Das Abendmahl
Eine Orientierungshilfe zu Verständnis und Praxis des Abendmahls in der evangelischen Kirche
Die Fragestellung
Das Abendmahl ist ein wichtiger Bestandteil des evangelischen Gottesdienstes. Da der Gottesdienst aber das zentrale Ereignis in der Gemeinde und so auch in der ganzen Kirche ist, wird nicht nur immer wieder Abendmahl gefeiert, sondern auch immer wieder über das Abendmahl nachgedacht, gelegentlich auch darüber gestritten. Die vielfältigen gegenwärtigen Diskussionen über das Abendmahl haben den Rat der Evangelischen Kirche in Deutschland bewogen, im Oktober 2001 eine Kommission einzusetzen, die sich mit dem Thema »Abendmahl« beschäftigen sollte. Der Rat hat dieser Kommission die Aufgabe zugewiesen, eine »Orientierungshilfe zum evangelischen Verständnis und zur evangelischen Praxis des Abendmahls« zu erarbeiten, die hiermit vorgelegt wird.
Bedarf für einen solchen Text besteht nicht nur deswegen, weil im unmittelbaren Vorfeld des Berliner Ökumenischen Kirchentags (28. Mai-1. Juni 2003) eine allgemeinverständliche Orientierung über das Abendmahl aus evangelischer Sicht verlangt wird und zuletzt anläßlich des Kirchentags in Frankfurt im Jahre 2001 heftig über den Entwurf einer Feierabendmahlsliturgie diskutiert wurde. Vielmehr haben in den letzten Jahren einige charakteristische Entwicklungen evangelische Abendmahlsgottesdienste verändert und einige zentrale Fragen aufgeworfen.
- Zum einen haben sich Stellenwert und liturgische Praxis des Abendmahls in den evangelischen Kirchen während der letzten Jahrzehnte tiefgreifend verändert: Die Bedeutung des Abendmahls war schon nach dem Zweiten Weltkrieg durch Einsichten aus der liturgischen Bewegung und der Bekennenden Kirche erheblich gewachsen. Seit Anfang der siebziger Jahre des zwanzigsten Jahrhunderts stieg die Beteiligung am Abendmahl in den meisten Gemeinden kontinuierlich an. Man feiert seither häufiger Abendmahl, und zwar in der Regel im sonntäglichen Hauptgottesdienst, kaum mehr als angehängten Separatgottesdienst. Wesentliche Impulse für die erneuerte Bedeutung des Abendmahls, aber auch für neue Formen seiner Feier sind von den Evangelischen Kirchentagen ausgegangen; die sogenannten »Lorenzer Ratschläge« des Nürnberger Kirchentages von 1979 wollten Mut dazu machen, »das Abendmahl häufiger zu feiern«. Verständnis und Praxis des Abendmahls wurden weiter beeinflußt durch die neue Aufmerksamkeit für das Judentum, Impulse aus anderen Kirchen der Ökumene und das stärkere Interesse an der besonderen Sichtweise von Frauen. Angesichts einer Pluralisierung von Interpretationen und liturgischen Abläufen stellt sich aber neu die Frage nach den charakteristischen Elementen, die unverzichtbar zu einem jeden evangelischen Abendmahl gehören.
- Zum anderen sind zwar europaweit die meisten reformatorischen Kirchen einem innerevangelischen Grundkonsens über das Abendmahl beigetreten, der auf der Basis der »Arnoldshainer Abendmahlsthesen« von 1957 in der »Leuenberger Konkordie« von 1973 formuliert worden ist. Aber dadurch ist nicht einfach eine gemeinsame Abendmahlslehre der Konfessionen geschaffen worden. Außerdem ist die exegetische und systematische Diskussion über das Abendmahl seither nicht verstummt. So wird beispielsweise immer wieder neu nach der angemessenen Interpretation der neutestamentlichen Berichte über das letzte Abendmahl Jesu gefragt und der theologische Sinn der Handlung kontrovers debattiert. Vor allem die Angemessenheit der Rede vom Opfer- und Sühnetod Christi ist seit längerem heftig umstritten. In den vielfältigen ökumenischen Gesprächen seit Ende der sechziger Jahre sind einerseits wichtige Einsichten zu Verständnis und Praxis des Abendmahls formuliert worden, andererseits fragen sich die Partner der Dialoge gegenseitig nach Details des Verständnisses und der Praxis des Abendmahls.
- Schließlich werden in vielen Gemeinden konkrete praktische Fragen zum Abendmahl gestellt, die fast durchweg theologische Zentralprobleme betreffen: Wie häufig soll es gefeiert werden und in welcher Form? Welche Stücke der Liturgie sind unverzichtbar? Welche Gestalten der Elemente sind möglich? Darf anstelle von Wein auch Traubensaft verwendet werden? Was geschieht mit den Elementen nach dem Gottesdienst? Sollte dem Abendmahl eine Beichte vorausgehen? Wer darf eine Abendmahlsfeier leiten, wer an der Austeilung mitwirken? Wer darf am Abendmahl teilnehmen? Neben den getauften Jugendlichen und Erwachsenen auch Kinder? Und wie steht es mit den Ungetauften? Dürfen römisch-katholische Christen an einem evangelischen Abendmahl teilnehmen? Dürfen evangelische Christen an einer römisch-katholischen Eucharistie teilnehmen?
Auf solche Fragen sollen hier begründete Antworten gegeben werden. Zu diesem Zweck wird in einem ersten Abschnitt mit der ausführlichen Darstellung des biblischen Befundes zum Abendmahl begonnen, auf den sich jedes evangelische Abendmahlsverständnis gründen muß. In einem zweiten Abschnitt wird zunächst auf die einschlägigen unterschiedlichen Aussagen des lutherischen bzw. reformierten Bekenntnisses und das beiden Konfessionen gemeinsame Verständnis in der »Leuenberger Konkordie reformatorischer Kirchen in Europa« eingegangen (2.1). Die Bekenntnisse wie die davon zu unterscheidende Konkordie, die auf der Basis der unverändert gültigen jeweiligen Bekenntnisschriften ein gemeinsames Verständnis des Evangeliums formuliert, fassen das Wesentliche und Verbindliche am vielstimmigen biblischen Befund zusammen; Bekenntnisse und Konkordie werden von daher – ihrem jeweiligen Selbstverständnis entsprechend – in der Orientierungshilfe als Anleitung zum Verstehen dieses Befundes benutzt. Daran anschließend behandelt der zweite Abschnitt gegenwärtig besonders schwierige theologische Probleme (2.2/2.3). Ein dritter Abschnitt enthält schließlich praktische Empfehlungen zur Feier des Abendmahls im evangelischen Gottesdienst und zum Umgang mit Problemen zwischen den Konfessionen. Wichtige Passagen sind durch kursiv gedruckte Leitsätze eingeleitet. Die Quellen und die wichtigste neuere Sekundärliteratur sind am Ende zusammengestellt.
Eine solche Orientierungshilfe zum evangelischen Verständnis und zur evangelischen Praxis des Abendmahls markiert nur den Bereich, innerhalb dessen ein evangelisches Abendmahlsverständnis entfaltet werden kann und dementsprechend gefeiert wird. Sie darf keine partikulare Abendmahlstheologie zur Norm erheben oder einzelne liturgische Formen privilegieren, wohl aber allgemeine und verbindende Grundelemente darstellen sowie auf Grenzen und Irrwege hinweisen. Sie versucht daher im folgenden, den Rahmen so zu markieren, daß zunächst der weite Bereich deutlich wird, innerhalb dessen eine legitime Vielfalt von Abendmahlsverständnissen und -formen innerhalb der evangelischen Kirche möglich ist. Selbstverständlich enthält eine »Orientierungshilfe«, die so deutlich von gegenwärtigen Fragestellungen bestimmt ist, nicht alles, was über das Abendmahl zu sagen ist. Eine ganze Reihe von wichtigen theologischen Fragestellungen ist hier nicht behandelt, so beispielsweise nicht die Frage, was ein Sakrament ist und wie sich das Abendmahl als Sakrament zur Rechtfertigung allein aus Glauben oder zum Sakrament der Taufe verhält.
Auch die umfangreichen ökumenischen Gesprächsgänge des zwanzigsten Jahrhunderts werden hier weder zusammengefaßt noch eigens kommentiert, es sei denn, sie tragen in besonderer Weise etwas für die hier behandelten Fragestellungen aus. Auch ist darauf verzichtet, ausführlich die historische Genese bestimmter gegenwärtiger Situationen zu entfalten.
Die Orientierungshilfe spricht durchgängig von »Abendmahl«, obwohl derselbe Sachverhalt schon im Neuen Testament und auch in den Kirchen der Ökumene sehr unterschiedlich bezeichnet wird: Während in der römisch-katholischen Kirche gern der bereits in den ersten christlichen Gemeinden aufgekommene Ausdruck »Eucharistie« (zu Deutsch: »Danksagung«) verwendet wird, sprechen die ökumenischen Dialogdokumente vom »Herrenmahl«. Dieser Begriff geht zwar auf den ältesten biblischen Text zum Thema zurück und findet sich beim Apostel Paulus (1. Kor 11,20), ist aber heute erläuterungsbedürftig. Allerdings wird er von evangelischen Kirchen im osteuropäischen Raum verwendet. Das Wort »Eucharistie« bezeichnet nur einen, wenn auch sehr wichtigen Aspekt der Liturgie der Abendmahlsfeier: den Dank an Gott, den Schöpfer, und die dankbare Erinnerung an das heilschaffende Leben und Sterben Jesu Christi. Martin Luther hat einen griechischen Begriff für »Mahlzeit« (»deipnon«) mit dem Wort »Abendmahl« übersetzt, um auf diese Weise den Ursprung aller christlichen Abendmahlsfeiern im Abschiedsmahl Jesu am Abend vor seiner Verhaftung deutlich zu machen. Da dieser Rückbezug unmittelbar zum Abendmahl gehört, ist die im evangelischen Bereich eingeführte Bezeichnung »Abendmahl« sachgemäß.