fachübergreifende Kooperationen, die aktiv in die Nachbarschaft hineinwirken. Die Evangelische Kirche bleibt einer der wichtigsten Partner in der Quartiersentwicklung, weil sie menschennah und mit hoher sozialer Kompetenz in der Gestaltung der Lebensräume mitwirkt.

Mein Ausflug auf einer Polizeiwache in Neukölln, Abschnitt 55 war eine Nacht mit Streifenfahrten in einem eng verdichteten Gebiet mit 80.000 Einwohnern, Migrantenanteil über 40%, alle Nationen. In acht Stunden eine Reise durch eine eigene Berliner Welt. Ein Mikrokosmos, der sich ab 2 Uhr morgens im viertelstündigen Rhythmus durch Einsätze wegen Ruhestörungen in seiner ganzen Vielfalt zeigte. Und der darin einerseits die Zumutungen einer nachbarschaftlichen Enge und andererseits die große Anzahl von Stadtneurotikern deutlich machte. Nachbarschaft kann penetrant werden. Doch wer sich in Neukölln umschaut, erkennt, wie gerade durch ihre religiöse Kompetenz die Kirche als moderierende Kraft in der Quartiersgestaltung eine wichtige, oftmals moderierende und ausgleichende Rolle spielt.

Vom Dorf zur Stadt

Das Stadtleben hat unser Zusammenleben und unsere Selbstwahrnehmung vermutlich tiefer verändert, als wir es uns eingestehen. Bis weit ins 20. Jahrhundert hinein waren die Bilder unseres seelischen Erlebens weitestgehend von der Natur bestimmt. Die dörfliche Welt war der Erfahrungskontext. Jeder Gedichte-Liebhaber wird wissen, wie die Großstadtlyrik Anfang des 20. Jahrhunderts etwas völlig Neues und Schockierendes beschreibt. Erich Kästner hat es einmal vor über 80 Jahren beschrieben:

Besuch vom Lande

Sie stehen verstört am Potsdamer Platz
Und finden Berlin zu laut.
Die Nacht glüht auf in Kilowatts
Ein Fräulein sagt heiser: „Komm mit, mein Schatz!“
Und zeigt entsetzlich viel Haut.
Sie wissen vor Staunen nicht aus und nicht ein.
Sie stehen und wundern sich bloß.
Die Bahnen rasseln. Die Autos schrein.
Sie möchten am liebsten zu Hause sein,
und finden Berlin zu groß.
Es klingt, als ob die Großstadt stöhnt,
weil irgendwer sie schilt.
Die Häuser funkeln, Die U-Bahn dröhnt.
Sie sind das alles so gar nicht gewöhnt.
Und finden Berlin zu wild.
Sie machen vor Angst die Beine krumm.
Und machen alles verkehrt.
Sie lächeln bestürzt. Und sie warten dumm.
Und stehn auf dem Potsdamer Platz herum,
bis man sie überfährt.
Erich Kästner

Die Stadt als Lektüre. Die Städte mit all ihren Zumutungen sind unser Schicksal, weltweit. Und sie bestimmen unser Bild des Zusammenlebens, unsere Wahrnehmung des Anderen und die Beschreibung von uns selbst.

Für die Kirchen in den Städten in unserer Kultur ergeben sich daraus besondere Verantwortungen für die Stadtgestaltung.

Dazu drei Punkte:

  1. Die Kirchen werden intensiver als bisher das Gespräch mit anderen Religionen führen müssen. Angesichts der multireligiösen Entwicklung in vielen Städten mit einer starken Zunahme nicht-christlicher Religionsgemeinschaften muss neben der theologischen Auseinandersetzung im Dialog der Religionen auch die gemeinsame Verantwortung für das städtische Gemeinwesen stärker betont werden. Welche sozialen Themen oder Kultur- und Bildungsfragen brauchen eine konzertierte Antwort und eine gemeinsame Stimme der Religion? Es geht dabei ganz praktisch um die Übernahme von Verantwortung, ein Dienst der Religionen an der Stadt. Um des Zusammenlebens der Menschen verschiedener Religionen willen gibt es keine Alternative zu einem Dialog der Religionen in der Stadt. In einem solchen Gespräch bündelt sich das Hoffnungspotential, Städte zu Orten zu verwandeln, die für alle Bürgerinnen und Bürger lebenswert sind, weil sie ihnen eine gerechte Teilhabe an den Gütern der Stadt ermöglichen. Das ist nicht nur ein politisches Geschäft, es ist zuerst das Handeln der religiös kompetenten Gesprächspartner vor Ort, der Kirchen.
  2. Vor fünf Jahren fand im Hamburger Museum in Berlin und in der Charité eine Ausstellung zum Thema „Schmerz“ statt. Womit begann sie? Mit Altarbildern und Begriffsklärungen aus der christlichen Tradition. Nicht die ältesten, aber die für unsere Kultur einflussreichsten Prägungen zum Thema Leiden und Schmerz, Klagen und Weinen, Heil und Trost stammen aus der jüdisch-christlichen Tradition. Längst sind sie in die Alltagskultur eingewandert und auch ohne religiöse Vorzeichen lesbar. Allerdings erleben wir zurzeit einen enormen Bildungsverlust in religiösen Dingen. Viele religiöse Bilder und Gebräuche sind nur noch von einer Minderheit zu dechiffrieren oder gelten als exotische Exponate in Museen. Die Kirche wird diese Säkularisierung religiöser Gebräuche und Zeichen kritisch und deutend begleiten. Sie wird an die Ursprünge dieser Zeichen erinnern müssen und auf die religiöse Innenseite verweisen. Altäre sind nicht nur eine vergangene religiöse Sprachform gewesen, auch heute noch sind diese Bilder Ausdruck innersten Erlebens und eine Repräsentation göttlichen Mitleidens mit den Menschen. Darin sind sie Trostspender und Gegenüber für Gebet, Trauer und Schmerz von Menschen. Darin sind sie die alten Landkarten für die Landschaft der Barmherzigkeit in der wir in Europa leben.
  3. Vor einigen Jahren habe ich eine Aufführung des Stückes „Berlin geht Baden“ im Berliner Grips-Theater gesehen. Ich habe viel dabei gelacht und über Berlin gelernt, aber auch viel Nachdenkliches erlebt. Es gibt in diesem Stück eine Szene, in der eine junge Frau ein Portemonnaie stielt. Ihr Freund mahnt sie: „Du darfst nicht stehlen!“. „Wer sagt das?“, fragt sie zurück. Diese kleine Szene zeigt zweierlei. Erstens, wie fragwürdig manche selbstverständlichen Dinge geworden sind. Stehlen ist ein extremes Beispiel. Aber eine ganze Reihe von gewohnten Dingen, die unsere Kultur prägten und das Miteinander von Menschen regelten, ist brüchig geworden. Ob Sonntagsruhe oder die Achtung vor dem Eigentum des anderen, selbstverständlich diese Haltungen schon sind lange nicht mehr. Das zweite, was diese Szene lehrt: Keiner beantwortet die Frage „Wer sagt das?“. Gott sagt es in den 10 Geboten. Eine Ethik, die zurückführt auf unsere Verantwortung vor Gott, ist für viele Menschen völlig abwegig. Hier liegt die Herausforderung für uns als Kirche. Es wird darauf ankommen, dass wir den Zusammenhang zwischen einer religiösen Begründung ethischer Positionen und ihren Auswirkungen in dieser Welt plausibler machen. Wenn man auf die Frage: „Was soll ich tun?“ keine Antwort mehr geben kann, oder wenn diese Antworten nicht mehr allgemein begründet werden können, zerfällt eine Gesellschaft.

Ich möchte mit diesen Beispielen verdeutlichen, dass mit den wachsenden Herausforderungen für öffentliche und private Institutionen die Bedeutung des Gemeinsinns, nämlich die gemeinsame Verantwortlichkeit für das Gemeinwohl an Gewicht gewinnt. Dabei ist die Schnittmenge zwischen kirchlichen, kommunalen und unternehmerischen Interessen in der Stadtentwicklung groß: Aufwertung von historischen Innenstädten, günstiger Wohnraum, energieeffiziente Gebäude, gute Bildungseinrichtungen, altersgerechte Infrastruktur, familienfreundliche Arbeitsstätten, ressourcenschonende Energieversorgung, um nur einige wenige Punkte zu nennen.

Auf Initiative der Kirchen und ihrer Wohlfahrtsverbänden wird ein Kooperationsprojekt unter dem Titel „Kirche findet Stadt“ durchgeführt. An 36 beispielhaften Standorten in Deutschland wird diese Schnittmenge zwischen Kirchen und Kommunen gemeinsam erörtert und Fragen der Stadtentwicklung werden kooperativ bearbeitet. Dabei leistet das Projekt einen wichtigen Beitrag zur Weiterentwicklung der Nationalen Stadtentwicklungspolitik – in dessen Kuratorium ich mitarbeiten darf - und unterstützt damit die Ziele der Leipzig-Charta von 2007 zur integrierten Stadtentwicklung.

Überall in Europa geht es um Strategien und neue Instrumente mit dem Ziel, die wirtschaftliche Prosperität von Städten zu sichern, ohne deren urbanen Qualität zu gefährden. Ebenso sind die Bewohner „europäischer geworden“ und ihre Mobilität und grenzüberschreitenden Erfahrungen haben zugenommen. Aktuell befinden wir uns mitten in den schwierigen Verhandlungen um den zukünftigen Haushalt der Europäischen Union und die Ausgestaltung der Strukturfonds. Die urbane Dimension in den Strukturfonds ist ein wichtiger Aspekt. In der Förderperiode 2007-2013 stellten zahlreiche Projekte im urbanen Raum mit kirchlicher Beteiligung eine Treibfeder für eine positive Stadtteilentwicklung dar. Ich hoffe, dass durch meine Ausführungen deutlich geworden ist, dass ich es sehr befürworten würde, wenn der Stadtentwicklung auch in dem neuen Förderzeitraum ab 2014 ein wichtiger Stellenwert zugedacht würde und dass die Kirchen bereit sind, ihre Verantwortung als Partner wahrzunehmen. Die Kirche wird in der Stadt auch weiterhin eine eigene, unverwechselbare Sprache sprechen. Und so bleibt für alle, die religiös ein wenig sprachbegabt sind, die große Hoffnung, dass sich Städte verwandeln lassen. Verwandeln in die gerechten und friedlichen Orte, von denen die Bibel erzählt. Wir als Kirchen wollen unseren Anteil dazu beitragen.

Ich danke Ihnen.


Fußnoten

  1. Martina Löw, Soziologie der Städte. Frankfurt 2008, S.9ff
  2. Zygmunt Bauman, Flüchtige Zeiten, Leben in der Ungewissheit. Hamburg 2008, S. 108
  3. Doug Sanders, Arrival City. München 2011, S.7
  4. Walter Prigge in: Schrumpfende Städte, Internationale Untersuchung Bd.1. Ostfildern 2005, S. 42-47
  5. Georg Simmel, Die Großstädte und das Geistesleben. 1903