"Schwerter zu Pflugscharen“ - eine veraltete theologische Forderung?, Tübingen
Nikolaus Schneider
Es gilt das gesprochene Wort.
Anrede
I. Hinführung
"Schwerter zu Pflugscharen" – das ist eine prophetische Verheißung, die uns in den alttestamentlichen Büchern der Propheten Jesaja und Micha überliefert ist. Sie hat Menschen durch die Zeiten hindurch zu theologischem Nachdenken angeregt. Auch Jesus von Nazareth hat diese Verheißung auf seine Weise aufgenommen und in den Seligpreisungen neu formuliert.
Die Frage danach, welche Konsequenzen für die individuelle wie die politische Ethik die prophetischen und jesuanischen Verheißungen nach sich ziehen sollen, hat Israel wie die Kirche nie losgelassen. Eine mögliche Antwort war, dass aus Verheißungen eine theologische Forderung wurde.
Biblische Verheißungen wurden in früheren Jahrhunderten als Aussagen über das zukünftige Reich Gottes verstanden. Allenfalls galten sie als Hinweis, dem Wüten des Krieges Zügel anzulegen. Wir müssen heute feststellen:
Regeln und Ordnungen, um Kriegsgründe zu definieren und die Kriegsführung nicht der Raserei zu überlassen, sind gescheitert. Ausgangspunkt der Ethik müssen meiner Ansicht nach heute die Visionen sein, die den Krieg "ohne wenn und aber" überwinden wollen.
Sind dazu aber die biblischen Visionen wirklich tauglich? Denn die Bibel ist ein altes Buch. Ihre ältesten Teile sind wohl fast dreitausend Jahre alt, die jüngsten Texte sind vor etwa 1.900 Jahren entstanden.
Die in der Bibel schriftlich fixierten theologischen Gedanken, Aussagen und Forderungen sind unbestreitbar alt. Sind sie damit aber auch zugleich veraltet?
Nicht alles, was alt ist, muss veraltet sein - also unnütz und überholt.
Welche Kriterien legen wir an für unsere Entscheidung, ob ein alter Text veraltet ist?
Ich gehe davon aus:
- Grundsätzlich ist eine Forderung veraltet, wenn sich die konkreten Lebensverhältnisse so verändert haben, dass das Ziel dieser Forderung erreicht ist.
- Christlich-theologisch ist eine alttestamentliche Forderung veraltet, wenn das Ziel dieser Forderung nicht "Christum treibet" – also der hermeneutische Schlüssel reformatorischer Schriftauslegung diese alte Forderung der Schrift als überholt erkennt.
Ist also unter der Perspektive dieser beiden Kriterien die theologische Forderung aus der alten Friedensvision des Propheten Micha veraltet?
II. Exegetische Anmerkungen zu der endzeitlichen Friedensvision des Propheten Micha.
Hören wir zunächst den Bibeltext in der revidierten Luther-Übersetzung von 1984:
"Das kommende Friedensreich Gottes
1 In den letzten Tagen aber wird der Berg, darauf des HERRN Haus ist, fest stehen, höher als alle Berge und über die Hügel erhaben. Und die Völker werden herzulaufen,
2 und viele Heiden werden hingehen und sagen: Kommt, lasst uns hinauf zum Berge des HERRN gehen und zum Hause des Gottes Jakobs, dass er uns lehre seine Wege und wir in seinen Pfaden wandeln! Denn von Zion wird Weisung ausgehen und des HERRN Wort von Jerusalem.
3 Er wird unter großen Völkern richten und viele Heiden zurechtweisen in fernen Landen. Sie werden ihre Schwerter zu Pflugscharen und ihre Spieße zu Sicheln machen. Es wird kein Volk wider das andere das Schwert erheben, und sie werden hinfort nicht mehr lernen, Krieg zu führen.
4 Ein jeder wird unter seinem Weinstock und Feigenbaum wohnen, und niemand wird sie schrecken. Denn der Mund des HERRN Zebaoth hat's geredet.
5 Ein jedes Volk wandelt im Namen seines Gottes, aber wir wandeln im Namen des HERRN, unseres Gottes, immer und ewiglich!"
(Micha 4, 1-5)
Dieser Text ist sicherlich eine der bekanntesten prophetischen Visionen überhaupt. Außer bei Micha findet sich diese endzeitliche Friedensvision fast wortgleich beim Propheten Jesaja, aber die ursprüngliche Version - so sagt uns heute die Forschung - steht wohl bei Micha. Ein etwa 2.500 Jahre alter Text, der auch die christliche Friedensbewegung zu allen Zeiten inspiriert hat.
"In den letzten Tagen", so sagt der Prophet, also am Ende aller Zeiten, wird der Berg des Herrn, also der Berg Zion, auf dem Jerusalem gegründet wurde, immer noch bestehen. Und alle Völker werden zu diesem Berg strömen. Eine universalistische Vision! Der eine Gott, der alle Völker hat werden lassen, versammelt eben diese Völker bei seinem heiligen Berg. Und dann wird "Weisung ausgehen" von diesem Berg, wird also eine ganz bestimmte Lehre vermittelt und ein konkreter Handlungsauftrag erteilt. Nämlich: Frieden zu halten, keine Kriege mehr zu führen. Schwerter sollen zu Pflugscharen umgeschmiedet werden, heißt es in der Vision, und Spieße zu Sicheln. Das ist, modern gesprochen, ein Projekt der Rüstungskonversion. Aus Waffen werden zivile Nutzinstrumente. Und die Menschen aus allen Nationen, von denen in der Vision die Rede ist, sollen "hinfort nicht mehr lernen, Krieg zu führen".
Der Prophet spricht von der Endzeit, von den letzten Tagen. Wer kann sagen, wann die Endzeit beginnt – und ob eine Bestimmung ihres Anfangs anhand konkreter Zeichen möglich ist? Wir kennen jedenfalls nur gescheiterte Versuche, den Anbruch des Reiches Gottes auf eine bestimmte Jahreszahl zu fixieren.
Ich plädiere dafür, "Endzeit" als eine mögliche Perspektive der Betrachtung unserer Zeit zu verstehen: Wir gehen auf das Ende der Zeit zu und haben uns darin zu bewähren. "Endzeit" ist also "Bewährungszeit", auch dafür, wie wir mit biblischen Visionen und theologischen Forderungen wie "Schwerter zu Pflugscharen" umgehen. Denn alle theologisch begründeten konkreten Kalkulationen darüber, wie lange diese Welt noch bestehen wird, verbieten sich angesichts der Erkenntnisse, dass ‚bei Gott 1000 Jahre wie der Tag sind, der gestern vergangen ist.’ (vgl. Ps. 90) Für unser individuelles Leben gilt: mit meiner Geburt beginnt die Endzeit meines Lebens.
"Schwerter zu Pflugscharen" ist eine alte biblische Zukunftsvision: So wird es am Ende aller Zeiten sein, sagt der Prophet. In diese Richtung soll und wird sich nach dem Willen Gottes die Weltgeschichte hin entwickeln. Für den Propheten damals galt wie für uns heute: So ist es noch nicht. Aber weil er die Zukunft als Gottes Zeit sah, konnte er darauf vertrauen: Es wird so werden. Und daraus erwächst unsere Aufgabe nach dem uns gegeben Maß menschlicher Möglichkeiten und Fähigkeiten: Zeugenschaft von dem Anbruch des Gottesreiches in Wort und Tat der Liebe. Auch wenn Gott allein das Ende der Zeiten heraufführen wird, bleibt es seinen Gläubigen aufgetragen so zu leben, dass die Ziele Gottes mit seiner Schöpfung in ihrem Leben aufscheinen und dass das Gottesreich im Hier und Jetzt schon erfahren werden kann.
III. "Schwerter zu Pflugscharen" als Kurzformel eines friedensethischen Programms.
Die aus der Friedensvision des Propheten Micha verdichtete Forderung "Schwerter zu Pflugscharen" ist ein eindrucksvolles Bild. Es steht einem ganz unmittelbar, fast plastisch vor Augen. Auch wer die einst von der Sowjetunion geschaffene und der UN in New York zum Geschenk gemachte Bronzeskulptur des Künstlers Jewgeni Wutschetitsch nicht kennt, wird sich bildlich vorstellen können, wie sich eine solche "Umschmiedung" und Verwandlung vollzieht.
Ein Bild voller Trost und Hoffnung für diejenigen Menschen, die Kriege erlebt haben und das durch sie verursachte Leid kennen und/oder fürchten.
"Schwerter zu Pflugscharen", dieses Bild wurde zu einer Kurzformel für ein ethisches Programm, für einen moralischen Auftrag, der sich an Menschen richtet, die der jüdisch-christlichen Friedens-Tradition verpflichtet sind. Wie eine "regulative Idee" im Sinne Immanuel Kants vermochte und vermag die alte biblische Vision unser friedensethisches Handeln zu orientieren und zu steuern.
Als "regulative Idee" konfrontiert sie Christenmenschen und kirchliche Stellungnahmen bis heute mit Fragen wie:
Wie reagieren wir auf die Gegenwart des Bösen mit seinem rücksichtslos zerstörerischen Wirken?
Können für Christenmenschen Waffen dazu dienen, das Böse zu begrenzen oder zu überwinden?
Kann die Kirche Rüstungsproduktion grundsätzlich tolerieren oder gar gutheißen?
Welche Formen gewaltfreier Konfliktbegrenzung und –überwindung funktionieren mit Aussicht auf Erfolg?
Seit 1997 legt die Fachgruppe Rüstungsexporte der Gemeinsamen Konferenz Kirche und Entwicklung (GKKE) der beiden großen deutschen Kirchen jährliche Rüstungsexportberichte vor. Es handelt sich dabei in aller Regel um kritische Bilanzierungen der jüngsten bundesdeutschen Politik. Denn es zeigt sich, dass die Bundesregierungen in den vergangenen Jahren, gleich unter welcher politischen Führung sie standen, nicht immer genügend Transparenz in ihrer Rüstungsexportpolitik praktiziert haben und vielmehr gut beraten wären, entschlossen weitere Schritte zur Abrüstung und Rüstungskontrolle zu gehen. Rüstungsproduktion als Garant wirtschaftlicher Prosperität eines Landes ist ein Irrweg.
Die EKD-Friedensdenkschrift von 2007 hält den Abbau der vorhandenen Waffenpotenziale für eine vordringliche Aufgabe, um den Frieden in der Welt wahren, fördern und erneuern zu können. Als wesentliche Implikationen der Aufgabe des Abbaus der Waffenpotenziale betrachtet die Denkschrift unter anderem die Einschränkung der Rüstungsexporte, nachhaltige Abrüstung und strenge Rüstungskontrolle[1]. Denn sehr klar ist: "Rüstungsexporte tragen zur Friedensgefährdung bei."[2]
In diesen Zusammenhang gehört wesentlich die Rüstungskonversion: Das ist der moderne Begriff für das Geschehen, das Micha in seiner Vision beschrieben hat. Ich begrüße vor diesem Hintergrund ausdrücklich die aktuelle Initiative der Evangelischen Landeskirche in Württemberg zur Rüstungskonversion. Ihre Absicht, Gespräche mit Firmen in Württemberg zu führen und diese zu beraten, wie sie von der Waffenproduktion auf die Herstellung ziviler Produkte umstellen können, ist vorbildlich und wird hoffentlich Resonanz finden und Erfolg haben.
Mit Interesse habe ich ferner zur Kenntnis genommen, dass ein Baptistenpastor aus Brandenburg eine Unterschriftenaktion gegen die Panzerlieferung an Saudi-Arabien begonnen hat.[3] "Panzer zu Pflugscharen" ist dabei sein Stichwort. Zu dieser geplanten Panzerlieferung habe ich mich im Sommer kritisch geäußert. Meine Begründung ist fast deckungsgleich mit der aus der baptistischen Kirche: Die saudisch-arabische Regierung unterdrückt die Bürgerrechte in ihrem Land und ist jederzeit bereit, gegen demokratische Protestbewegungen Gewalt einzusetzen.
Als "regulative Idee" stellt uns die alte theologische Forderung "Schwerter zu Pflugscharen" ganz grundsätzlich vor die Frage, welche Art von Lernen eigentlich dem Leben dienlich ist.
Dient es dem Leben, dass Menschen lernen, Krieg zu führen?
Müssen wir nicht um des Lebens willen den Frieden lernen und lehren?
Kann man schon hier und jetzt – und nicht erst in der vom Propheten erwarteten Endzeit – lernen, gewaltfrei Konflikte zu bearbeiten?
Ist solche Friedenserziehung, ist solche Friedensbildung inmitten einer kriegs- und gewaltgeplagten Welt realistisch?
Als Christen und Christinnen sagen wir dazu eindeutig "Ja!". In der aktuellen Friedensdenkschrift der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) heißt es dazu in einer wichtigen Passage:
"(50) 'Jeder Gottesdienst kann und soll zum Frieden bilden.' Grundsätzlich kann die christliche Kirche in ihrer Gesamtheit, insbesondere in ihrer evangelischen Gestalt, als Bildungsinstitution verstanden werden, wenn mit Bildung ein nicht auf das Kognitive begrenzter Prozess des Wissenserwerbs, sondern ein ganzheitliches Geschehen der Persönlichkeitsbildung gemeint ist. Dieses Bildungsverständnis richtet sich an der Einsicht aus, dass der Mensch zu Gottes Ebenbild bestimmt ist, meint daher wesentlich "Herzensbildung" und schließt auch die Bildung und Erziehung zum Frieden ein. Die Kirchen haben außer dem Gottesdienst im Lauf der Jahrhunderte eine große Zahl von Bildungseinrichtungen für Kinder, Jugendliche und Erwachsene aller Altersstufen aufgebaut. Dabei geht es immer sowohl um Bildung im genannten grundlegenden Sinn als auch um die konkrete erzieherische Vermittlung von Werten und Normen, die sich aus dem christlichen Glauben ergeben. Herzensbildung, ethische Orientierung und die praktische Arbeit für den Frieden gehören zueinander und können nicht voneinander getrennt werden."
"Den Frieden lernen" und "den Frieden lehren": Das sind, denke ich, reale und dem Leben unserer Gegenwart dienende Forderungen. Sie wurzeln wesentlich in den prophetischen Visionen des Alten Testamentes wie in dem uns im Neuen Testament bezeugten Reden und Handeln Jesu von Nazareth. Und sie führen uns gerade angesichts der Krisenherde unserer Welt immer wieder neu vor Augen: Wir brauchen die alten Friedensvisionen der Bibel, gerade weil wir immer wieder neu erfahren und erleiden, dass das Lernen des Kriegshandwerks trotz aller damit einhergehender friedensethischen Unterrichtung nicht einem nachhaltigen Frieden dient. Unsere konkreten Lebensverhältnisse haben sich – leider Gottes – nicht so verändert, dass die Forderung "Schwerter zu Pflugscharen" ihre wegweisende Bedeutung verloren hätte.
IV. "Schwerter zu Pflugscharen" – eine Inspiration zur Mitgestaltung der friedlichen Revolution 1989/90
"Schwerter zu Pflugscharen" - dieses ethisch orientierende, die Zukunft antizipierende, Trost und Hoffnung schenkende, eindrucksvolle Bild hat unsere jüngste deutsche Geschichte mitgestaltet und die friedliche Revolution der Jahre 1989/90 entscheidend geprägt.
Denn "Schwerter zu Pflugscharen" – das war das biblische Motto, das Pfarrer Harald Bretschneider den seit 1980 jährlich zum Buß- und Bettag stattfindenden Friedensdekaden in den Evangelischen Kirchen der DDR mit auf den Weg gegeben hatte. Auf Jacken und Revers war es tausendfach zu sehen. Neben Lesezeichen wurden 200 000 Aufnäher in der Druckerei der Brüdergemeine in Herrnhut gedruckt – auf Vliesstoff, weil das die einzige Druckart war, bei der das Motiv und der Inhalt nicht vorher staatlicherseits genehmigt werden mussten.
Immer mehr Jugendliche trugen dieses Symbol als Zeichen ihrer Sorge angesichts einer zunehmenden Hochrüstung und nahmen nicht geringe Repressalien und Schikanen dafür in Kauf. 1981 wurden die Aufnäher verboten. "Wehrkraftzersetzung" und "Friedensfeindlichkeit" waren die absurden Vorwürfe, mit denen die Träger des Symbols unter Druck gesetzt wurden. Viele Jugendliche widersetzten sich dem Verbot – andere nähten sich aus Protest weiße, unbedruckte Flecken auf die Ärmel – oder sie schrieben mit Filzstift "Hier war ein Schmied".
Die Bewegung "Schwerter zu Pflugscharen", die 1980-82 als Antiaufrüstungsbewegung in der DDR ihren Anfang nahm, wurde 1989/90 zu einer großen Sammelbewegung für Menschen, die ihren Unmut und ihre Unrechtserfahrungen mit dem DDR-Regime nicht mehr länger bei sich behalten und ihrer Sehnsucht nach Freiheit Raum geben wollten. Was mit einer kleinen, mutigen Gruppe und den Friedensgebeten in der Kreuzkirche und an der Ruine der Frauenkirche begann, wurde zu einer Bewegung, die den geistig-geistlichen Nährboden für viele Tausende bereitete, die am Ende einem ganzen Land einen politischen Umsturz brachten.
Tausende versammelten sich damals in den Kirchen und Gemeindehäusern – den einzigen Schutzräumen, die der totalitäre DDR-Staat duldete. Sie waren nicht alle Christen, nicht alle engagierte Gemeindeglieder und auch nicht alle Kirchgänger, gewiss. Aber in diesen Kirchen, unter diesen Menschen damals wurde spürbar, was christliche, was evangelische Freiheit – im Wortsinn – bedeuten kann. Es wurde deutlich, wozu unser frei machender Glaube uns anstiften und wie er hinein wirken kann in unser Leben. Solche Momente neuer, bis dahin unbekannter Freiheit, werden aus dem Jahr 1989 immer wieder berichtet. In einem Punkt gleichen sich viele Berichte und unterschiedliche Erinnerungen der Menschen: Sie spürten etwas, das stärker war als die und der einzelne, stärker auch als die Furcht vor Repressionen. Der gewaltfreie Fall der Mauer, die friedliche Revolution in der ehemaligen DDR gehen auch auf diese Erfahrung zurück: vermittelt im Freiraum der Kirche, vermittelt durch die befreiende Kraft des Evangeliums. Die visionäre biblische Forderung "Schwerter zu Pflugscharen" hat in diesem konkreten historischen Kontext die Gegenwart friedlich verändert.
V. "Schwerter zu Pflugscharen" – ein Grundimpuls für die aktuelle Friedensdenk-schrift der EKD
Die für die Evangelische Kirche in Deutschland (EKD) friedensethisch bestimmenden Leitgedanken lassen sich in der Kurzformel vom "gerechten Frieden" zusammenfassen. In ihrer Friedensdenkschrift von 2007 formuliert die EKD angeleitet von der prophetischen und jesuanischen Friedensvision unter anderem folgende Kerngedanken:
Der friedensethische Leitbegriff der EKD, die Formel vom "gerechten Frieden", bezeichnet die Einsicht, dass nachhaltiger irdischer Friede nur dann wachsen kann, wenn er dauerhaft und systematisch mit Recht und Gerechtigkeit verbunden ist. Die Rede von "Gerechtigkeit" meint dabei die materielle und soziale Gerechtigkeit, der Begriff "Recht" bezieht sich auf die internationale Weltordnung, die als Rechtsordnung auf die Wahrung, Förderung und Erneuerung des Friedens abzielt.
Die Rede vom "gerechten Frieden" grenzt sich ausdrücklich vom Gedanken des "gerechten Krieges" ab, der über anderthalb Jahrtausende ─ von Aurelius Augustinus im vierten Jahrhundert unserer Zeitrechnung bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges ─ die christliche Friedensethik bestimmt hatte. Wer vom "gerechten Frieden" spricht, wird es daher für ausgeschlossen halten, dass Kriege gerecht und somit gut sein können. Kriege sind vielmehr grundsätzlich schrecklich, grausam und der Ausdruck des Scheiterns einer lebensdienlichen Politik.
Die Lehre vom gerechten Frieden beinhaltet vor diesem Hintergrund unter anderem folgende Aspekte:
- der Primat der Politik vor dem Militärischen;
- die Betonung der Versöhnung und Verständigung zwischen den Völkern als Ziel der Politik;
- die Gestaltung einer vernünftigen Weltfriedensordnung als einer internationalen Rechtsordnung ("rule of law");
- der prinzipielle Vorrang von gewaltfreien vor militärischen Lösungen;
- der Primat der Prävention vor der Intervention;
- die Verbesserung der weltweiten sozialen Gerechtigkeit, d.h. vor allem die wirksame Bekämpfung von Armut, Hunger, materieller Not und Elend;
- der kontinuierliche Ausbau der Entwicklungshilfe für arme und bedürftige Länder;
- die Entwicklung einer leistungsfähigen Friedensforschung;
- der Aufbau und Ausbau von zivilen christlichen Friedensdiensten;
- die Betonung der Notwendigkeit einer umfassenden Bildung und Erziehung für den Frieden.
In großen Teilen ist die Explikation eines "Gerechten Friedens" von den alten prophetischen Friedensvisionen bestimmt. Die Denkschrift markiert dies ausdrücklich: "Der prophetischen Überlieferung verdankt die Christenheit die Vision einer friedens¬stiftenden, Konflikte schlichtenden Weisung Gottes, die die Bereithaltung von Waffen überflüssig macht und neue Wege des Zusammenlebens der Völker eröffnet (Jes 2,2–4; Mi 4,1–5)."[5]
Die Lehre vom gerechten Frieden ist jedoch nicht identisch mit einem reinen, radikalen und uneingeschränkten Pazifismus. Sie sieht bei aller Betonung des Vorrangs des Zivilen und des Primats der Gewaltfreiheit die Möglichkeit des Einsatzes einer "rechtserhaltenden Gewalt" ausdrücklich vor. Freilich nur in einer sehr eingegrenzten Weise. Der Einsatz rechtserhaltender Gewalt kann nur im Einklang mit der internationalen Rechtsordnung zur unmittelbaren Selbstverteidigung, somit als "Notwehr", und/oder im ausdrücklichen Auftrag der Vereinten Nationen als "Nothilfe" gegen drohende Genozide oder im Falle schwerer, massiver, systematischer Menschenrechtsverletzungen erfolgen. Die Denkschrift skizziert den Umriss einer differenzierten Kriteriologie, die bei ethischen und politischen Erwägungen zum Einsatz rechtserhaltender Gewalt anzuwenden ist.[6]
VI. Zusammenfassung und Schlussbemerkungen
"Schwerter zu Pflugscharen“ - eine veraltete theologische Forderung? Das war Thema und zugleich Leitfrage meines Vortrags. Meine Antwort ist implizit hoffentlich schon deutlich geworden. Explizit soll die Frage an dieser Stelle zusammenfassen anhand der zu Beginn genannten zwei Kriterien beantwortet werden:
1. Die alte theologische Forderung "Schwerter zu Pflugscharen" ist nicht veraltet, weil sich unsere konkreten Lebensverhältnisse gegenüber den Lebensverhältnissen des Propheten Micha nicht grundsätzlich verändert haben: Krieg und Gewalt erleben und erleiden zu müssen gehört zur täglichen Realität auf dieser Erde. Auch 2500 Jahre nach Micha sehnen sich Menschen und suchen Menschen nach Wegen zu einem gerechten und nachhaltigen Frieden.
2. Die alte theologische Forderung "Schwerter zu Pflugscharen" ist auch nach christlich-theologischen Kriterien nicht veraltet, weil das Ziel dieser Forderung "Christum treibet". Jesus Christus preist die Menschen selig – also von Gottes Gegenwart und Liebe begleitet –, die Frieden stiften und um der Gerechtigkeit willen Verfolgung erleiden. Christi Leben, Sterben und Auferstehen inspirierten Menschen zu allen Zeiten die Forderung "Schwerter zu Pflugscharen" in konkretes Handeln umzusetzen.
Die endzeitliche Friedensvision der alttestamentlichen Propheten schenkte und schenkt Menschen ein immer neu aktuelles, inspirierendes und handlungsleitendes Symbolbild. Die visionäre Forderung "Schwerter zu Pflugscharen" spricht nicht von einer irrealen, sondern von einer möglichen Zukunft, die sogar jederzeit, also auch in der Gegenwart, mit uns und für uns schon beginnen kann. Sie wurde für uns heute zur Kurzformel für ein friedensethisches Programm, das unter anderem die Forderung nach Abrüstung, Rüstungskontrolle und -konversion sowie die Erziehung und Bildung für den Frieden im Alltag einschließt. Von ihr her und auf sie bezogen hat sich das aktuelle Leitbild der EKD eines "Gerechten Frieden" und die mit ihm verbundene aktuelle evangelische Friedensethik entwickelt. Menschen brauchen gerade in Zeiten von Krisen die Kraft von Visionen, die ihnen Wegweisung und Hoffnung schenken. Dass sie sich nicht abfinden mit dem, was ist. Dass sie fragen und suchen nach dem, was sein kann und sein soll – um Gottes und um der Menschen willen. Also: "Schwerter zu Pflugscharen" – das gilt auch heute!
Fußnoten:
- Aus Gottes Frieden leben - für gerechten Frieden sorgen: Eine Denkschrift des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland, Gütersloh 2. Auflage 2007, 99-108.
- Aus Gottes Frieden leben - für gerechten Frieden sorgen, a.a.O., 100.
- Vgl. den diesbezüglichen Artikel bei "idea" (09.10.2011, 6).
- Aus Gottes Frieden leben - für gerechten Frieden sorgen, a.a.O., 36.
- Aus Gottes Frieden leben - für gerechten Frieden sorgen, a.a.O., 50f.
- Aus Gottes Frieden leben - für gerechten Frieden sorgen, a.a.O., 65-79.