Die Kirchengerichtsbarkeit

Smbolfoto mit Aktenordnern.

Das verfassungsrechtlich garantierte Selbstbestimmungsrecht aus Artikel 140 GG i.V.m. Artikel 137 WRV räumt den Kirchen das Recht ein, ihre eigenen Angelegenheiten durch kirchliche Gesetze zu ordnen. Diese müssen sich aber innerhalb der Schranken des für alle geltenden Gesetzes bewegen.

Da es bei Meinungsverschiedenheiten über den Inhalt des Rechts und seine Anwendung auf den Sachverhalt ankommt, entsteht in jeder Rechtsordnung das Bedürfnis, eine verbindliche Entscheidung über solche Streitigkeiten herbeiführen zu wollen. Der Akzeptanz und Qualität einer solchen Entscheidung kommt es zugute, wenn die Aufgabe der Rechtsprechung in die Hand unabhängiger Gerichte gelegt wird. Das gilt für das Recht der Kirche nicht anders als für das staatliche Recht, auch wenn bei der kirchlichen Gerichtsbarkeit die Eigengeartetheit des kirchlichen Rechts zu berücksichtigen ist. Das Errichten einer eigenen kirchlichen Gerichtsbarkeit führt dabei aber nicht zu einer Verdrängung des staatlichen Rechtsschutzes; vielmehr sind die Kirchen mit ihrem Selbstbestimmungsrecht in das weltliche Verfassungsgefüge eingeordnet.

Die verfassungsrechtliche Anerkennung des kirchlichen Selbstbestimmungsrechts und damit auch des Rechts auf Errichtung einer eigenen Gerichtsbarkeit setzt voraus, dass diese die fundamentalen Rechtsprinzipien einhält, die auch die staatliche Justiz auszeichnet. Das für einen Rechtsstaat konstituierende Prinzip der Gewaltenteilung gilt für die Kirche nicht. Dennoch ist es zweckmäßig, eine Trennung der einzelnen Funktionen herbeizuführen. Dies soll nicht die Einheit kirchlichen Handelns in Frage stellen, sondern die Rechtsbindung der kirchlichen Organe regeln.

Die Kirche war daher aufgerufen, für ihre Gerichtsorganisation und das anzuwendende Verfahren Regelungen zur Rechtsklarheit und -vereinheitlichung für die Rechtspflege in der EKD zu treffen, die den staatlichen Standards entsprechen. So wurde auf der Ebene der Grundordnung der EKD, also auf Verfassungsebene, die klare Trennung der Kirchengerichte von der kirchlichen Verwaltung und Gesetzgebung verankert und deutlich gemacht, dass neben dem Rat der EKD, der Kirchenkonferenz und dem Kirchenamt auch die Kirchengerichte der EKD hier ihren Platz haben.

Daneben wurden in nur einem Kirchengesetz, dem Kirchengerichtsgesetz der EKD, die zusammenhängenden Rechtsmaterien geregelt. Dieses Kirchengesetz eröffnete erstmalig die Möglichkeit, die Kirchengerichte in Fachgebiete zu gliedern. So wurden durch Verordnung des Rates der EKD bei dem Kirchengericht Fachkammern und bei dem Kirchengerichtshof Fachsenate gebildet.

Zu den rechtsstaatlichen Grundlagen gehört auch die organisatorische Trennung von Verwaltung und Rechtspflege innerhalb des Kirchenamts der EKD. Eine eigene und vom Kirchenamt getrennte Justizverwaltung aufzubauen, kam angesichts der Geschäftszahlen und des zu bewältigenden Aufwandes nicht in Betracht. Dennoch wurde - inzwischen - Selbstverständliches erreicht: Für die Kirchengerichte sind Geschäftsstellen am Sitz des Kirchenamtes der EKD errichtet. Über die dort tätigen Mitarbeiterinnen übt der Präsident des Kirchenamtes der EKD zwar die Dienstaufsicht aus, sie sind in der Bearbeitung der anhängigen Verfahren allein den jeweils zuständigen Präsidentinnen und Präsidenten, Vorsitzenden Richterinnen und Richtern unterstellt. Die Aktenverwaltung in der Geschäftsstelle - vom Posteingang bis zur Beendigung des Verfahrens - ist von den Vorgängen der Verwaltung des Kirchenamtes der EKD sorgfältig getrennt.

Die Entwicklung der kirchlichen Gerichtsbarkeit ging aber zunächst nur langsam voran. Die ersten kirchlichen Gerichte entstanden 1919 im Zuge der Neuordnung nach dem Wegfall des landesherrlichen Kirchenregiments. Die Grundordnung der EKD von 1948 konnte die staatsverfassungsrechtlichen Regelungen der Rechtspflege, wie sie im Grundgesetz von 1949 enthalten sind, nicht mit berücksichtigen. Anders als bei dem Staat wurde die Rechtspflege nur sehr eingeschränkt geregelt. Es wurde lediglich ein Schiedsgerichtshof errichtet, der aber nicht der Rechtskontrolle und dem Rechtsschutz Einzelner dienen sollte, sondern der Bereinigung von Streitfragen, die sich zwischen den Kirchen ergaben. Er war Ausdruck des föderativen Charakters der EKD und der ihr gegenüber betonten Selbständigkeit der Gliedkirchen.

Die weiteren Gerichtsbarkeiten haben sich etabliert:

Disziplinargerichtsbarkeit

Als Disziplinargericht erster Instanz ist eine Disziplinarkammer errichtet worden, die für die Durchführung von förmlichen Disziplinarverfahren betreffend Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der EKD zuständig war. Als Berufungsgericht für alle Disziplinarkammern nach dem Disziplinargesetz der EKD, wurde der Disziplinarhof der EKD mit zwei bekenntnisbezogenen Senaten (der Lutherische Senat und der Gemeinsame Senat) errichtet.

MVG-Gerichtsbarkeit

Für Streitigkeiten aus dem Individualarbeitsrecht kirchlich angestellter Mitarbeitender sind die staatlichen Arbeitsgerichte zuständig. Das Kollektivarbeitsrecht, also die Rechtsetzung im "Dritten Weg" und das gesamte Mitarbeitervertretungsrecht, ist dagegen Kirchenrecht. Eine Zuständigkeit staatlicher Gerichte ist hier nicht gegeben. Die Kontrolle des selbst gesetzten Rechts muss also durch Kirchengerichte erfolgen. So folgte erst 1992 mit der Verabschiedung des Mitarbeitervertretungsgesetzes der EKD die Errichtung einer Schlichtungsstelle für mitarbeitervertretungsrechtliche Streitigkeiten in erster Instanz und eines Verwaltungsgerichts für mitarbeitervertretungsrechtliche Streitigkeiten in zweiter Instanz, obgleich die Rechtsmaterie im staatlichen Bereich bei den Arbeitsgerichten lag. Dies führte jedoch zu Verwirrungen bei der analogen Heranziehung der staatlichen Verfahrensordnungen (Verwaltungsgerichtsgesetz und Verwaltungsgerichts-ordnung statt Arbeitsgerichtsgesetz) einerseits und hat aufgrund des Fehlens einer Rückverweisung auf das Arbeitsgerichtsgesetz auch zu Verunsicherungen in der spruchrichterlichen Praxis geführt. Eine Klarstellung konnte erst im Jahr 2004 mit Inkrafttreten des Kirchengesetzes über die Errichtung, die Organisation und das Verfahren der Kirchengerichte der EKD erreicht werden.

Verwaltungsgerichtsbarkeit

Ein weiterer Schritt zu einer einheitlichen Gerichtsstruktur konnte im Jahr 2011 erreicht werden, als die kirchliche Gerichtsbarkeit in der EKD um die Verwaltungsgerichtsbarkeit erweitert wurde. Diese war vorher im Bereich der Union Evangelischer Kirchen in der EKD angesiedelt. Infolgedessen wurde bei dem Kirchengericht eine Verwaltungskammer in erster Instanz und ein Verwaltungssenat in zweiter Instanz bei dem Kirchengerichtshof errichtet.

An einer (ganz-) einheitlichen Gerichtsstruktur wird stetig gearbeitet. Viele Gliedkirchen haben bereits ihre (gerichtliche) Zuständigkeit auf die Kirchengerichtsbarkeit der EKD übertragen. Einige Gliedkirchen halten noch eine eigene erstinstanzliche Gerichtsbarkeit vor (z.B. die Evangelische Kirche in Hessen und Nassau, Konföderation evangelischer Kirchen in Niedersachsen, Evangelische Kirche von Westfalen).

In den Dienst der Kirche stellen sich auch viele Persönlichkeiten aus der staatlichen Justiz. Dieses ehrenamtliche Engagement ist ein wichtiger Ausdruck des eigenen Glaubens und unersetzlich für den inneren Zusammenhalt in der Kirche.