Lukas 10, 25-37
Martin Dutzmann predigt zur Amtseinführung als EKD-Bevollmächtigter
Gnade sei mit euch und Friede…
Liebe Gemeinde,
als Schriftlesung haben wir vorhin die Gleichniserzählung vom Barmherzigen Samariter gehört. Die meisten von uns werden sie gut kennen – vielleicht schon seit Kindheitstagen.
Das Gleichnis vom Barmherzigen Samariter gehört zu den wichtigsten und bekanntesten Geschichten der Bibel. In Kirche und Diakonie, Gesellschaft und Kultur hat es deutliche Spuren hinterlassen. Auch unsere Sprache ist von dieser Geschichte berührt worden: Wenn wir das Wort „Samariterdienst“ hören, wissen wir sofort, dass eine gute und barmherzige Tat gemeint ist.
Wird diese so bekannte Geschichte uns an diesem Vormittag irgendetwas Neues sagen können? Probieren wir es aus, indem wir uns neu auf die alten Worte einlassen.
Ein Schriftgelehrter, fragt Jesus: „Wer ist mein Nächster?“ Wir erfahren, dass sein Motiv für diese Frage nicht lauter ist: Er will Jesus damit aufs Glatteis führen und selbst umso besser dastehen. Aber Jesus interessiert das Motiv des Fragenden nicht. Die Frage nach dem Nächsten ist so wichtig, dass sie eine Antwort verdient. Deshalb lässt Jesus sich darauf ein und beginnt zu erzählen.
„Es war ein Mensch, der ging von Jerusalem hinab nach Jericho und fiel unter die Räuber.“ Mit dem ersten Satz seiner Erzählung schafft Jesus eine Situation, deren Dramatik kaum zu überschätzen ist. Er macht den Schriftgelehrten, der ihm zuhört, und uns, die wir quasi als Zaungäste dabei sind, zu Begleitern des Überfallenen. Aus dessen Blickwinkel ist alles, was nun folgt, erzählt. Während der ganzen Geschichte werden wir an seinem Schicksal teilhaben.
Jesus nötigt uns also die Perspektive des Opfers auf. Angenehm ist das nicht. Für Christenmenschen aber ist die Perspektive des Opfers die einzig mögliche Perspektive. Warum? Weil das die Blickrichtung Gottes ist. Die ganze Heilige Schrift erzählt von der Leidenschaft Gottes für die Leidenden und von seiner Schwäche für die Schwachen.
„Die Räuber zogen ihn aus und schlugen ihn und machten sich davon und ließen ihn halb tot liegen.“ An der Seite des Opfers erleben wir mit, wie der Mann gedemütigt wird, als man ihm die Kleider vom Leib reißt. Und wir können uns vorstellen, wie er unter den Schlägen seiner Peiniger schreit, stöhnt und am Ende nur noch leise wimmert. Wie die Todesangst ihn packt, als er in der Wüste allein zurückgelassen wird…
Wir fühlen mit dem überfallenen Mann und denken auch an die anderen Opfer, von denen es in dieser Welt so viele gibt. Wir denken an die Angst der Frauen, Männer und Kinder, die vor dem Bürgerkrieg in Syrien fliehen. Millionen sind es inzwischen. Wir denken an die Mütter und Väter in Ländern Afrikas, Asiens und Lateinamerikas. Viele, zu viele, können ihren Kindern nicht geben, was sie zum Überleben brauchen, von Bildung und Ausbildung ganz zu schweigen. Wir denken an die Not von Menschen in unserem Land und in dieser Stadt, denen eine gerechte Teilhabe an den Gütern und Gaben unserer Gesellschaft verwehrt ist. Wir denken an die Qualen von Jungen und Mädchen, denen Gewalt angetan wurde. Gewalt ausgerechnet durch Menschen, denen sie ihr Vertrauen geschenkt hatten!
„Es traf sich aber, dass ein Priester dieselbe Straße hinabzog; und als er ihn sah, ging er vorüber. Desgleichen auch ein Levit. Als er zu der Stelle kam und ihn sah, ging er vorüber.“ Das ist niederschmetternd: Zwei Männer, die es eigentlich besser wissen müssten, gehen vorbei. Priester und Leviten kennen die Gebote Gottes besser als die meisten anderen Menschen. Sie wissen, dass man nicht nur Gott lieben soll, sondern auch seinen Nächsten wie sich selbst. So steht es im dritten Buch Mose.
Von beiden Passanten heißt es, dass sie das Opfer sehen, und wir können wohl annehmen, dass der Überfallene seinerseits sieht, dass er gesehen wird. Welche Hoffnung muss da in diesem unglücklichen Menschen aufkeimen! Jetzt kommt Hilfe! Jetzt wird alles gut! Aber es kommt keine Hilfe. Nichts wird gut. Die beiden gehen vorüber. Wie verzweifelt muss der Verletzte sein!
Von dem unwegsamen Gelände zwischen Jerusalem und Jericho ist es über das Mittelmeer nicht weit bis zur Außengrenze der Europäischen Union. Hinter dieser Grenze leben die Menschen in Sicherheit. Im Fernsehen aber sehen sie, was sich beinahe täglich vor ihrer Tür abspielt. Wie viel zu viele Flüchtlinge in viel zu kleinen Booten versuchen, sich in Sicherheit zu bringen. Wie diese Boote kentern und die Menschen ertrinken. Das alles sehen die Europäer. Manche sehen das sogar aus der Nähe. Fischer haben in der vergangenen Woche vor der Insel Lampedusa die Flüchtlinge in ihrer Not gesehen. Geholfen haben sie nicht – aus Angst vor empfindlichen Strafen. Die Küstenwache hat die Nussschalen auf ihren Radarschirmen gesehen – und ebenfalls nicht eingegriffen.
Viele, die die Notleidenden aus der Ferne oder aus der Nähe sehen, sind Christen. Menschen also, die sich – wie Priester und Levit im Gleichnis – dem Doppelgebot der Liebe verpflichtet wissen oder wissen sollten. Wie enttäuscht, wie entsetzt, wie verzweifelt müssen jene sein, die in dem sich „christliche Wertegemeinschaft“ nennenden Europa Barmherzigkeit vermuten, aber Abwehr und Gleichgültigkeit erleben.
„Ein Samariter aber, der auf der Reise war, kam dahin.“ Jetzt dürfte der Verletzte in Panik geraten: Ein Samariter! Ein Fremder! Ein Ausländer! Ein Andersgläubiger! Einer, vor dem die Eltern immer gewarnt haben: „Nimm dich vor denen in acht. Wenn wir uns die nicht vom Leib halten, werden Sie demnächst alles kontrollieren und alles bestimmen.“ Und nun – als ob die Not nicht schon groß genug wäre – kommt ein solcher Fremder des Weges. Wird dieser Fremde mit seiner fremden Religion sich an dem Unglück des Überfallenen weiden? Wird er ihn hämisch fragen: „Wo ist nun dein Gott?“ Wird der Fremde ihm womöglich den Todesstoß versetzen? Aber es kommt ganz anders.
„Als der Samariter ihn sah, jammerte er ihn; und er ging zu ihm, goss Öl und Wein auf seine Wunden und verband sie ihm, hob ihn auf sein Tier und brachte ihn in eine Herberge und pflegte ihn.“ Balsam dürfte das für Seele und Leib des schwer Verletzten sein. Wie gut es ihm wohl tut, dass dieser Fremde Gefühle zeigt, starke Gefühle. „Er jammerte ihn.“ Eigentlich müsste man aus dem Griechischen so übersetzen: „Als der Samariter den Überfallenen sah, drehten sich ihm vor Entsetzen die Eingeweide herum.“ Und dem Verletzten fällt es vermutlich wie Schuppen von den Augen: Dieser Fremde, vor dem die Eltern warnten, ist ja ein Mensch! Ein Mensch, der fühlt. Ein Mensch, der mitfühlt. Und nicht nur das: Dieser Fremde ist ein Mensch, der hilft. Nicht wie ein Dilettant, sondern professionell. Fachkundig versorgt er die Wunden, organsiert den Krankentransport, managt die stationäre Aufnahme und übernimmt die Pflege. Und wir, die wir noch immer in der Nähe sind, wir spüren auch, wie gut das tut. So werden wir daran erinnert, dass fremde Menschen eine Bereicherung für uns sein können. Dass sie Gaben, Fähigkeiten und oft genug eine solide Ausbildung mitbringen. Wir werden das nicht vergessen, wenn Jesus uns aus der Geschichte in den Alltag entlassen hat, aber jetzt geht es erst noch weiter…
Die unmittelbare Gefahr für den Verletzten ist abgewendet; er ist in Sicherheit. Hier in der Herberge werden ihn keine marodierenden Banden ein zweites Mal überfallen und auch die Wunden werden sich nicht entzünden sondern heilen. Und nun geschieht erneut etwas Wunderbares: „Am nächsten Tag zog er (also der Samariter) zwei Silbergroschen heraus, gab sie dem Wirt und sprach: Pflege ihn; und wenn du mehr ausgibst, will ich dir’s bezahlen, wenn ich wiederkomme.“ Der immer noch Hilfsbedürftige kann und soll an dem sicheren Ort bleiben, bis er wieder auf eigenen Füßen stehen kann. Das kostet richtig Geld; zwei Silbergroschen sind keine Kleinigkeit. Für den Samariter aber scheint es selbstverständlich zu sein, diesen Betrag aufzuwenden und wenn es nötig ist, auch mehr. Wie wohl muss dem Patienten auch dieses tun: „Da sieht einer nicht auf seine Bestimmungen und sein Budget sondern auf mich. Da ist einer nicht von der Sorge um sich selbst sondern von der Sorge um mich erfüllt.“ Auch wir empfinden, wie gut das tut. Und wir ahnen, wie wohltuend es etwa für Flüchtlinge ist, wenn Helfer in Deutschland sie in ihrer Not wahrnehmen und unterstützen.
Liebe Gemeinde, hier ist die Gleichniserzählung vom Barmherzigen Samariter zu Ende. Aber Jesus stellt dem Schriftgelehrten und mit ihm auch uns noch eine Kontrollfrage. Wie gesagt: Die Frage nach dem Nächsten ist wichtig, und Jesus will sicher sein, dass die Antwort verstanden ist. Deshalb hakt er nach: „Wer von diesen dreien, meinst du, ist der Nächste gewesen dem, der unter die Räuber gefallen war?“ Noch immer entlässt Jesus uns nicht aus der Perspektive des Opfers. Aus seiner und nur aus seiner Sicht fällt die Entscheidung darüber, was Nächstenliebe ist und was nicht. Der Schriftgelehrte antwortet so wie es die Gleichniserzählung nahe legt: „Der die Barmherzigkeit an ihm tat.“
Erst ganz am Schluss lässt Jesus den Schriftgelehrten und uns die Blickrichtung wechseln. „Da sprach Jesus zu ihm: “So geh hin und tu desgleichen!“ Also: Geh hin und handle wie der Barmherzige Samariter handelte. Tu es als einer, der gelernt hat, mit den Augen des Opfers zu sehen. Lass dich von der Not der Menschen anrühren und hilf ihnen.
Ob der Schriftgelehrte der Aufforderung Jesu folgte, erfahren wir nicht, aber das ist auch nicht wichtig. Wichtig ist, dass wir folgen – Staat und Gesellschaft, Kirche und Diakonie, aber auch jeder und jede einzelne. Gelegenheit dazu haben wir jeden Tag.
Und der Friede Gottes…