Die Bedeutung der Reformation in Gegenwart und Zukunft
Vizepräsident Dr. Thies Gundlach
Vortrag bei der Dekane-Konferenz der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau in Arnoldshain
I. Einleitung
Will man über die gegenwärtige und zukünftige Bedeutung der Reformation nachdenken, muss man sich zuerst über das Genus von Reflexion klarwerden, das man damit aufruft; dazu sei folgende theologiegeschichtliche Erinnerung bemüht:
Martin Kähler, ein bekannter evangelischer Theologe aus Halle, hat 1892 eine wirkmächtige Schrift veröffentlicht mit dem Titel „Der sogenannte historische Jesus und der geschichtliche, biblische Christus“. Kähler entfaltete darin die These – verstehbar besonders im Umfeld der damaligen Diskussion um die Leben-Jesu-Forschung und die kraftvolle Präsenz der historisch-kritischen Methode –, dass nicht der wie auch immer genau zu identifizierende historische Jesu geschichtlich wirkmächtig geworden sei, sondern der Christus, von dem in den Evangelien erzählt wird. Nicht der vermeintlich erhebbare historische Jesus hat die Geschichte des Glaubens geprägt, sondern der geglaubte Christus, über den Wunder-, Heilungs- und Streitgeschichten erzählt werden. Dass wenige Jahrzehnte später der Theologe Rudolf Bultmann den historischen Jesus nicht zu den Voraussetzungen einer „Theologie des NT“ zählte, ist dann wenig überraschend. Und dass Karl Barth dagegen die historisch-kritische Methode für theologisch unzureichend empfand, auch nicht.
Für unseren Zusammenhang aber wichtig ist, dass eine vergleichbare Grundproblematik auch bei der Reformationserzählung vorliegt: Natürlich ist die Geschichte der Reformation historisch ungleich besser zu fassen und präziser zu rekonstruieren; aber es bleibt die kategoriale Einsicht gültig, dass zuletzt nur die Reformationserzählungen geschichtlich wirkmächtig wurden, nicht die historisch richtigen Tatsachen. Man kann daher parallel formulieren: Der sog. historische Thesenanschlag und der geschichtliche Anfang der Reformation.
Natürlich ist es auch für die evangelische Kirche von großem Interesse, wie sich die historische Wissenschaft über die Reformation und ihre ersten Protagonisten verständigt. Die Bedeutung der Reformation für die Gegenwart hängt davon allerdings nur zum Teil ab. Die konsequente Historisierung der Geschehnisse ist als kritischer Prüfblick gegen ideologischen Missbrauch der Erinnerungen wichtig; aber eine Gegenwartrelevanz wird damit nicht erreicht.
Das weiß die historische Zunft natürlich auch! Deswegen hat der französische Historiker Pierre Nora die Idee der Erinnerungsorte entwickelt; Erinnerungsorte sind symbolisch zu verstehen, es kann ein geografischer Ort gemeint sein, aber ebenso eine mythische Gestalt (z.B. König Arthur), ein konkretes historisches Ereignis (z.B. Waterloo), eine Institution (z.B. Schloss Sanssouci) oder ein Kunstwerk (z.B. Mona Lisa). Alle diese Orte besitzen eine besonders aufgeladene, symbolische Bedeutung, die für eine jeweilige Gruppe identitätsstiftende Funktion hat. In diesem Sinne ist der Thesenanschlag am 31. Oktober 1517 ein Erinnerungsort. Historisch ist seine Bedeutung für die Reformation durchaus überschaubar (falls es diesen Thesenanschlag überhaupt gegeben hat), für die symbolische Bedeutung der Reformation ist er zentral. An diesem Datum werden Identitätsthemen der jeweiligen Gegenwart diskutiert, in diesem Fall klassischerweise als Erinnerungsort für die Heraufkunft der modernen Welt. Und allein diese Deutung der Reformation als Aufbruch aus einer vermeintlich mittelalterlichen Einheitswelt macht es überhaupt plausibel, dass Bund, Länder und Zivilgesellschaft den 31. Oktober ebenfalls als Erinnerungsort feiern - mittlerweile mit einem einmaligen Sonderfeiertag. Die evangelische Kirche wird anlässlich dieses Datums die Anfänge ihrer Identität erinnern und feiern, die Zivilgesellschaft aber ihre eigenen Wurzeln und Werte; beides gehört zusammen, sollte aber unterschieden werden.
II. Was bisher schon geschah
Serienliebhaber wissen das: Jede neue Folge beginnt mit einer Kurzzusammenfassung dessen, was schon geschah. Und tatsächlich ist eine Beschreibung der Bedeutung und Relevanz der Reformation für unsere Tage nur dann vollständig, wenn zuerst erinnert wird, was alles schon bedeutsam wurde.
- Dass sich Bund, Ländern und Kirchen 2008 auf eine sog. Luther- bzw. Reformationsdekade haben einigen können, die Jahr für Jahr zentrale Aspekte der Reformation ins Licht stellt und das jeweils aktuelle Potential deutlich macht, ist eine erste Sensation. Von den Gemeinden vor Ort, die das jeweilige Jahresthema regionalisieren, bis zu landesweiten Kampagnen und kirchenübergreifenden Dialogen prägen die Themen die Jahre; und selbst die Orthodoxie denkt 2015 über Bild und Bibel nach! Die Jahresthemen haben erstmals eine Art „Agendasetting“ ermöglicht.
- Darüber hinaus wird 2017 das erste Jubiläum sein, das weder allein der Selbstbehauptung einer bedrohten Konfession dienen muss (1617) noch der Abgrenzung vom Katholizismus (1717), weder dem nationalen Erwachen (1817) noch dem nationalen Kriegsfatalismus (1917), auch nicht einer Abgrenzung gegenüber den Deutungen Luthers aus der DDR wie 1983. So viel Freiheit bei der Deutung und Gestaltung gab es noch nie: Das Jubiläum kann der freien Selbstdarstellung der reformatorischen Einsichten dienen.
- Sodann gelingt es den Kirchen der Reformation erstmals, dieses Jubiläum gemeinsam vorzubereiten, sodass die Gemeinschaft der reformierten, unierten und lutherischen Kirchen in Deutschland (EKD) und Europa (GEKE) das Jubiläum vorbereiten. Dass die EKD Träger und Treiber der Vorbereitungen ist, ist an sich schon eine kleine Sensation. Möglich ist dies geworden durch die 2013 vierzig Jahre alt gewordene Leuenberger Konkordie, die die gegenseitigen Verurteilungen der Reformationskirchen untereinander überwunden hat.
- Dass Unionskirchen bzw. die reformierte Traditionen mittun können und auch ohne Verwerfungen 200 Jahre Union thematisieren, heißt auch, dass sie besonders dafür einstehen, dass 2017 ein thematisches Reformationsjubiläum und kein personales Lutherjubiläum gefeiert wird. Dies macht auch die historisch wohl einmalig enge Zusammenarbeit mit der Schweizer Evangelischen Kirche (SEK) möglich.
- Vor dem Hintergrund des Nachkriegsprotestantismus ist es eine weitere Sensation, dass die verfasste Kirche EKD und die Kirchentagsbewegung DEKT gemeinsam die Anstrengungen der Vorbereitung eines Jubiläumsjahres schultern. Seit 2012 sind Entscheidungsstrukturen etabliert, die die EKD und den DEKT zusammenbinden, seit 2014 gibt es einen Durchführungsverein, der die großen gemeinsamen Veranstaltungen in und um Wittenberg organisiert. Der deutsche Protestantismus bündelt seine organisatorischen und finanziellen Kräfte, - ich glaube nicht, dass dies folgenlos für das zukünftige Zusammenwirken von Kirchentag und verfasste Kirche bleiben wird.
- Eine bemerkenswerte ökumenische Annährung hat es 2015 mit der römisch-katholischen Kirche gegeben: Nach anfänglich geradezu schroffer Distanz zu allem Feiertönen anlässlich des Jubiläums 2017 („Man kann doch die Spaltung nicht feiern“) hat sich die Einsicht durchgesetzt, dass unter dem Leitwort eines „Christusfestes“ die gemeinsamen Wurzeln des Glaubens erinnert, die gegenseitige Schuld aneinander vor Gott bekannt und die gemeinsame Verantwortung für die Gesellschaft erklärt werden kann. Historisch geurteilt hat es das noch nie gegeben: ein ökumenisch befriedetes Reformationsjubiläums, das sich nicht durch Abgrenzung und Profilierung auszeichnet, sondern die Unterschiede der Konfessionen als produktive Dynamik der Geschichte und Gegenwart zu sehen einübt.
- Sodann werden sehr bewusst die Schatten der Reformation in den Blick genommen. 2017 wird das erste Jahrhundertjubiläum nach dem Holocaust sein. Es gilt, den brutalen Antijudaismus des alten Luthers schamvoll zu erinnern, aber auch zu klären, welche historisch belegbaren Wirkungen diese unseligen Aussagen tatsächlich hatten. Auch wird man die grausame Verfolgung des „linken Flügels der Reformation“ ebenso aufrichtig anschauen wie den unheiligen Umgang mit der Täuferbewegung und den Friedenskirchen. Kritisch sehen wir heute auch die Aussagen der Reformatoren zu den sog. „Türken“, und die groben Verurteilungen des damaligen Papsttums.>
Im Grunde lässt uns jede dieser erinnerungskulturellen Hinweise wahrnehmen, dass die Reformation eine zutiefst ambivalente Bewegung war. Die Reformationserzählungen handeln nicht von Heiligen, sondern von geretteten Sündern. Die Bioraphien der Reformatoren eignen sich nicht für Heldenlegenden. Das entdeckte Licht der Freiheit wurde schon während der Reformationszeit immer wieder auch verraten und verdeckt, geleugnet und missbraucht. Dies erinnert uns daran, dass die zentrale Errungenschaft der Reformation die Wiederentdeckung des Evangeliums war, nicht etwa die Gründung einer neuen Kirche oder eigenen Bekenntniskonfession. Insgesamt aber wage ich die These: Selbst wenn dieses Jubiläum 2017 nicht in dem geplanten Bette dahinfließen sollte, lässt schon die bisher angestoßene Dynamik die Bedeutung der Reformation für die Gegenwart und die Zukunft in einem bemerkenswert hellen Licht erscheinen.
III. Erinnerung und Musealisierung
In einem nächsten Schritt will ich an einige wichtige inhaltliche Impulse der Reformation erinnern, die sich an dem Erinnerungsort 31.10 2017 festmachen. Dabei muss leider eingestanden sein, dass heute die vom deutschen Idealismus vertretene These von der Reformation als Beginn der Modernen zweifellos viel skeptischer gesehen wird als dies noch die Väter und Mütter im 19. Jahrhundert taten.
- Die jüngere Diskussion scheint sich auf die Einsicht einzupendeln, dass es das „Priestertum aller Getauften“ sei, das nicht nur historisch innovativ war, sondern auch erhebliches Fernwirkungspotential bis in die Gegenwart hinein hatte. Moderne Partizipationsgedanken und demokratische Beteiligungsprozesse können als Kindeskinder der Reformation andocken. Und es verbindet sich mit diesem Aspekt der Partizipation ein Kirchenverständnis, das Amt und Person zu unterscheiden vermag, und das das Amt wesentlich als Funktion versteht, nicht als Weihe. Dieser durchaus modernitätskompatible Zugang lässt die Versammlung der Glaubenden eine Kirche sein, die ihre Selbstorganisation pragmatisch und funktional ausrichtet und die Unterscheidung von Priestern und Laien ebenfalls. Der reformatorisch geprägte Kirchenbegriff unterscheidet sich deutlich von allen theologisch aufgeladenen Kirchenbegriffen, was sicher auch eine Schwächung ist, aber zugleich eine wichtige theologische Abrüstung des Kirchen- und Amtsbegriffes.
- Darüber hinaus wird – gemeinsam mit der Renaissance und ihrem Schlachtruf „ad fontes“ – der Bildungsimpuls der Reformation hervorgehoben, der vom Gedanken des mündigen Christen die Heilige Schrift in die Hände aller Menschen legte und darum eine allgemeine Lesefähigkeit forderte, die allen Menschen – also auch Mädchen – zuerkannt wurde. Und dass man über den Taufgedanken auch zur Gleichrangigkeit der Frauen im Blick auf geistliche Ämter kommen kann, wenn denn alle anderen Vorurteile gegen Frauen durchschaut sind, lässt sich auch entgegen der offensichtlichen Frauenfeindlichkeit der reformatorischen Kirchen behaupten. Unstrittig aber ist, dass sich der Bildungsimpuls der Reformation seit Generationen in der Bereitschaft konkretisiert, die wissenschaftlichen Diskursen einer jeden Gegenwart nicht nur zu rezipieren, sondern diese auch anzustoßen. Der historisch-kritische Umgang mit der Heiligen Schrift, die religionsphilosophische Relativierung der Absolutheit des Christentums, die Auseinandersetzung mit dem naturwissenschaftlich und evolutionsbiologisch verstandenen Lebensgrundlagen u.a.m., all dies ist ein Spezifikum der reformatorischen Theologie und ihrer Kirchen. Dass der Preis dieser aufgeklärten Religion manche Schwächung der Glaubensinbrunst war und ist, und dass eine „Institution der Dauerreflexion“ (Schelsky) missionarische Kräfte schwächer ausbildet als manche charismatische oder pentekostale Bewegung, ist zweifellos richtig. Dennoch sollten die reformatorischen Kirchen ihrer Berufung zur aufgeklärten Religion treu bleiben, und auch den jungen evangelikalen Bewegungen die Auseinandersetzung mit dem kritischen Geist der Wissenschaft nicht ersparen. Denn auch für die Religionen im 21. Jahrhundert gilt: Aufklärung ist der beste Schutz gegen Fundamentalismus.
- Die zentrale theologische Einsicht Martin Luthers aber und aller Reformatoren, dass der Glaube an die Rechtfertigung des Sünders allein aus Gnade, nicht aber aufgrund der Werke des Gesetzes gilt, hat einen Freiheitsimpuls gesetzt, der mit erstaunlicher Fernwirkung die moderne Freiheitsgeschichte auch heute noch mitprägen kann. Natürlich ist der Freiheitsbegriff der Moderne deutlich verschieden vom christlichen Freiheitsverständnis, - es ist aber weder Zufall noch Nebensache, dass die theologischen Erschließungen des Erinnerungsortes 31.10. immer auch um diese Lehre von der Rechtfertigung des Gottlosen und den dazugehörigen vier/fünf soli (sola scriptura, sola gratia, sola fide, solus christus solo verbo) als Freiheitsthematik rankten. Oftmals wird der spezifische Charakter des reformatorischen Freiheitsbegriffes unsichtbar und unverständlich, vielen ist auch die bei den Reformatoren noch zentrale innere (Gewissens-) Freiheit vor Gott suspekt geworden, weil diese „Innerlichkeit“ leicht in den Geruch der Privatheit gerät. Dabei hat diese innere, von allen äußeren Umständen unabhängige, in Gottes Wort gegründete (Gewissens-)Freiheit eines jeden Christenmenschen durchaus Impulse für das heutige Verständnis von Menschenwürde und Menschenrechten freigesetzt. Die Freiheit eines Christenmenschen ist nicht die, aber eine wesentliche Quelle moderner Menschenrechts- und Menschenwürdegedanken. Dieses Licht sollte nicht unter den Scheffel gestellt werden, nur weil gegenwärtig die meisten reformatorischen Kirchen befürchten, mit der Inwendigkeit des Glaubens sei heute kein Staat zu machen.
- Nicht unberücksichtigt bleiben sollten diejenigen Hinweise, die das Sozialgefüge unserer Gesellschaft nicht allein auf wesentliche Impulse der Reformation zurückführen, sondern im Medium der Konfessionsforschung auf die sog. „Ko-Evolution der Gegner“ (Udo DiFabio). Denn auch die römisch-katholische Kirche hat sich in Konfrontation mit der Reformation verändert, und beide Konfessionen haben gemeinsam eine Dynamik der Abgrenzung entwickelt, die bei allem erzeugten Leid durchaus auch konstruktive Folgen hatte. Denn der unversöhnliche Wahrheitsanspruch der Konfessionen und die Unfähigkeit, unterschiedliche Glaubensüberzeugungen in einem Territorium zu ertragen, führte zwar zu dem ersten europäischen, äußerst grausam geführten dreißigjährigen Krieg (der dann sehr bald politischen Gesetzen folgte). Aber zugleich führte dieser Krieg auch zu einem Staats- und Verfassungsverständnis, das die Bürgerrechte von den Religionsrechten trennte, dass die individuelle Glaubens- und Gewissensfreiheit eröffnete und den religiös neutralen Staat einläutete. Die Reformationskirchen haben heute so wenig wie die römisch-katholische Kirche Anlass, auf diese Entstehung des modernen Staates aus dem Geiste des gegenseitigen Vernichtungswillens stolz zu sein. Aber dass heute diese unbeabsichtigte Folge der Reformation als Lerngeschichte der Konfessionen wahrgenommen werden kann, lässt jedenfalls auch zu, ohne Überheblichkeit andere Religionen oder Ideologien auf diese Lerngeschichte der De-Fundamentalisierung hinzuweisen.
Insgesamt aber lässt mich dieser – durchaus ergänzungsfähige - Blick auf fundamentale Bedeutungen der Reformation für die Gegenwart etwas ratlos zurück. Denn wohl lassen sich historische Wirkungen nachzeichnen und imposante geschichtliche Zusammenhänge aufzeigen, aber man kommt sich vor wie in einem guten Museum:
Es ist zwar interessant zu wissen, dass heutige Partizipations-, Bildungs-, Freiheits- oder Rechtsstaatlichkeitsgedanken wichtige Wurzeln in der Reformation haben, aber - so what? Wahrnehmungen dieser Art lösen bei herkunftsinteressierten Menschen vielleicht Respekt aus, vielleicht auch Dankbarkeit und den Impuls, diese Quellen zu hegen und zu pflegen. Aber ist dies mehr als Erinnerungskultur? Kann dies zu einem echten Erinnerungsort werden, der relevante Botschaften für das 21. Jahrhundert enthält? Geht es hier irgendwo um meine und deine Identität heute, um ein Selbstverständnis, das über Gedenken und Erinnern hinausgeht?
IV. Gottesverborgenheit und Glaubensvergewisserung
Die Leitfrage dieses Abschnittes soll daher lauten: Wie komme ich über die respektheischende Erinnerung an eine einstmals imposante Reformation hinaus? Wie bekomme ich ein relevantes Reformationsjubiläum? Mit der faktischen Sach- und Sprachfremdheit, ihrer weithin unverständlichen Rechtfertigungsbotschaft und ihrer ins Museale verweisenden Erinnerungskultur gerät die aktuelle Relevanz der Reformation zunehmend ins Abseits. Und machen wir es uns nicht zu leicht: Es ist das Herzstück der Reformation selbst, die Lehre von dem von Gott allein aus Gnade allein durch Jesus Christus allein im Glauben befreiten sündigen Menschen, die zunehmend keine kraftvolle Botschaft für das 21. Jahrhundert bereitzustellen scheint. Das zeigt sich dann auch in der schwindenden Bindungskraft der Kirchen: Die lange Zeit selbstverständliche Grundplausibilität des von den Kirchen vertretenen christlichen Glaubens droht verloren zu gehen, auch weil die Quantität der Indifferenz umzuschlagen droht in eine Qualität der Verunsicherung. Aus dem ehemaligen Monopolisten ist eine zwar immer noch große, aber keineswegs dominierende Religion geworden. Und faktisch relativiert die Pluralität der Religionen die Rolle der Christen; die jüngste V. KMU zeigt eine Überalterung unserer Kirche, die substantiell beunruhigend ist. Und dieser „Abstieg“ macht Angst, er lässt Zweifel an sich selbst und an der eigenen Glaubenssubstanz zu; und diese Verunsicherung ist oftmals auch bei den Pfarrer/innen zu spüren.
- In geistlich verunsicherten Zeiten aber geraten unsere reformatorischen Kirchen leicht in eine Relevanzfalle. Damit ist die Tendenz gemeint, proportional zum wachsenden Indifferenz die eigene Relevanz herauszustellen. Man entwickelt Thesen zu den Werten, die man vertritt, oder zum Sozialkapital, das man bereitstellt, oder zur Nächstenliebe, die man organisiert usw. Und so schwer unsere Gesellschaft beschädigt wäre, wenn die Kirchen sich aus diesen Aufgaben zurückzögen, so wenig kann solch eine „Diakonisierung der Relevanz“ den Glauben bestärken. Denn die (nützlichen) Funktionen eines Glaubens sind kein Glaube, sondern Funktionen! Ohne Glauben bleibt eine äußerliche Hülle übrig, ein vielleicht sinnvolles Handeln oder eine plausible Geste, aber der Glaube an Gott, die Hoffnung auf Christus und das Vertrauen auf die Heilige Schrift gehen verloren. Insofern stellt sich mit Blick auf den Erinnerungsort 31.10. 2017 die Frage, ob die reformatorisch geprägten Kirchen zurückfinden zu einer geistlichen Ausstrahlung, die den inneren Motor allen Handelns deutlich machen kann. Die zentrale Herausforderung für 2017 liegt m.E. in einer geistlichen Überzeugungskraft, die die Sehnsucht nach Gott, nach dem Heiligem, nach Frömmigkeit und Innerlichkeit aufnimmt. Wie aber lässt sich heute diese existentielle Relevanz der reformatorischen Einsichten entfalten?
- Liest man sich ein in die einschlägigen Literatur zu Luther und die Reformation, dann zeigt sich: Diese Generation wuchs auf in einer stark verunsicherten Welt und in eine Art geistlich-theologisch hyperaktiven Kirche. Gottesdinge waren weithin durch-definiert und durch-verwaltet, für jedes existenzielle Kontingenzereignis gab es einen Ablass, einen Heiligen, einen Seitenaltar oder eine Gebetsfolge. Zweifel, Sinnferne, Lebenskummer wurden vertröstet, die Frömmigkeit war stark ritualisiert. Die Welt machte Angst, - und Gott machte auch Angst. Seit dem Tod von Jan Hus 1415 waren zwar fast 100 Jahre Anfragen, Zweifel und Skepsis ins Land gegangen, aber auf die wurde weithin mit Abwehr reagiert. Und: um 1500 gab es – nicht zuletzt getragen vom entstehenden Humanismus – ein tiefes Unbehagen am Wissenschaftsbetrieb und an der (scholastischen) Theologie. Und obwohl es um 1500 auch sehr ernsthafte und tiefgehende Frömmigkeit gab (Stichwort „observante Klöster“), zeigte doch die Konkurrenz der Wallfahrtsorte mit ihrer inflationären Veräußerlichung von Mirakeln, mit ihren bizarren Großveranstaltungen, mit ihrer Sammlung von aberwitzigen Reliquien („Jesu Windeln“) und mit den immer exaltierteren Formen von Ablässen eine Banalisierung, Kommerzialisierung und Trivialisierung der Frömmigkeit an. Ein Schelm nun, wer Parallelen zur Gegenwart sieht! Oder ist unsere Generation 500 Jahre nach der Reformation wieder in einer Art vor-reformatorischen Situation?
- Martin Luther hatte in diesem Angst-Kontext das Zentrum seines Reformanliegens in der Antwort auf die Frage nach dem gnädigen Gott gefunden; er hat Gott neu entdeckt als in Christus barmherzigen Gott. Und Luthers spezifische Antwort auf diese Frage stärkte den inneren Menschen, der frei wurde von den damaligen Ängsten und Engen; die Seele stand nicht mehr vor einem vermeintlich gerechten, in jedem Fall aber verurteilenden Richter, sondern vor einem Gott, der barmherzig, gnädig und von großer Güte ist. Und diese Wende weg von der Angst führt mich zu meiner Kernthese hinsichtlich der aktuellen Relevanz der Reformation heute und in Zukunft: Die Kontinuität zur Reformationszeit ist der in seinen Ängsten gefangene Mensch, dessen Ängste zwar im 21. Jahrhundert diesseitiger und innerweltlicher geworden sind, aber nicht geringer. Die existentielle Rückbesinnung auf die reformatorischen Anfänge eröffnet eine Wende zur Angst-Freiheit. Den Erinnerungsort Reformation existentiell zu bedenken heißt, über Entängstigung hier und heute zu reden. Denn mit der Reformation beginnt ein neues Zeitalter, in dem immer mehr existentielle Themen in ein neues Licht der gnädigen Angstfreiheit rücken. Und diese Entängstigung sprach und spricht sich in vielen theologischen Wendungen der Rechtfertigungslehre aus, sie fand Eingang in das ontologische Menschenbild und in das rationalere Weltverständnis, es fand Eingang in die gesungenen Lieder und die gespielte Musik und noch heute hören wir diesen Klang der Entängstigung in Seelsorge und Predigt, in Ritual und auch politischer Positionierung. Und im Kern weiß sich diese Entängstigung in der Nachfolge jener großen Befreiungen, die vor langer Zeit mit Israels Auszug aus Ägypten begann und mit Christi Auszug aus dem Tode endgültig wurde. Wenn es eine Botschaft in, mit und unter allen reformatorischen Einsichten für die Gegenwart gibt, dann ist es in meinen Augen diese: Mit der Einkehr beim barmherzigen Gott ist ein Auszug aus der Angst in dieser und in jener Welt verbunden, der einen Aufbruch zur Weltgestaltung und Weltverantwortung eröffnet. Oder auch: Mit dem Auszug aus der Angst ist eine Einkehr bei Gott verbunden, die sich vor der Welt nicht mehr fürchtet, weder vor dem Tod noch vor dem Leben, weder vor Engeln noch Mächten noch Gewalten, weder vor Gegenwärtigem noch vor Zukünftiges, weder vor Hohem noch Tiefem noch vor irgendeiner anderen Kreatur (vgl. Röm 8, 38f.).
- Die existentielle Relevanz der Botschaft 2017 kann man prüfen mittels einem abgewandelten altgriechischen Weisheitsspruch: Zeige mir deine Ängste und ich sage Dir Deine Freiheit im Glauben. Denn viele tagespolitische Aufgeregtheiten, auf die mit Enge und Ängstlichkeit reagiert wird, spiegeln Grundsätzlicheres: Von den geschlossenen Grenzen gegen Flüchtlinge über die unselige Pegida-AfD-Bewegung, von der aufgeregten PISA-Bildungsmisere bis zu den Familiendramen der Gegenwart scheinen mir diese Phänomene auf etwas zu verweisen, was der große dänische Theologen des 19. Jahrhunderts, Sören Kierkegaard, so charakterisierte: Ein ängstlicher Sünder versucht entweder „verzweifelt er selbst zu sein“ oder gerade „verzweifelt nicht er selbst zu sein“ (Der Begriff Angst, 1844). Während manche verzweifelt nicht sie selbst sein zu wollen, um als „Bundesagentur für Werte“ oder „Lieferant von Sozialkapital“ diakonische Relevanz zu beweisen, versuchen andere im Gestus eines verzweifelten Selbstseins zu überleben, indem sie an dogmatischen Traditionen, unverständlichen Bekenntnisfragen und organisatorischen Beständen festhalten. Was der eine übertreibt, vernachlässigt der andere, - und beides spiegelt eine tiefsitzende, existentielle Angst. Denn es geht nicht darum, Ängste zu instrumentalisieren, sondern zu interpretieren; denn natürlich gibt es viele berechtigte Ängste, die unsere Generation beschäftigen, seien es wirtschaftliche Abstiegsängste, seien es Sorgen vor Umweltkatastrophen, sei es die Angst vor der beständigen Beschleunigung oder seien es ganz elementare, zeitlose Ängste in der Liebe und Treue, in Freundschaft und Fairness. Es geht nicht um eine vordergründige „German-Angst“, sondern um Ängste der Tiefe, wie sie z.B. Annette Pehnt in ihrem „Lexikon der Angst“ beschrieben hat: Ängste vor Schweigen und Stille, Ängste vor Zerrissenheit und Leere, vor Liebesunfähigkeit und Liebesunterwerfung. Es geht nicht um eine Abschaffung der Ängste, sondern um ihre Läuterung, gleichsam um ihre Taufe, dass sie uns nicht schütteln, sondern wir aus ihnen lernen.
- Wie kommen wir ins Gespräch mit uns selbst und der Gesellschaft über diese Tiefendimension? Das Jubiläum 2017 braucht und verdient eine Diskussion um die Relevanz der reformatorischen Einsichten in existentieller Hinsicht. Ist aber die Entängstigung die heilende Botschaft des gnädigen Gottes auch im 21. Jahrhundert, dann müssen wir das Gespräch über Gott und seine Güte neu führen. Denn Gott ist die einzige und ewige Antwort auf unsere Ängste. Seine Gegenwart in uns kann uns befreien und trösten und aus den ängstlichen Gefangenschaften führen. Aber für diese Botschaft braucht es neue Wege, neue Sprache, neue Erfahrungsräume, weswegen die Grunderzählung des Reformationsjubiläums 2017 das „semper reformanda“ theologisch wendet: Gott neu denken, Gott neu entdecken, Gott neu feiern, Gott neu ins Gespräch dieser Gesellschaft zu bringen, das ist der zentrale Gedanke der Erzählung, mit der das Jubiläum 2017 gestaltet werden kann. Wobei das Wörtchen „neu“ zuerst als Adverb, nicht als Adjektiv zu lesen ist – aber damit sind wir schon mitten drin in der …
V. Präsentation „Gott neu ...“
Gott: neu… erfahren, denken, bitten, erzählen, entdecken, feiern, vertrauen
Präsentation zum Reformationsjubiläum 2017