Landwirtschaft im Spannungsfeld, zwischen Wachsen und Weichen

Ziele zukünftiger Struktur- und Agrarentwicklung

3.1 Theologische Perspektiven und ethische Kriterien

(41) Beim Nachdenken über wirtschaftliche und politische Ziele geht es um grundsätzliche Lebenseinstellungen von Menschen und damit verbunden um gesellschaftliche Wertvorstellungen. Kirche und Theologie bringen sich als Gesprächspartner ein, um aus dem christlichen Glauben Beurteilungskriterien und Entscheidungshilfen zu entwickeln und die Intentionen biblischer Zeugnisse sinngemäß deutlich zu machen. In der EKD-Denkschrift »Aufgaben und Grenzen kirchlicher Äußerungen zu gesellschaftlichen Fragen« heißt es: »Die eigentliche Intention der biblischen Aussage wird erkennbar in der Konfrontation mit der Gegenwart, und die gegenwärtige Lage wiederum bedarf der Erhellung in der Konfrontation mit der biblischen Aussage. Daher kann eine Entscheidung nur im Hin und Her zwischen theologischen und durch Sachanalyse geleiteten Erwägungen gewonnen werden.«Dabei ist sich die Kirche immer bewußt, daß jede Konkretisierung von Glaubenserkenntnissen in bestimmten Situationen hinein ein Wagnis ist und Irrtum nicht ausschließt.

(42) Nicht selten wird heute menschliches und kreatürliches Leben dadurch gefährdet, daß bestimmte Leitvorstellungen einseitig in den Vordergrund gerückt werden und z. B. menschliches Glück allzusehr vom wirtschaftlichen Erfolg, von der Steigerung des Wohlstandes und des materiellen Gewinns abhängig gemacht wird. Dadurch können die Beziehungen der Familienmitglieder untereinander und die Beziehungen der Menschen überhaupt verarmen, die Solidarität zwischen den jetzt Lebenden wie die notwendige Vorsorge für zukünftige Generationen können gefährdet werden. Ziel und Leitvorstellungen einschließlich der zugrundeliegenden Menschenbilder und Auffassungen von Natur und Schöpfung, wie sie heute diskutiert werden, müssen kritisch geprüft werden.

(43) Die durch Jesus Christus vermittelte Versöhnung, Freiheit, Liebe und Gerechtigkeit weisen auf ein von Gott erschlossenes Leben hin. Auch wenn sich diese Botschaft nicht auf ethische Anweisungen verkürzen läßt, so werden jedoch Perspektiven sichtbar, die für unsere Gegenwartsprobleme entscheidend wichtig sind. Zu diesen Perspektiven gehören das Versöhnungshandeln Christi, die Botschaft von der Schöpfung und der fürsorglichen Erhaltung der Welt sowie die Verheißung der endgültigen Erlösung und Befreiung des Menschen und aller Kreatur. Es kommt darauf an, im einzelnen zu prüfen, inwieweit sich aus dem Glauben an Gott, den Schöpfer, Versöhner und Befreier Kriterien für das Handeln ergeben.

(44) Dies geschieht im Zusammenspiel von Sach- und Problemanalyse einerseits, der Auseinandersetzung mit gegenwärtigen Ziel- und Wertvorstellungen und biblischen Kriterien andererseits. Für die hier zu behandelnden Problemfelder sind folgende Kriterien von Bedeutung:

  • Mitgeschöpflichkeit;
          
         
  • Dienst an der Schöpfung statt ausbeuterischer Herrschaft über die Natur und die Menschen;
          
         
  • verantwortliche Haushalterschaft;
          
         
  • Mitmenschlichkeit und Solidargemeinschaft untereinander, mit den kommenden Generationen und mit der Kreatur;
          
         
  • freie Entfaltungsmöglichkeiten und gerechte Anteilhabe;
          
         
  • Eintreten für gesellschaftlich Schwache.

Diese Kriterien zielen auf Prinzipien der Naturverträglichkeit, der Sozialverträglichkeit sowie der generativen Verträglichkeit. (Folgewirkungen für zukünftige Generationen) und der internationalen Verträglichkeit (Auswirkungen auf andere Länder).

(45) Werden solche Kriterien auf die anstehenden Probleme bezogen, so ergeben sich häufig Zielkonflikte. Dabei muß doch deutlich sein, daß nicht allein ökonomische und technische Gesichtspunkte den Ausschlag geben können, ebensowenig allein ökologische oder soziale. Die Gesichtspunkte der Natur- und Sozialverträglichkeit, der generativen und der internationalen Verträglichkeit müssen immer gleichzeitig überprüft und miteinander abgewogen werden.

3.2 Ziele zukünftiger Agrarpolitik und die Leistungsfähigkeit einer bäuerlich geprägten Landwirtschaft

(46) Aus der dargelegten ganzheitlichen Betrachtungsweise lassen sich folgende (durchaus spannungsreiche) Ziele für die Agrarpolitik nennen:

  • Sicherung einer ausreichenden Nahrungsmittelversorgung der Bevölkerung mit qualitativ hochwertigen Produkten zu angemessenen Preisen;
          
         
  • Erhaltung selbständiger, wettbewerbsfähiger bäuerlicher Betriebe bei weitgehendem Einsatz familieneigener Arbeitskräfte und bei einer breiten gestreuten Verfügbarkeit über das Bodeneigentum in einem umweltfreundlichen, sozialen Verpflichtungsrahmen;
          
         
  • gleichwertige Teilnahme der Land- und Forstwirtschaft an der Entwicklung des allgemeinen Lebensstandards;
          
         
  • langfristige Bewahrung der Funktionsfähigkeit örtlicher Naturhaushalte und der Bodengesundheit bei schonender Nutzung der natürlich verfügbaren Güter (Boden, Wasser, Klima) und verantwortlicher Umgang mit der Tierwelt;
          
         
  • Aufrechterhaltung einer tragfähigen Besiedlungsstruktur in ländlichen Räumen unter Erhaltung eines vielfältigen, gegliederten Landschaftsbildes;
          
         
  • Beitrag zur Lösung der Welternährungsprobleme und Gestaltung der agrarwirtschaftlichen Außenbeziehungen.

(47) Eine bäuerlich geprägte Landwirtschaft als regional unterschiedliches Mit- und Nebeneinander von landwirtschaftlichen Voll-, Zu- und Nebenerwerbsbetrieben kann diesen genannten Zielen besser gerecht werden als große »Agrarfabriken«. Das bedeutet allerdings nicht, die jetzigen Strukturen einzufrieren. Sie sind vielmehr weiterzuentwickeln, wobei ökonomischen, gesellschaftspolitischen, sozialen und ökologischen Erfordernissen Rechnung zu tragen ist.
Weder die Flächenausstattung noch ökonomische Richtwerte noch die Technikausstattung allein können zur Kennzeichnung einer bäuerlich geprägten Landwirtschaft dienen. In der Regel können 11/2 bis 2 Personen in Haupterwerbsbetrieben unter erträglichen Arbeitsbedingungen eine angemessene Entlohnung und bei Nebenerwerbsbetrieben ein angemessenes Gesamteinkommen erzielen, auch unter Zuhilfenahme überbetrieblicher Formen der Zusammenarbeit. Es gibt, wie im folgenden deutlich wird, viele Gründe, die ein Festhalten an dem Leitbild einer bäuerlich geprägten Landwirtschaft erfordern.

(48) Ein bäuerlicher Betrieb bereitet trotz aller - Spezialisierung und Rationalisierung vielen Familien durch die unterschiedlichsten Entfaltungsmöglichkeiten ein Berufsfeld mit hoher Befriedigung:

  • eigenständige Arbeitsgestaltung, unterschiedliche Tätigkeitsfelder, ganzheitliche Entfaltungsmöglichkeiten, Umgang mit Natur und Technik, Überschaubarkeit der Lebens- und Arbeitsvollzüge,
          
         
  • die Ehe vielfach als Lebens- und Arbeitsgemeinschaft, das Miteinander von Generationen und Nachbarschaften, Anteilnahme am Leben der anderen, Erfahrungs- und Einübungsfeld für die Kinder, Möglichkeiten der Mitarbeit und Mitverantwortung der Älteren,
          
         
  • die Erfahrung, daß nicht alles kalkulierbar, berechenbar und beeinflußbar ist, eine unmittelbare Begegnung mit den Geheimnissen von Wachsen, Reifen und Sterben.

Das alles sind Werte, die heute nur noch in wenigen Berufen in dieser Dichte erlebt werden können. Das Aufeinander-Angewiesen-Sein von Menschen und die engen, vielfältigen Berührungspunkte in Arbeit und Freizeit können umgekehrt aber auch schwere Konfliktsituationen entstehen lassen. Die Zufriedenheit in der bäuerlichen Lebenswelt ist ohnehin von vielen Faktoren abhängig, nicht zuletzt von den dort gerade lebenden Menschen, ihren Einstellungen und Grundhaltungen, aber auch von den äußeren, sehr unterschiedlichen Bedingungen. Das bäuerliche Leben romantisieren wird ohnehin nur, wer keine nähere Kenntnis von der mehr und mehr spezialisierten und technisierten Arbeitswelt hat, die zwar neue Freiheitsspielräume schafft, aber gleichzeitig auch der Selbstentfaltung Grenzen setzt und den Menschen neuen Zwängen unterwirft. Die Doppelgesichtigkeit von Technik und Fortschritt wirkt sich auch hier aus.

(49) Dennoch stellt die in der Regel partnerschaftlich erbrachte persönliche Leistung der Familie trotz der möglichen Konfliktsituation nicht nur einen großen wirtschaftlichen, sondern einen erheblichen sozialpsychologischen und sozialpädagogischen Wert dar, wenn die vorhandenen Möglichkeiten einer humanen Arbeitsorganisation, auch für Bäuerinnen und für mithelfende Familienangehörige, richtig genutzt werden. Zwar ist in vielen Betrieben die Arbeitsbelastung insbesondere für die Bäuerinnen immer noch stark und gelegentlich gesundheitsgefährdend. Andererseits bieten sich aber zahlreichen in der Landwirtschaft tätigen Frauen vielerlei Arbeitsmöglichkeiten auf dem Hof. So ist besonders Teilzeitarbeit für mithelfende Ehefrauen und Familienangehörige vergleichsweise gut möglich. Das ist deshalb bedeutsam, weil gerade auf den ländlichen Arbeitsmärkten wenig Teilzeitarbeitsplätze zur Verfügung stehen.

(50) Eine bäuerlich geprägte Landwirtschaft ist durchaus in der Lage, sich den Erfordernissen einer natur- und umweltverträglichen Agrarproduktion die ökologische anzupassen, wenn die entsprechenden politischen Anpassungsfähig und volkswirtschaftlichen Rahmenbedingungen dafür geschaffen werden. Allerdings sagen die viel kleineren Betriebs- und Bestandsgrüßen, die weithin noch in der Bundesrepublik im Vergleich etwa zu Großbritannien, Dänemark und den Niederlanden anzutreffen sind, allein noch wenig darüber aus, wie umwelt- und tierfreundlich produziert wird.

(51) Aus raumordnungs- und gesellschaftspolitischen Gründen sollten möglichst viele selbständige Existenzen, zu denen auch Nebenerwerbslandwirte zählen, erhalten werden. Das gilt vor allem für die Sicherung der Besiedlungsdichte von strukturschwachen ländlichen Räumen.

(52) Die hohe wirtschaftliche Leistungsfähigkeit der bäuerlich geprägten Landwirtschaft ist vielfach nach dem Zweien Weltkrieg unter Beweis gestellt worden. Gleichwohl weist die derzeitige Agrarstruktur heute noch erhebliche Mängel auf, würde sie allein an einer optimalen Kombination der Produktionsfaktoren Boden, Arbeit und Kapital gemessen. Bei umfassender Nutzung des z. Z. verfügbaren technisch-wissenschaftlichen Fortschritts wären statt der gegenwärtig vorhandenen rd. 450000 landwirtschaftlichen Haupterwerbsbetriebe nur noch weniger als 200000 erforderlich. Dies ist aber aus gesellschaftlichen, ökologischen und arbeitsmarktpolitischen Gründen weder wünschenswert noch durchsetzbar.

3.3 Perspektiven der Sozialverträglichkeit für landwirtschaftliche Problembetriebe

(53) Das besondere Augenmerk der Kirche hat heute den Menschen in den über 100000 Problembetrieben zu gelten. Ihre Inhaber haben geringe Einkommen und Angst, weder wachsen noch (mangels Alternativen am Arbeitsmarkt) weichen zu können. Das gleiche gilt für die Inhaber mittelgroßer Betriebe, die auch schon um ihre Existenz bangen. Besonders in einer Zeit, in der nur noch wenige qualifizierte Arbeitsplätze in ländlichen Regionen angeboten werden, kann man sich nicht gegen jeden weiteren Strukturwandel aussprechen, schon um der Freiheit der Entscheidung jener willen, die ihre Berufserfüllung nicht in der Landwirtschaft sehen und sich manchmal angesichts der dort geforderten Fachkenntnisse überfordert fühlen. Die möglichst freie Berufswahl nach Neigung und Fähigkeiten ist ein hohes Gut.

(54) Oft reicht die Ausstattung des Betriebes mit Boden oder Kapital nicht zur Existenzgrundlage der Familie aus. Eine Nebenerwerbslandwirtschaft mit guter Arbeitsorganisation bietet Entfaltungsmöglichkeiten in ganz verschiedenen Bereichen. Landwirtschaftliche Arbeitskräfte sind wegen ihres Berufsethos und ihrer praktischen Fähigkeiten in vielen anderen Wirtschaftsbereichen auch heute noch gefragt. jedoch ist die Nachfrage regional sehr unterschiedlich. Für viele bleibt angesichts der Arbeitsmarktsituation heute keine andere Möglichkeit , als den Hof weiter zu bewirtschaften. Die Agrar-, Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik muß daher Ramenbedingungen schaffen, die einen sinnvollen Strukturwandel nicht verhindern, ökologisch und gesellschaftspolitisch bedenkliche Konzentrationsprozesse aufhalten und den Inhabern von kleineren und mittleren bäuerlichen Betrieben eine Perspektive der Sozialverträglichkeit verschafft. Den Menschen in diesen Betrieben helfen, braucht aber nicht zu heißen, sie langfristig in Strukturen zu lassen, in denen sie trotz aller staatlicher Unterstützung kein befriedigendes Einkommen erwirtschaften können. Erschwert wird die Lösung dieses Problems heute dadurch, daß der Spielraum der Agrarpolitik zur Schaffung neuer Rahmenbedingungen durch die Zuspitzung des Überschußproblems sowie die begrenzten Möglichkeiten der öffentlichen Haushalte sehr gering ist.

3.4 Grundpositionen in der EG-Agrarreformpolitik

(55) In der gegenwärtigen agrarpolitischen Reformdiskussion werden vor allem zwei Grundpositionen mit dem Ziel vertreten, die Marktordnungsausgaben zu begrenzen und das Marktgleichgewicht wieder herzustellen:

  • Im ersten Fall fordert man eine stärker am Markt orientierte EG-Preispolitik. Sie wird zwar erst nach einigen Jahren voll wirksam, ermöglicht dann aber notwendige Produktions- und Strukturanpassungen und führt so in der europäischen Landwirtschaft zu einem Marktgleichgewicht;
          
         
  • im anderen Fall geht man davon aus, daß die aktuellen Finanzschwierigkeiten der Europäischen Gemeinschaft kurzfristig nicht allein durch Preissenkungen gelöst werden können. Für eine begrenzte Zeit werden daher in einigen Produktionsbereichen, wie etwa bei der Milcherzeugung, direkte Mengenbegrenzungen für erforderlich gehalten.


(56) Die gegenwärtige Diskussion über die Maßnahmen zur Begrenzung der Marktordnungsausgaben darf nicht ausschließlich unter dem Gesichtspunkt der akuten Finanzierungsprobleme der EG-Agrarpolitik gesehen werden. Mit der Grundentscheidung für die eine oder andere Alternative der Politik sind schwerwiegende Auswirkungen für die künftige Entwicklung der europäischen Möglichkeiten Landwirtschaft und für die in ihr lebenden und arbeitenden Menschen verbunden, die bedeutsame gesellschaftliche Werte und Ziele in unterschiedlicher Weise betreffen können. Die Anwendung von marktwirtschaftlichen Prinzipien ist kein unumstößliches Gebot, sondern lediglich ein Mittel zum Zweck der Steuerung von Angebot und Nachfrage mit möglichst wenig reglementierenden Maßnahmen und der individuellen Möglichkeit für selbst verantwortliche Entscheidungen. Die negativen Erfahrungen mit anderen Wirtschaftssystemen warnen vor zu tiefen Eingriffen in unser Marktordnungssystem. Dennoch kann die Sicherung des sozialen Friedens (Sozialverträglichkeit) und der Umweltbelange (Naturverträglichkeit) oder die Nichtfinanzierbarkeit von Überschüssen durchaus Korrekturen und andere Steuermechanismen erforderlich machen. Auch der garantierte Preis ist eine Einschränkung der freien Marktwirtschaft. Ebenso sind viele Weltmarkt preise nicht ausschließlich im freien Spiel der Marktkräfte entstanden. Gerade die Kirche muß immer wieder darauf hinweisen, daß es nicht nur die Freiheit der Konkurrenten am Markt zu bedenken gibt, sondern auch die Freiheit der wirtschaftlich weniger Starken, ihr Leben sozial erträglich gestalten zu können. Es gilt daher, im einzelnen sorgfältig abzuwägen, wie weit der freie Markt mit indirekten Anreizen (Steuerabgaben, Subventionen) oder mit bürokratischen Entscheidungsverfahren (Gebot, Verbot und Mengenvorgabe) eingeschränkt werden muß. Dabei sollten die verschiedenen Reformmodelle auf ihre spezifischen Vor- und Nachteile hin sehr differenziert geprüft werden.

(57) Im bisherigen System der europäischen Agrarpolitik erfolgt die Steuerung von landwirtschaftlicher Produktion und betrieblichem Faktoreinsatz (Arbeitskräfte, Kapitaleinsatz, Bodenausstattung) trotz vielfältiger politischer Eingriffe und Preisstützungsmaßnahmen im Prinzip durch marktwirtschaftliche Mechanismen. Nur in einem begrenzten Teilbereich (Zuckerrüben) wird die marktwirtschaftliche Steuerung durch direkte staatliche Mengenfestlegung ersetzt. Dieses Ordnungssystem sichert dem einzelnen freie Entscheidungsspielräume, die durch politische Rahmenbedingungen mehr oder weniger eingegrenzt sind. Darüber hinaus bleibt der Zusammenhang von erzieltem Einkommen und erbrachter Leistung gewährleistet.

3.5 Auswirkungen der Reformvorschläge

(58) Es ist zu fragen, welche Konsequenzen die beiden genannten Grundpositionen zur Reform der Agrarpolitik haben werden. Die Produktions- und Überschußprobleme sind im Rahmen des marktwirtschaftlichen Systems am wirksamsten durch die Rücknahme von staatlichen Preisgarantien zulösen. Bei der Dynamik des landwirtschaftlichen Produktionswachstums dürften jedoch drastische Preissenkungen erforderlich sein, um die Märkte tatsächlich zu entlasten und den Anstieg der Marktordnungsausgaben zu verringern. Dabei sind unter den mitteleuropäischen Produktionsbedingungen bei einer Preisfestschreibung oder bei geringen Preissenkungen kaum geringere Hektarerträge und Nutzleistungen der Tiere, sondern eher eine Einschränkung von Investitionen und eine extensivere Nutzung der Flächen an Grenzstandorten zu erwarten. Andererseits setzt sich eine Preissenkung in eine erhebliche Einkommensminderung je Produktionseinheit um: 1 % Preissenkung bedeutet 3 - 4 % Einkommenssenkung. Die notwendigen drastischen Preissenkungen würden daher zu einem starken Einkommensdruck und damit zu einem erheblichen Anwachsen der Zahl der Problembetriebe führen und dies zu einem Zeitpunkt, in dem die ungünstigen außerlandwirtschaftlichen Beschäftigungsverhältnisse es kaum erlauben, die eintretende verstärkte Freisetzung von landwirtschaftlichen Arbeitskräften aufzufangen und den Übergang in andere Berufe zu gewährleisten. In einer sozialen Marktwirtschaft hat die Agrarpolitik gestaltend darauf hinzuwirken, daß der unvermeidliche Strukturwandel sich in Formen vollzieht, die sozial erträglich sind, die die Funktionsfähigkeit ländlicher Räume erhalten und die auch den ökologischen Zielvorstellungen nicht zuwiderlaufen. Darum muß sichergestellt sein, daß die Menschen nicht zu rasch und zu weitgehend aus den abgelegenen landwirtschaftlichen Räumen abwandern und daß die betriebliche Anpassung im verstärkten Maße durch den Übergang in den Zu- und Nebenerwerb erfolgt.

(59) Als Ergänzung der marktorientierten Agrarpreispolitik wird vielfach die Einführung von direkten Einkommensübertragungen diskutiert. Derartige Maßnahmen können dazu beitragen, soziale Härten während einer Übergangsphase abzumildern. Sie sind insbesondere zu erwägen, wenn man bei der derzeitigen Beschäftigungslage eine marktorientierte Agrarpreispolitik sozial absichern will. Direkte Einkommensübertragungen sollten mit der Auflage verbunden sein, daß die Begünstigten einen Beitrag zum Abbau von Überschüssen leisten. Bei den derzeitigen Überschußproblemen bei Milch könnte man sich beispielsweise vorstellen, daß älteren Inhabern von Betrieben mit kleineren und mittleren Milchkuhbeständen direkte Einkommensübertragungen bis zum Ausscheiden aus dem Erwerbsleben angeboten werden, wenn sie die Milchkuhhaltung aufgeben. Bei dauerhafter Einführung ist jedoch zu bedenken, daß die landwirtschaftlichen Betriebsleiter mehr und mehr von den Entscheidungen der staatlichen Einkommenspolitik abhängig werden. Dadurch kann das angestrebte gesellschaftliche Ziel -die Erhaltung selbständiger Existenzen - in Frage gestellt werden. Subventionen und direkte Einkommensübertragungen sind dagegen in marktwirtschaftlichen Systemen dann als dauerhafte Instrumente gerechtfertigt, wenn sie zur Abgeltung besonderer gesellschaftlicher Leistungen wie etwa im Hinblick auf ökologische oder landschaftserhaltende Ziele gewährt werden. Der Richtung nach wird das mit dem sog. Bergbauernprogramm versucht, allerdings nicht immer zielgerecht. Eine allgemeine Subventionierung der Landwirtschaft etwa nach der landwirtschaftlichen Nutzfläche läßt sich damit jedoch nicht begründen. Gelegentlich wird auch der Vorschlag diskutiert, ertragssteigernde Produktionsmittel und Verfahren im pflanzlichen und tierischen Bereich mit einer Sondersteuer zu belegen. Soweit geringere Umweltbelastungen zu erwarten sind, kann man die Einführung solcher Maßnahmen erwägen. Allerdings würde dies bei unveränderten Agrarpreis die Einkommen verschlechtern und kleine sowie mittelbäuerliche Betriebe besonders hart treffen.

(6o) Mit der Einführung der direkten Mengensteuerung in wesentlichen Teilbereichen des Agrarmarktes sind weitgehende Eingriffe in die Handlungsspielräume der Betriebsleiter verbunden. Individuelle Planung und Entscheidung werden durch staatliche Vorgaben ersetzt. Erfahrungsgemäß sind staatliche Entscheidungsträger und Bürokratien kaum in der Lage, eine direkte Produktions- und Investitionslenkung in wirtschaftlich sinnvolle und sozial gerechter Weise durchzuführen. Vielmehr muß ständig mit politischen Auseinandersetzungen um Produktionsquoten zwischen Ländern, Regionen und Einzelbetrieben gerechnet werden. Angesichts der Versuchung, staatliche Vorgaben zu unterlaufen oder zu umgehen, würde außerdem auf ein wirksames Überwachungs- und Kontrollsystem nicht verzichtet werden können.

(61) Auch die Vorstellung, Quotenregelungen nur für eine begrenzte Übergangszeit einzuführen, ist mit Fragezeichen zu versehen. Erfahrungsgemäß ist nicht damit zu rechnen, daß derartige Regelungen lediglich zum Abbau wirtschaftlich . wenig sinnvoller struktureller Überschüsse eingesetzt werden. Unter den gegebenen politisch-ökonomischen Bedingungen der Europäischen Gemeinschaft besteht die Gefahr, daß Quotenregelungen, wenn sie in einem zentralen Bereich, etwa der Milchviehhaltung, eingeführt werden, sich schrittweise zu einem umfassenden System der Produktions- und Investitionslenkung für den Agrarbereich ausweiten. Darüber hinaus können Quotenfestsetzungen, die sich an dem Ist-Zustand eines bestimmten Stichtages orientieren, hemmend auf die weitere Strukturentwicklung wirken und die bestehenden Einkommensverhältnisse festschreiben. Den kleineren Betrieben und den strukturschwachen Regionen wird dadurch die weitere Entwicklungsmöglichkeit abgeschnitten. Die direkte staatliche Mengensteuerung des Agrargüterangebots kann daher nur als ein letztes Mittel in einer völlig ausweglosen Situation angesehen werden. Selbst, wenn derartige Maßnahmen unter akutem Finanzdruck ausgeführt werden, ist davon keine langfristig befriedigende Lösung der Agrarprobleme zu erwarten. Sollte im Milchsektor eine Quoten- bzw. Garantienmengenregelung unumgänglich werden, so müßte noch näher geprüft werden, ob die Einführung ei Abgabe für die Milchmenge, die über eine Höchstmenge je Hektar hinaus angeliefert wird, eine sinnvolle Ergänzung darstellt. Dadurch würde der Import von Futtermitteln aus Drittländern eingeschränkt, der Zwang zur Leistungssteigerung vermindert und die Ausdehnung der Produktion ohne ausreichende eigene Futtergrundlage unterbleiben. Darüber hinaus weisen importierte Futtermittel aus Entwicklungsländern nicht selten wegen unsachgemäßen Einsatzes von Pflanzenschutzmitteln erhöhte Rückstände auf. Es wird auch daran wieder deutlich, wie sehr heute agrarische, ökologische und entwicklungspolitische Fragen miteinander verflochten sind.

(62) Gelegentlich wird auch ein System gestaffelter Preise oder gestaffelter Erzeugerabgaben auf bestimmte, quotenübersteigende Mengen vorgeschlagen. Auf diese Weise soll kleinen und mittelbäuerlichen Betrieben durch höhere Preise für eine bestimmte Produktionsmenge die Existenz gesichert und zugleich der Anreiz zur Überschußproduktion verringert, wenn nicht gar genommen werden. Dabei ist jedoch zu bedenken, daß eine Preisspaltung in der praktischen Durchführung auf erhebliche Schwierigkeiten stößt. Dennoch sind die Ziele, die mit den Vorschlägen der Mengenbegrenzung in Form von gestaffelten Preisen oder auch mit der Besteuerung von ertragssteigernden Produktionsmitteln angestrebt werden, bei allen Schwierigkeiten der praktischen Durchführung voll zu bejahen, nämlich eine Lösung zu finden, dieneben den ökonomischen und marktordnungspolitischen Faktoren stärker die ökologischen, arbeitsmarktpolitischen und sozialen Gesichtspunkte berücksichtigt. Es gilt zu verhindern:

  • Die intensive Bewirtschaftung und Leistung auch bei ökologisch bedenklichen Folgen immer weiter zu steigern (Zwang zum Wachsen und zur weiteren Konzentration);      
         
  • die Existenz kleiner und mittlerer bäuerlicher Betriebe mit teilweise landschaftserhaltenden Funktionen zu gefährden;
          
         
  • Anreize für eine nicht mehr absetzbare und finanzierbare. Überschußproduktion zu geben unter Zuhilfenahme von billigen Futtermittelimporten, die ihrerseits wiederum die flächenunabhängige Produktion hierzulande begünstigen und dazu auch noch, sofern sie aus Entwicklungsländern kommen, negative Auswirkungen in diesen Ländern haben können;
          
         
  • eine langfristige Reglementierung und Verbürokratisierung, die die Entscheidungsspielräume der Landwirte immer mehr einengt und die Strukturen völlig festschreibt.
    Eine kirchliche Denkschrift kann nicht ein agrarpolitisches Reformkonzept als allein richtig und erfolgversprechend ausgeben, aber sie muß darauf dringen, daß die herausgestellten Ziele in der praktischen Politik trotz der Interessengegensätze mit Entschiedenheit verfolgt werden.

3.6 Empfehlungen für flankierende Maßnahmen

(63) Die aufgezeigten Probleme und langfristigen Folgen zeigen, daß der Spielraum für eine grundlegende Reform der gegenwärtigen Agrarpolitik gering ist, will man unter den mitteleuropäischen Strukturbedingungen tiefgreifende Auswirkungen auf die soziale Lage der Landwirtschaft vermeiden. All dies muß daher bei der anstehenden Grundsatzentscheidung sorgsam bedacht werden. Wie auch immer die Entscheidungen ausfallen werden eine Fortsetzung der bisherigen Politik ist nicht möglich, es ist damit zu rechnen, daß sie zu einer Verstärkung des Einkommensdrucks führen müssen. Um ihn zu mildern, sind die Möglichkeiten direkter Einkommensübertragungen stärker zu nutzen. Auch sollte das Solidaritätsprinzip bei der agrarsozialen Sicherung künftig mehr als bisher zur Geltung kommen. Dieses läßt sich durch die Einführung von differenzierten Beiträgen zur landwirtschaftlichen Sozialversicherung (Krankenversicherung, Unfallversicherung, Altershilfe) erreichen, die nach der Wirtschaftskraft der Betriebe bemessen werden. Einkommensschwächere bäuerliche Familien würden so von hohen Beitragsleistungen entlastet.

(64) Auch das langjährige Konzept der Agrarstrukturpolitik der einzelbetrieblichen Investition ist unter den schwierigen Beschäftigungsbedingungen problematisch, zumal es zur weiteren Verschärfung der Überschußsituation beigetragen hat. Aber auch unter Gerechtigkeitsgesichtspunkten ist eine selektive Investitionsförderung von Wachstumsbetrieben nur schwer zu rechtfertigen. Soweit man unter heutigen Bedingungen eine Förderung weiter betreiben will, dürfen kleinere und mittlere Betriebe von der staatlichen Förderung nicht ausgeschlossen werden. Mit Maßnahmen der regionalen Strukturpolitik sollten auch bei abnehmenden staatlichen Mitteln weiterhin insbesondere in schwach strukturierten ländlichen Räumen zukunftsträchtige Beschäftigungsmöglichkeiten außerhalb der Landwirtschaft geschaffen werden. Dabei ist auch die Möglichkeit der Teilzeitbeschäftigung und des Zuerwerbs von der Förderung nicht auszuschließen.

(65) Neben der Fachberatung mit produktionstechnischen Hilfen ist die sozioökonomische Beratung zu intensivieren, die stärker die soziale Situation der Familie mitberücksichtigt. Dabei sollten besonders die Inhaber von Problembetrieben beraten werden, die bisher diese Hilfe aus unterschiedlichsten Gründen zu wenig oder überhaupt nicht in Anspruch genommen haben. Die Dienststellen der Beratung sind personell und fachlich so auszustatten, daß .sie dieser Aufgabe künftig mehr als bisher gerecht werden können.

(66) In der individuellen Beratung über die Weiterentwicklung des Betriebes oder eine evtl. Hofaufgabe soll die gesamte Familie mit ihren verschiedenen Bedürfnissen berücksichtigt werden. Das gilt für die Zukunft der älteren Generation ebenso wie für die Bedürfnisse der Ehepartner und die Entfaltungsmöglichkeiten der Kinder. Lebensqualität im umfassenden Sinne beinhaltet sehr viel mehr als die Devise »mehr und größer ist besser«. Das menschliche Leben muß sich umfassend entfalten können. Dazu gehören auch Entspannung und Muße. Es gilt zu verhindern, daß bestimmte menschliche Werte ganz verkümmern. Bei allen Vergleichen mit anderen Bevölkerungsgruppen sollte man immer mit bedenken, welche Vorzüge das eigene Berufsfeld bietet.

(67) Der landwirtschaftliche Berufsstand ist zu größerer Solidarität herausgefordert. Es sollte vor allem die mit Erfolg praktizierte überbetriebliche Zusammenarbeit (überbetriebliche Maschinennutzung, Kooperation im Produktionsbereich, Betriebshelfergemeinschaft u. a.) vermehrt genutzt und weiterausgebaut werden. Der Verlust an individueller Entscheidungsfreiheit wird durch die teilweise erheblichen Kostenvorteile und durch positive soziale Erfahrungen aufgewogen.

(68) Das agrarische Marktgeschehen auf dem Lande wird bestimmt durch den privaten Landhandel und die Genossenschaften. Ein starker Verdrängungswettbewerb hat auch hier die Strukturen verändert. Großunternehmungen sind zunehmend marktprägend. Christliche Solidarität, Unterstützung der Ärmeren, war für Friedrich Wilhelm Raiffeisen Grundlage seiner Genossenschaftsidee. Heute wird häufig beklagt, daß durch die Entwicklung zu genossenschaftlichen Großunternehmen . verstärkt Unternehmensinteressen statt Mitgliederinteressen im Vordergrund stehen. Das bewirkt eine Ungleichbehandlung der Mitglieder und eine Benachteiligung der wirtschaftlich Schwächeren. Im Interesse aller Mitglieder der genossenschaftlichen Unternehmungen muß es liegen, möglichst viele selbständige Mitgliedsbetriebe, zu erhalten. Es gilt, genossenschaftliche Prinzipien wieder stärker zur Geltung zu bringen. Genossenschaften und Landhandel sind wichtige Funktionsträger im ländlichen Raum. Es sind Bedingungen zu schaffen, die einen funktionsfähigen Wettbewerb bewirken.

(69) Berufsständische Solidarität kann im Einzelfall auch bedeuten, auf weitere Betriebsvergrößerung um der Schwächeren im Dorf willen zu verzichten. Die Solidargemeinschaft steht heute vor einer großen Bewährungsprobe und zwar die Solidargemeinschaft sowohl innerhalb des Berufsstandes als auch zwischen Landwirten und Verbrauchern, zwischen den jetzt lebenden und den nachfolgenden Generationen sowie zwischen den Menschen und der Kreatur. Die Politik ist nicht aus der Verantwortung entlassen, entsprechende Rahmenbedingungen zu schaffen, um in solidarischem Geist die Probleme lösen zu können.

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