"Religiöse Pluralität als Ressource für die Einwanderungsgesellschaft"
Angekommen - Der Integrationskongress der Friedrich-Ebert-Stiftung
Sehr geehrte Damen und Herren,
im Reichstagsgebäude, in dem der Deutsche Bundestag seinen Sitz hat, gibt es einen Andachtsraum. Wohlgemerkt: Es handelt sich nicht um eine Kapelle, eine Synagoge oder eine Moschee, sondern um einen Raum, der von allen Religionen für Gottesdienste, Andachten, gemeinsame Gebete oder zur persönlichen Einkehr genutzt werden kann. Diesen Raum kann man als Symbol dafür verstehen, welche Rolle den Religionen in der Bundesrepublik Deutschland zugedacht ist. Zum einen sagen schon die Existenz und die Lage dieses Raumes – nicht versteckt im Keller oder verschämt unter dem Dach, sondern auf einer Ebene mit dem Plenarsaal – etwas aus: Der deutsche Staat ist zwar weltanschaulich und religiös neutral, blendet aber die Religion nicht in laizistischer Weise aus. Das gibt er nicht zuletzt in der Präambel des Grundgesetzes zu erkennen, wo es heißt: „Im Bewusstsein seiner Verantwortung vor Gott und den Menschen … hat sich das deutsche Volk … dieses Grundgesetz gegeben.“ Zum andern ist die Konzeption des Raumes ein Zeichen: Der weltanschaulich und religiös neutrale Staat gibt den Religionen seiner Bürgerinnen und Bürger Raum, füllt diesen Raum aber nicht selbst. Das müssen die Religionsgemeinschaften tun. Sie verantworten inhaltlich den Religionsunterricht an öffentlichen Schulen, die Seelsorge in der Bundeswehr und in Justizvollzugsanstalten – und eben auch die Veranstaltungen im Andachtsraum des Deutschen Bundestages. Dabei ist religiöse Pluralität ausdrücklich gewollt.
Es ist also Aufgabe der Religionsgemeinschaften, den Raum zu füllen, den ihnen das deutsche Religionsverfassungsrecht öffnet und dabei die religiöse Pluralität zu achten. Letzteres geschieht vor allem durch Dialog. Der Dialog zwischen den Religionen wird in Deutschland schon seit langem gepflegt, wobei der jüdisch-christliche Dialog schon bald nach der Shoa in Gang kam und gut entwickelt ist. Der christlich-muslimische Dialog findet ebenfalls statt, wird aber dadurch erschwert, dass auf muslimischer Seite oft Zuständigkeiten nicht klar sind oder die Ansprechpartner rasch wechseln. Der interreligiöse Dialog muss im Geist der Toleranz geführt werden, wobei Toleranz strikt von Gleichgültigkeit und Beliebigkeit zu unterscheiden ist. Im Gegenteil: Ein toleranter Dialog ist nur möglich, wenn die Dialogpartner um ihre eigenen Traditionen wissen und in ihrem eigenen Glauben fest verwurzelt sind. Toleranz und Dialogbereitschaft sind aber nicht nur von den Religionsgemeinschaften zu fordern, sondern auch von jenen Menschen, die keiner Religion angehören.
Dass die Religionen – jedenfalls die monotheistischen Religionen - eine Ressource für die Einwanderungsgesellschaft sind, zeigt sich gegenwärtig an der Art und Weise, wie sie die Willkommenskultur für Geflüchtete mit gestalten – auch noch Monate nach den hohen Flüchtlingszahlen vom Sommer 2015. In Moscheen, Synagogen und Kirchengemeinden heißen Gläubige geflüchtete Menschen willkommen, begleiten sie zu Ämtern, lehren sie die deutsche Sprache u.a.m. Das hängt damit zusammen, dass die monotheistischen Religionen Werte wie Nächstenliebe, Verantwortungsbereitschaft und Gemeinsinn teilen.
Was können die christlichen Kirchen dazu beitragen, dass religiöse Pluralität Ressource für die Einwanderungsgesellschaft ist? Die christlichen Kirchen können zunächst einmal daran erinnern, dass religiöse Pluralität in Deutschland kein neues Phänomen ist: In diesem Jahr feiern die evangelischen Christen das 500. Jubiläum der Reformation. Der Wittenberger Mönch und Theologieprofessor Martin Luther zeigte vor 500 Jahren Missstände in seiner römisch-katholischen Kirche auf und wies den Weg zu grundlegenden Reformen. Darüber kam es – das hatte Luther ausdrücklich nicht beabsichtigt – zu einer Kirchenspaltung, die in der weiteren Geschichte viel Leid über die Menschen brachte und die bis heute andauert. Allerdings gibt es seit gut fünfzig Jahren einen intensiven Dialog zwischen den Kirchen, der in vielen Punkten zur Verständigung geführt hat. Am kommenden Samstag werden die katholische und die evangelische Kirche in Deutschland im Rahmen des Reformationsjubiläums einen gemeinsamen Gottesdienst in Hildesheim feiern und einander für die gegenseitigen Verletzungen in den vergangenen 500 Jahren um Vergebung bitten. Zu diesem Gottesdienst wird übrigens die gesamte Spitze des Staates erwartet. Wir Christen haben also Erfahrung in Sachen Dialog und Verständigung (auch innerhalb unserer jeweiligen Kirchen) und sind bereit, diese Erfahrungen in das interreligiöse Gespräch einzubringen. Außerdem haben wir auch inhaltlich einiges beizutragen: Die Bibel erzählt an vielen Stellen von Menschen mit Flucht- und Fremdheitserfahrungen (Jesus selbst gehört zu diesen Menschen!) und gebietet den Glaubenden, Geflüchtete aufzunehmen und Fremden ihr Recht nicht vorzuenthalten.
Abschließend sei noch darauf hingewiesen, dass die Religionen zwar helfen können und werden, das Leben in der Einwanderungsgesellschaft zu gestalten, dass aber die primäre Verantwortung bei Staat und Gesellschaft liegt: Der Staat muss sicherstellen, dass Einheimische und Zugewanderte gleiche Rechte haben und diese auch durchsetzen können. Was die materiellen Grundbedürfnisse betrifft, war hier das Urteil des Bundesverfassungsgerichtes zur Höhe der Sozialleistungen an Asylbewerber aus dem Jahr 2012 wegweisend. Auch haben Einheimische wie Zugewanderte das Recht, in Freiheit, Sicherheit und Würde zu leben und mit ihrer Familie zusammen zu sein. Die Gesellschaft muss akzeptieren, dass Religion ein wichtiger Teil ihrer selbst ist und nicht in den privaten Bereich abgedrängt werden darf. Zugespitzt lässt sich sagen: Am gesellschaftlichen Umgang mit religiöser Pluralität lässt sich verlässlich ablesen, wie es um den Pluralismus in unserer Gesellschaft insgesamt bestellt ist.
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.