Statement anlässlich des Pressegespräches zur Veröffentlichung der Denkschrift „Religiöse Orientierung gewinnen. Evangelischer Religionsunterricht als Beitrag zu einer pluralitätsfähigen Schule“
Nikolaus Schneider
Es gilt das gesprochene Wort.
Sehr geehrte Damen und Herren,
der Rat der Evangelischen Kirche in Deutschland legt heute unter dem Titel „Religiöse Orientierung gewinnen“ eine neue Denkschrift zum Religionsunterricht vor. Bevor ich darauf näher eingehe, ist es allerdings wichtig, zurückzuschauen. Denn vor zwanzig Jahren hat der Rat schon einmal eine Denkschrift zum Religionsunterricht veröffentlicht, die in den Prozess der deutschen Wiedervereinigung hineinwirkte. Damals stand die Kirche vor der großen Aufgabe, den in den alten Bundesländern etablierten Religionsunterricht im Rahmen der kirchlichen Mitwirkungsrechte in den neuen Bundesländern zur Einführung zu empfehlen. Das ist mittlerweile geschehen.
Nehmen wir das Beispiel Sachsen, wo in ein paar Tagen die diesjährige EKD-Synode stattfindet. Dort hat sich bezogen auf die Gesamtheit aller Schülerinnen und Schüler der Anteil derjenigen, die den evangelischen Religionsunterricht besuchen, von vier Prozent im Jahr 1992 auf annähernd 25 Prozent im Jahr 2012 gesteigert. In Mecklenburg-Vorpommern nehmen sogar über 50 Prozent aller Schüler daran teil.
Mit dieser Entwicklung war ferner eine erhebliche demokratische Aufbauleistung verbunden, die von zahlreichen kirchlichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern unterstützt wurde. Sie vertraten nach der Wende nicht selten unter Überwindung biographischer Verletzungen und bitterer Unrechtserfahrungen durch das Bildungssystem der DDR das neue Fach an der Schule.
Auch in den alten Bundesländern ist die Zahl nicht-evangelischer Kinder und Jugendlicher im RU signifikant gestiegen: In Baden-Württemberg sind ein Viertel der Schüler im evangelischen Religionsunterricht (mehr als 130.000!) nicht evangelisch, die Mehrzahl dieser Gruppe gehört dabei keiner Kirche an. Ähnliches gilt hier für den katholischen Religionsunterricht.
Aber auch in Berlin, wo der Religionsunterricht kein ordentliches Lehrfach ist, nimmt dennoch ein Viertel aller Schüler (80.000) freiwillig und zusätzlich zum anderen Unterricht – oft in den Nachmittagsstunden daran teil.
Der Blick zurück richtet das Augenmerk aber auch auf tiefgreifende gesellschaftliche, politische und juristische Auseinandersetzungen. Kruzifix, Kopftuch, Kreationismus, islamischer Religionsunterricht, LER in Brandenburg und das Volksbegehren zum Religionsunterricht in Berlin lieferten hier die Stichworte für Diskussionen im Feuilleton vieler Zeitschriften, parlamentarische Debatten in Bund und Ländern sowie Gerichtsverhandlungen aller Instanzen. Darin hat sich oft wie in einem Brennglas die Befindlichkeit der ganzen Republik abgebildet.
Religiöse und weltanschauliche Pluralität ist die eigentliche Herausforderung der Kirche im Blick auf ihre Bildungsverantwortung und ihr pädagogisches Handeln. Sie hat gerade auch in der Schule in den letzten zwanzig Jahren erheblich zugenommen. In der Grundschule haben – wie jetzt schon in den Kindertagesstätten bald ein Drittel der Schülerinnen und Schüler einen Migrationshintergrund; der Anteil von muslimischen Schülerinnen und Schüler steigt kontinuierlich. Die je eigene Identität wie das Gemeinsame inmitten des Differenten zu stärken, ist Aufgabe der Schule in dieser Situation.
Aber auch angesichts der Globalisierung und der multikulturellen und multireligiösen Lebenszusammenhänge wird religiöse Bildung immer wichtiger für die eigene Verwurzelung und Identität der Kinder und Jugendlichen, für religiöse Urteilsfähigkeit, für Sinnfindung und Orientierung in der Welt sowie für Verständigungsfähigkeit und Toleranz. Schülerinnen und Schüler sollen lernen, in einer pluralen Gesellschaft und Welt in gegenseitigem Respekt und friedlich zusammen zu leben. Dazu kann der Religionsunterricht einen entscheidenden Beitrag leisten.
Die evangelische Kirche sieht im Religionsunterricht ein wesentliches Element ihrer reformatorisch begründeten Bildungsverantwortung. Doch auch in Politik und Gesellschaft steht die Bildungsbedeutung von Religion nach wie vor meist außer Zweifel. Geschichte und Kultur in Deutschland, in Europa sowie im weltweiten Zusammenhang lassen sich ohne Kenntnisse besonders des Christentums, des Judentums und des Islam nicht angemessen verstehen. Das gilt auch für diejenigen Kinder und Jugendlichen, die sich selbst als nicht religiös verstehen.
Nicht zuletzt ist der konfessionelle Religionsunterricht nach Artikel 7 Absatz 3 GG kein Privileg der Kirchen. Er dient vielmehr im Sinne von Artikel 4 GG der freien und selbständigen religiösen und ethischen Orientierung der Kinder und Jugendlichen. Religiöse Bildung ist ein Recht der Kinder und Jugendlichen. Von daher wird zum Beispiel die Einrichtung eines Religionsunterrichts für muslimische Schülerinnen und Schüler als ordentliches Lehrfach auch von den Kirchen schon seit vielen Jahren befürwortet.
Die vorliegende Denkschrift benennt die veränderten Bedingungen und Herausforderungen religiös-weltanschaulicher Pluralität in der Schule und zeigt Entwicklungslinien für einen zukunftsfähigen Religionsunterricht auf. In diesem Horizont treten die konfessionellen Differenzen zwischen den christlichen Kirchen zurück. Es wächst dagegen die Notwendigkeit, sich mit islamischen Glaubensüberzeugungen und mit atheistisch geprägten Haltungen auseinanderzusetzen und zu verständigen.
Vor diesem Hintergrund wende ich mich besonders an unsere katholische Schwesterkirche: Wir brauchen im Blick auf den Religionsunterricht bundesweit eine intensivere und besser geregelte konfessionelle Kooperation.
Die Denkschrift, die wir Ihnen heute vorstellen, wurde von der Kammer der EKD für Bildung und Erziehung, Kinder und Jugend und einer von ihr gebildeten Arbeitsgruppe vorbereitet. Sie hat im Rat eine dankbare Aufnahme gefunden. So freue ich mich sehr, dass mit den beiden Kammervorsitzenden Herr Prof. Schweitzer und Frau Prof. Scheunpflug zwei ausgewiesene Fachleute mit am Tisch sitzen, die Ihnen jetzt näher erläutern werden, was eine pluralitätsfähige Schule ausmacht und auf welche Weise der evangelische Religionsunterricht dazu beiträgt.