Der Auftrag der Kirchen im sich vereinigenden Europa

Manfred Kock

Evangelischen Akademie in Graz

Die Vision eines „Europa mit menschlichem Gesicht“ leitet die Menschen und auch die kirchliche Arbeit seit Jahren. Vierzig Jahre lang war die Grenze durch Deutschland reales Symbol der Trennung der Welt in zwei Teile. Diese Grenze hat viele in unserer Kirche nicht davon abgehalten, Schritte auf dem Weg der Begegnung und der Versöhnung zu suchen. Und sie fanden jeweils auf der anderen Seite der Grenze Partner, die das verstanden haben.

Europa war dabei kaum ein eigenes kirchliches Thema. Erst seit dem Fall der Mauer ist die Herausforderung deutlich geworden. Der europäische Einigungsprozess darf nicht nur ökonomische, er muss auch kulturelle und historische Zusammenhänge berücksichtigen. Die Evangelische Kirche in Deutschland hat nach der Vereinigung des Landes ihren besonderen Auftrag auch darin gesehen, die Einigung Europas nicht auf die westeuropäischen Länder zu beschränken, sondern die östlichen Nachbarn einzubeziehen und dabei das kulturelle Erbe und die geschichtliche Verpflichtung aus den schrecklichen Erfahrungen der Zeit des Nationalsozialismus und des Realsozialismus in den europäischen Einigungsprozess einzubringen.

Inzwischen ist die Entscheidung wohl gefallen, weitere östliche Nachbarn der EU beitreten zu lassen. Das ist auch in erster Linie ein ökonomisch bedeutender Vorgang. Er ist Ausdruck der gemeinsamen kulturellen Verantwortung, die wahrzunehmen ist als eine Kraft für künftiges, friedliches Zusammenleben in unserem Europa, das eine jahrhundertelange Geschichte von Kriegen hinter sich hat. Es ist zu hoffen, dass dieser Prozess weiter entwickelt wird. Eine Rückkehr in nationalstaatliche Politik hätte verheerende Folgen. Die Landessynode der Evangelischen Kirche im Rheinland hat im Jahre 1996 in einem Beschluss mit dem Titel „Europa mitgestalten - Auftrag für Christen, Gemeinden und Kirchen“ gesagt:

„Christen und Kirchen, die sich zur Verheißung einer neuen Schöpfung als Bestandteil ihres Glaubens bekennen, haben die Aufgabe, ihre Vision einer gerechten, friedlichen und bewahrten Welt in die Gestaltung des neuen Europa mit einzubringen.“

So soll mein theologischer Leitgedanke lauten, der uns aufmerksam sein lässt für die Beachtung der europäischen Prozesse.
Dabei ist vor allem auf folgende Frage zu achten:

  1. Wie kann verhindert werden, dass Europa ausschließlich vom Geist der Ökonomie bestimmt wird?
     
  2. Wie kann europäische Politik die Nachhaltigkeit unserer Wirtschaftsform gewährleisten und so die Verantwortung für kommende Generationen wahrnehmen?
     
  3. Welche politischen und ökonomischen Maßnahmen helfen zu einer gerechteren Weltwirtschaftsordnung, damit das Armuts- und Hungergefälle sich nicht explosiv in einer Elendsflucht aus Armutsregionen entlädt.
     
  4. In welche Koordinaten und welchen Kontext gehört eine christliche Sozialcharta für Europa, die verhindern hilft, dass Europa zur Wohlstands-Festung erklärt wird?
     
  5. Welche Konturen muss eine von der Europäischen Haftungsgemeinschaft entworfene und in ihren Mitgliedsländern praktizierte Flüchtlings- und Einwanderungspolitik haben?

Die Zuspitzung der kirchlichen Aufgaben für Europa auf diese Fragen macht deutlich: Es geht nicht um europäisch﷓abendländische Restauration. Die blutige Geschichte Europas zeigt, dass die christlichen Kirchen nicht schon automatisch Herz und Seele für Europa gewährleisten. Das menschliche Gesicht Europas bedarf der nüchternen Erkenntnis, dass triumphalistische Dominanz christlicher Provenienz auch mit dem dunklen Schicksal Europas verwickelt ist.

Europa ist älter als die Kirchen, es schließt germanisches, jüdisches und slawisches Erbe ein; die römische und griechische Antike und die arabisch﷓sarazenische Kultur haben ebenfalls den europäischen Entwicklungsstrom gespeist.

Die christlichen Kirchen können einen Beitrag zur Entwicklung und Wahrung von Frieden und Gerechtigkeit in Europa leisten, wenn sie sich auf die Mitte ihrer Botschaft besinnen, denn aus ihr kommen Offenheit und  Versöhnungsfähigkeit. Die Kirchen müssen dabei helfen, dem Missbrauch von Religion zu wehren. Das ist gerade in diesen Monaten eine herausragende Aufgabe.

Auch gegenwärtig gibt es noch blutende Teile Europas, die sich konfessioneller Gegensätze bedienen, um Gewalt und Terror ideologisch zu begründen. In Nordirland sind es die katholischen und protestantischen Traditionen; in den Ländern des ehemaligen Jugoslawiens ist es im Augenblick unter dem Schild des multinationalen Militäreinsatzes einigermaßen ruhig, aber dort sind es in erster Linie römisch﷓katholische und orthodoxe Herkünfte, die gegeneinander und in Spannung zu moslemischen Traditionen stehen.

Ethnische Konflikte können jederzeit ausbrechen. Ein Zusammenwachsen wird nur möglich sein, wenn Rücksicht auf die Vielfalt genommen wird. So wie das protestantische Verständnis von Ökumene von einer Einheit in der Vielfalt ausgeht, so ist auch eine politische Einheit nur denkbar, die unterschiedliche Kulturen und Lebensformen respektiert. Wo solche Unterschiede zum Hebel für ökonomische Ungleichheit,  zum Ausschluss von politischer Teilhabe oder zur Kompensation von Unsicherheit und Minderwertigkeitskomplexen genutzt werden, da geschieht Missbrauch der kulturellen und religiösen Herkunft.
Was können die Kirchen auf diesem Hintergrund zu einem Europa der Zukunft beitragen?

Das Wesentliche dieser Thematik will ich in drei Schritten zusammenfassen:

1. Versöhnung in Europa

Was die christlichen Impulse angeht, so ist Europa im Osten in byzantinisch orthodoxer, im Westen in römisch﷓katholischer und reformatorisch-protestantischer Ausformung geprägt worden. Die durch die Jahrhunderte hindurch entwickelten unterschiedlichen konfessionellen Räume sind bis in unsere Gegenwart spürbar. Sie beeinflussen ﷓ verbunden mit den Wirkungen der neuzeitlichen Aufklärung ﷓ die Kultur und das Lebensgefühl der Menschen bis heute. Hinzu kommt die wesentliche Prägung, die das Judentum für Europa geleistet hat.
Das Wachsen der Europäischen Union lenkt auch den Blick auch besonders auf den Beitrag des Islam zur Kultur in Europa. Inzwischen leben etwa 15 Mio. Muslime in Europa, in Deutschland sind es mehr als 3 Millionen.

Kontakte zu muslimischen Gemeinden haben sich in der Zeit nach der Erschütterung durch die Attentate vom 11. September 2001 bewährt. Doch wir sind erst Anfänger im Dialog mit den Muslimen. Vielerorts  lähmen Unsicherheiten über die eigene christliche Identität die Integrationskraft, man bewegt sich lieber im eigenen Milieu. Doch unser evangelisches Gemeindeleben darf weder von Abschottung noch von Beliebigkeit geprägt sein. Wir müssen in unseren Gemeinden mehr für die Vergewisserung unserer Identität tun. Erst dann werden wir auch die Bereicherungen durch die Anwesenheit anderer Religionen in unserem Land entdecken können. „Statt einem Kampf der Kulturen das Wort zu reden, sollten wir einen Kampf um Kultur aufnehmen.“  – heißt es in der Kulturdenkschrift der EKD, die wir kürzlich veröffentlicht haben.

Der Dialog mit Muslimen ist nicht einfacher geworden. Wer im Islam für wen eigentlich verbindlich sprechen kann, dies bleibt nach wie vor unklar. Uns begegnet bei einem Teil der Muslime Gesprächsbereitschaft, andere schotten sich völlig ab. Es gibt in der Öffentlichkeit Stimmen, die von prinzipieller Unfähigkeit des Islam zum Dialog sprechen.

Der Historiker Hans-Ulrich Wehler hält die muslimisch-türkische Diaspora für „im Prinzip nicht integrierbar“ (Interview in der TAZ v. 10.9.92). Der Orientalist Hans-Peter Raddatz warnt davor, die Gewaltbereitschaft und den Hass auf die sog. „Ungläubigen“, dazu rechnen Juden und Christen, nur den Fundamentalisten zuzuschreiben und sich für den offiziellen Dialog einer „Islam-Fiktion“ zu bedienen (so in der WELT v. 11.9.02). Andere weisen hin auf Imame in Moscheen und Lehrer in den Koranschulen, die Hass auf die Welt des Westens gepredigt hätten und sich als Basis ihres Erziehungsprogramms des Wahhabismus bedienen, der seine machtvolle Realisation in der saudi-arabischen Herrscherdynastie habe.

So nachdenklich solche Stimmen machen können, sie tragen zur Lösung unseres Integrationsproblems in Europa nicht bei. Wir haben zum Dialog keine Alternative. Er ist der einzige vorstellbare Weg in die Zukunft. Bei diesem  Dialog darf jedoch nicht der Fehler gemacht werden, die verschiedenen religiösen Herkünfte für bedeutungslos zu erklären. Nivellierung und Assimilation sind keine Lösung.

Bei allen Begegnungen mit Muslimen sind unsere Gesprächsfähigkeit und unsere kritische Wahrnehmung gleichermaßen gefragt.  Erfahrungen aus der Geschichte unserer Kirche und unseres Landes, die wir  zu ganz wesentlichen Teilen der Reformation und der Auseinandersetzung mit der Aufklärung verdanken, haben wir in die Gespräche mit den Muslimen einzubringen.

  • Dazu gehört, dass wir die organisatorische Trennung von Kirche und Staat befürworten und in der Partnerschaft von Staat und Kirche ein bewährtes Modell gefunden haben, das der Freiheit des Glaubens dient und zugleich der Gesellschaft Nutzen bringt.
     
  • Dazu gehört, dass wir staatliche wie geistliche Autorität relativieren und gegen die Ansprüche der Gemeinschaft persönliche Freiheit und die Prinzipien des Rechtsstaats als Grundlage des demokratischen Zusammenlebens befürworten.
     
  • Dazu gehört, dass wir das Gewaltmonopol des Staates anerkennen.
     
  • Dazu gehört, dass die Freiheit des Einzelnen immer mit der Bereitschaft zur Verantwortung verbunden sein muss.
     
  • Dazu gehört das Eintreten für die Gleichstellung von Männern und Frauen.
     
  • Dazu gehört, dass wir uns aus christlicher Überzeugung für Benachteiligte, für gerechte soziale Strukturen, die Förderung des Friedens und die Bewahrung der Schöpfung einsetzen.

Die Aufgabe, Völker und Kulturen in Europa zu versöhnen, erfordert viel Kraft, aber Versöhnung, Freiheit und Gerechtigkeit gehören zum Wesen der christlichen Botschaft. Wir haben daher von unserem Selbstverständnis her die Pflicht, unseren Beitrag dazu in den Bereichen von Ethik, Kultur, Bildung, Politik und Wirtschaft in den Dialog einzubringen. Dabei kann der Protestantismus im europäischen Einigungsprozess mit der im biblischen Zeugnis wiederentdeckten evangelischen Freiheit einen spezifischen Beitrag leisten: „Ein Christenmensch lebt nicht in sich selbst, sondern in Christus und in seinem Nächsten, in Christus durch den Glauben, im Nächsten durch die Liebe“ (so: Martin Luther in „Von der Freiheit eines Christenmenschen“ 1520).

Die Kirchen können den Völkern Europas auch zeigen, wie sie im Kontext der Versöhnung über Sünde sprechen, wie sie also umgehen mit der Geschichte ihrer Spaltung.

  • Mit ihrer Spaltung liefern die Kirchen ein negatives Bild. Spaltung schwächt die Glaubwürdigkeit ihres Auftrages. Solange die Kirchen die gewachsenen Unterschiede aggressiv gegeneinanderstellen oder die unterschiedlichen Herkünfte zur ideologischen Waffe für den Kampf zwischen Wirtschaftsinteressen missbrauchen lassen, sind sie Hindernis im europäischen Einigungsprozess.
     
  • Die Einigungsschritte der Kirche sind daher Ausdruck einer Bußbewegung, die auf eine Gemeinschaft der versöhnten Verschiedenheit zielt. Die reformatorischen Kirchen haben in der Leuenberger Konkordie einen Standort für Gesprächspartnerschaft mit den beiden anderen Konfessionsfamilien gefunden. Es gibt Hoffnungszeichen für die weitere Entwicklung. Rückschläge dürfen uns nicht entmutigen. Die Charta Oecumenica ist ein solches Ziel.
     
  • Viele Kirchen in Europa haben sich an kolonialistischer Beherrschung beteiligt, haben legitimiert, wenn in der Welt Kulturen zerstört wurden, und haben geschwiegen, wenn die Ausrottung von Menschengruppen in Kauf genommen wurde. Ein „Überlegenheitswahn“ europäischer Völker sichert bis heute die Herrschaft über die Reichtümer und Märkte anderer Völker.
    Dass die Kirchen zur Umkehr bereit sind, zeigt sich heute im Kampf gegen den Hunger in der Welt und im Einsatz für Gerechtigkeit, den viele Kirchen leisten und bei den Regierungen ihrer Länder einfordern.
     
  • Bußbedürftig sind die Kirchen auch im Blick auf das Verhältnis von Männern und Frauen. Die Kirchen haben über Jahrhunderte in patriarchalischen Strukturen gelebt und darin das gesellschaftliche Leben geprägt. Trotz eines unübersehbaren Wandlungsprozesses gibt es nach wie vor Diskriminierung, ungleiche Bezahlung, falsche Lastenverteilung und unzureichende Beteiligung an Leitungsverantwortung. Die Kirchen haben ihre Beteiligung daran wahrzunehmen und ihre Erfahrungen des ökumenischen Prozesses der Gerechtigkeit im Zusammenleben von Männern und Frauen einzubringen.
    Dabei hat der Europäische Protestantismus einen besonderen Beitrag einzubringen und durchzuhalten, nämlich die erreichte Stellung der Frau im Hinblick auf das geistliche Amt.
     
  • Bußbewegung bezieht sich auch auf die Verfehlungen gegenüber dem Auftrag, die Schöpfung Gottes zu bewahren. Der Auftrag der Heiligen Schrift, sich die Erde untertan zu machen, wurde als Recht zur Unterwerfung missverstanden. Die Folgen sind noch unübersehbar.
    Die Kirchen in Europa sind diese Bußbewegung schuldig.
    Buße ist „kein Ersatz für Gerechtigkeit und Wahrheit“ (Schlussdokument von Graz, 1997), sondern die Voraussetzung.

2. Soziale Gerechtigkeit in Europa

Die mit dem Stichwort „Globalisierung“ gekennzeichnete Wirtschaftsentwicklung darf die Sozialpflicht ökonomischen Handelns nicht außer Kraft setzen. Der große Theologe, Sozialwissenschaftler und Jurist Oswald von Nell﷓Breuning hat gesagt: „Die Wirtschaft ist für den Menschen da, und nicht der Mensch für das Wohlergehen der Wirtschaft“.

Der Markt ist nicht wahr. Es gibt Kartelle und Absprachen ﷓ oft heimliche und kaum nachweisbare. Der Markt ist vor allem fiktiv, weil er nicht alle Kosten von den Unternehmen tragen lässt. Oft werden vielmehr Verluste, die nötige Infrastruktur und vor allem die ökologischen Folgen des Wirtschaftens der Allgemeinheit aufgebürdet. Die kapitalistische Wirtschaft in Europa braucht Zähmung. Christliche Kirchen haben daran zu erinnern: der Mensch ist nicht Eigentümer, sondern Treuhänder der Erde. Aber die Globalisierung macht die Welt zu einem einzigen Markt.

In schwieriger und schmerzhafter Weise wird dies gegenwärtig auch in den osteuropäischen Gesellschaften spürbar, dass viele Menschen, ja ganze Berufsstände und Regionen an den Rand der ökonomischen Entwicklung gedrängt werden. Von den Erfolgen der ökonomischen Entwicklung profitieren also keineswegs alle gesellschaftlichen Bereiche.

In dieser Situation ist es nötig, dass die Kirchen sprechen. Dabei geht es nicht um kirchliche Interessen, sondern um die verbindende Kraft der Botschaft: „Du bist nicht für dich selber da!“
In den ökonomischen Entwicklungen sind die Kirchen Fürsprecher für das Leben, für das leidende, sterbende und behinderte Leben. Die Botschaft von der Erlösung Christi macht zur Hoffnung fähig. Sie entlastet, denn sie lässt auch Vorletztes aushalten.

Die Bibel hat nicht nur das Heil der Menschen im Blick, sondern auch ihr Wohlergehen. Daher müssen die Kirchen einfordern, was Europa braucht: internationale ökologische und soziale Schutzmaßstäbe. Durch ihre ökumenischen Verbindungen über die Grenzen hinaus müssen die Kirchen auch in der Lage sein, die internationale Verantwortung zu stärken.

3. Aspekte der Friedensethik

In diesem Feld sind die Gemeinsamkeiten der Kirchen besonders groß. Ihre Zusammengehörigkeit überschreitet die Grenzen zwischen den Völkern. Der Friede, „der höher ist als alle Vernunft“, kann Menschen wieder zu Gott und zueinander führen. Das zu bezeugen ist zentrale Aufgabe. Dieses Zeugnis sind die Kirchen den in Europa zusammenwachsenden Nationen schuldig. Die Kirchen müssen Räume schaffen für die Opfer von Konflikten, müssen einstimmen in ihre Klagen, müssen die Verbrechen beim Namen nennen und sich für die rechtliche Behandlung von Verbrechen durch nationale und internationale Gerichtsbarkeit einsetzen.

Sie haben dafür einzutreten, dass die Sicherheitspolitik weiterentwickelt wird und den Nationalstaaten die Fähigkeit nimmt, eigenständig Kriege zu führen. Wir müsen darauf bestehen, dass der ‘prima ratio’, also der politischen Konfliktlösung, höchste Priorität beigemessen wird, damit so selten wie möglich zur Gewalt als ‘ultima ratio’ gegriffen werden muss. Darum ist es nötig die Fixierung der Politik auf die militärischen Optionen der Konfliktlösung, insbesondere der Terrorbekämpfung zu überwinden. Darum sage ich: Europa muss seine Sicherheitspolitik darauf ausrichten. Seine Sicherheitssysteme sind auf friedenserhaltende und friedensfördernde Aufgaben zu konzentrieren.

Jacques Delors prägte den Satz: „Europa fehlt ein Herz und eine Seele“. Diesen Satz verstand er als eine Aufforderung an die Kirchen, sich aktiver an der intellektuellen und spirituellen Debatte über die Zukunft Europas zu beteiligen. Die Kirchen haben eine jetzt 50jährige ökumenische Erfahrung, sie haben zur Zeit der Spaltung Europas über die Mauer hinweg über Jahrzehnte Kontakte gewahrt. Diese müssen heute verstärkt fortgesetzt werden.

Mit der Erweiterung stellt sich für die EU zugleich die Aufgabe, dafür Sorge zu tragen, dass Menschen und Völker jenseits dieser Grenzen nicht aus der Solidarität ausgeschlossen werden. Die Frage, wer zu Europa gehört und wer nicht, darf das Klima untereinander nicht vergiften.

4. Was können wir hierfür gemeinsam tun?

Zum einen sind vorhandene Instrumente der ökumenischen Zusammenarbeit in Europa zu stärken. An erster Stelle nenne ich die Konferenz Europäischer Kirchen mit ihren verschiedenen Arbeitsebenen. Dabei ist die ständige Arbeitsgruppe von KEK und CCEE besonders wirkungsvoll. Darüber hinaus ist das Gespräch zwischen den Kirchen westlicher und östlicher Tradition weiter fortzuführen. Hier ist insbesondere auch die dringende Aufgabe zu erwähnen, die auf der Ebene des Ökumenischen Rates anzugehen ist, die Beziehung der orthodoxen Kirche zu den westlichen Kirchen weiter zu bessern. Das Verhältnis der vor allem russischen Orthodoxie zum ÖRK ist angespannt. Die im Zentralausschuss gefundenen Kompromisse sind unbefriedigend und gehen hinter erreichte Übereinstimmungen zurück. Ich hoffe, dass auf der Basis der jetzt gefundenen Zwischenergebnisse doch ein neuer Impuls zu mehr Gemeinsamkeit entwickelt werden kann.

Aber es reicht nicht, dass in Europa nur „offizielle“ kirchendiplomatische Handlungsebenen bestehen. Darüber hinaus ist es wichtig, Versöhnungsprojekte zu fördern und zu initiieren. Viele vorhandene Aktivitäten gilt es zu verbinden und zu vernetzen; neue, den Spannungslagen bestimmter Regionen und Traditionen angemessene Versöhnungsinitiativen sind anzustoßen. Dies gilt insbesondere für die Kirchen und Religionen im ehemaligen Jugoslawien. Auch in den vergangenen Jahren der Krisen und Kriege hat die EKD ihre Kontakte zu evangelischen und orthodoxen Kirchen in der Bundesrepublik Jugoslawien (Serbien) und zu dortigen gesellschaftlichen und humanitären Organisationen gehalten und ausgebaut. Bei der Größe der Aufgabe ist aber eine Kirche überfordert. Wir begrüßen daher das SEEEP-Programm (South East European Ecumenical Partnership) des ÖRK und der KEK. Die Charta Oecumenica beschreibt im Teil III. 7 die Ziele der ökumenischen Zusammenarbeit: „ ... der Gefahr entgegentreten, dass Europa sich zu einem interessierten Westen und einem desinteressierten Osten entwickelt. ... Zugleich ist jeder Eurozentrismus zu vermeiden.“

Wenn das kirchliche Handeln in die europäische Dimension ausstrahlen soll, muss es dafür geeignete Regelungen und Strukturen in der Europäischen Union geben. Daher sind die Beratungen des „EU-Konvents zur Zukunft der Europäischen Union“ für die Kirchen von großer Bedeutung. Wichtig ist, dass die Kirchen hier mit einer Stimme sprechen und sich Gehör verschaffen. Sowohl innerhalb der KEK als auch mit der katholischen Kirche (COMECE) besteht ein hohes Maß an Übereinstimmung. Vornehmlich geht es darum, dass die volle Religionsfreiheit und die Autonomie der Kirchen in der Europäischen Union gesichert werden.
Daher legen wir Wert darauf, dass in dem geplanten Vertragsgefüge ausdrücklich festgeschrieben wird, dass das Staatskirchenrecht in der Zuständigkeit der Mitgliedsstaaten verbleibt. Auch sollte die in Nizza 2000 proklamierte „Charta der Grundrechte in der Europäischen Union“ - trotz mancher Mängel aus kirchlicher Sicht - in das geplante Verfassungswerk integriert und rechtsverbindlich gemacht werden.

Es wird darauf ankommen, dass die Kirchen in Europa sich gegenseitig über die Situation in ihren Kirchen und Ländern unterrichten und zu Wegen finden, gemeinsame Vorstellungen und Strategien zu entwickeln. Lassen Sie uns diese Zusammenarbeit stärken und nutzen für ein freies und friedliches Zusammenleben in Europa.

Unser Beitrag dazu hat je mehr Bedeutung, desto klarer wir kenntlich machen, welche Beziehung wir zum Grund unsere Glaubens haben.

Diese Grundlage, dieses Fundament brauchen wir, wenn es um die Frage nach der Würde des Menschen geht, die für uns in dem Christus abgebildet ist. Diese Würde müssen wir auch an den Grenzen menschlicher Existenz wahren, wo das Leben beginnt und wo es endet. Wie der Mensch mit seiner Lust und seinem Leid, mit Gesundheit und Krankheit, mit Geburt und Tod umgehen kann, das ist ohne diese Grundlage nicht zu beantworten. Eine Gesellschaft, die nach der Grundlage ihres Menschenbildes nicht mehr fragt, stirbt an Verantwortungslosigkeit. Jedenfalls gibt es neben der Botschaft von Gottes Liebe in Jesus Christus nicht sehr viele Ressourcen, die sich als fähig erwiesen haben, der Bedrohung der Menschenwürde standzuhalten.

Die Treue zu dem Grund, auf dem wir stehen, ist alles andere als Restauration; Grundsatztreue läßt sich nach evangelischem Verständnis nur wahren im „aggiornamento“, in der Vergegenwärtigung des Christuszeugnisses. Dies widerspricht allem Fundamentalismus. d.h. jener aufklärungsfeindlichen Haltung, die sich hinter den Mauern vereinfachter Dogmen verschanzt und mit Unduldsamkeit und Rechthaberei alle Dialoge abbricht und je nach Neigung zum Fanatismus auch vor psychischer oder physischer Gewalt nicht zurückschreckt.

So fasse ich unser Ziel zusammen:

  • Die Kirchen wollen aktiv am Zusammenwachsen Europas mitwirken und wünschen darum, dass sie die Möglichkeit erhalten, durch regelmäßige Konsultationen an den politischen Prozessen auf Gemeinschaftsebene teilzuhaben.
     
  • Die Kirchen wollen konstruktiv zu einer gemeinsamen Wertebildung der Union beitragen. Sie sehen in den Grundrechten einen unverzichtbaren Eckstein des europäischen Wertbewusstseins. Darum setzen sie sich nachdrücklich dafür ein, die Grundrechtscharta der Europäischen Union in einen neuen Vertragstext aufzunehmen und damit rechtsverbindlich zu machen.

Die Kirchen begrüßen, dass sich die EU zu ihren religiösen und kulturellen Wurzeln bekennt. Freilich ist zu wünschen, dass der Anteil des Christentums an der Prägung Europas in der Präambel eines künftigen Unionsvertrages deutlicher zum Ausdruck kommt als in den bisherigen Formulierungsversuchen. Es geht darum, dass die religiöse Überzeugung der europäischen Bevölkerung, die sich in ihrer Mehrheit zum christlichen Glauben bekennt, als positive Bindekraft  angemessen gewürdigt wird. Christen wollen sich mit Europa identifizieren, und die Europäische Union ist auf solche Identifikation angewiesen.