Vater der Lieder
Mit Martin Luther begann die Singbewegung der Reformation
Spielen die Engel im Himmel Mozart? Der evangelische Theologe Karl Barth meinte das. Albrecht Goes, der württembergische Pfarrer und Literat, sprach sich hingegen für Johann Sebastian Bach aus. Im Himmel würden Chöre wie Herrscher, des Himmels, erhöre das Lallen! mit Pauken und Trompeten gesungen. Martin Luther hätte da wohl so oder so Zweifel angemeldet. Er mochte Pauken und Trompeten nicht. Das sei „himmlisches Feld Geschrei“, ja sei ein scheußliches „Gottes-Ehr-Schreien“. Auch die Orgelpfeifen waren sein Fall nicht, von denen er meinte: „Sie plärren und schreien.“ Selbst Streichinstrumente schloss er für den Himmel aus. Es sei schrecklich, ein Lied immer nur auf einer Saite zu fiedeln, beklagte er sich einmal bitterlich. Martin Luther zog ein sanftes vielstimmiges Saiteninstrument vor. Er liebte und spielte die Laute und hatte die Offenbarung des Johannes auf seiner Seite. Singen doch da die Engel mit Saiteninstrumenten, nämlich Harfen neue Lieder (Offenbarung 5, 8 f).
Neue Lieder, um die ging es Martin Luther zentral. Er hat die Musik als Gesang reformiert und so das evangelische Kirchenlied erfunden. Bis in die Wortwahl blüht seine Sprache auf: Neue Lieder lassen sich ansingen, aussingen, besingen, dahersingen, hinaussingen, hinuntersingen, mitsingen, nachsingen, übersingen, untersingen, vorsingen, zusingen und, Gott sei es geklagt, leider auch zersingen . Martin Luther selber sang leidenschaftlich gern und gut. Sein Anspruch war hoch. Das machte Eindruck. Der Nürnberger Meistersinger Hans Sachs nannte ihn die „Wittenbergische Nachtigall“. Nicht nur diesen reformatorischen Vogel, auch ein Kirchenvolk erkennt man an seinen Liedern. Davon war Luther durchdrungen. Gemeindegesangbuch nannte er deshalb sein erstes geistliches Wittenberger Liederbuch von 1529. Das ist Programm. Die Gemeinde soll singen. An diesem Programm haben viele mitgewirkt.
Manches holpert ein wenig
Luther schrieb eher bescheiden wenig. Nicht einmal vierzig geistliche Lieder sind von ihm überliefert. Paul Gerhardt hat da erheblich mehr zu Papier gebracht. Auch ist nicht alles überelegant formuliert, was Luther dichtete. So mancher Reim knittelt sich großzügig zusammen. „Dein Weib wird in deim Hause sein / wie ein Reben voll Trauben fein / und dein Kinder um deinen Tisch / wie Ölpflanzen gesund und frisch.“ Das sind Bilder, über die zu streiten wäre. Auch die Liedertitel holpern bisweilen ein wenig arg daher: Was fürchtest Du, Feind Herodes, sehr. Das geht nicht gerade flüssig über die Lippen. Erst Paul Gerhardt hat in hinreißender Eleganz und Bildkraft die Empfindungen des protestantischen frommen Ichs in seinem Zwiegespräch mit Gott und der Schöpfung ins Zentrum gerückt. Erst ihm, nicht Martin Luther, ist in den Sinn gekommen, ein Lied mit den Worten einzuleiten: „Herr, ich will gar gerne bleiben, wie ich bin, dein armer Hund .“ Luther weiß nichts von „Narzissus“, „Tulipan“ und „Salomonis Seide“. Er spricht lieber von einer „festen Burg“, „dem kommenden Reich“, von „Pein“, „Feuer“, „Teufel“ und „Christus“. Er redet von „uns“ und dem „wir“ der Gemeinde, die sich im Gesang selbst ins Bild darüber setzt, wie Gott sie in schwieriger Zeit beschützt. So hat Luther Psalmen umgedichtet und vertont, altkirchliche Hymnen ins Deutsche übertragen, biblische Erzähllieder geschrieben und geistliche Kinderlieder verfasst. Letztere lagen ihm besonders am Herzen.
Lieder fördern Geist und Seele
Denn Kinder sind die Zukunft der Gemeinde. Auch deshalb setzte sich Luther für eine Liederschule von Kindheit an ein. Für jedes Kind sollte es zwar keine Flöte, aber die ordentliche Schulung im Liedgesang geben. „Kinder müssen singen und die Musica mit der ganzen Mathematica lernen.“ Lieder, davon war Luther überzeugt, prägen stärker als jeder gesprochene Text. Mit ihren gedichteten Texten fahren sie in die Seele hinein. Sie können, wie Luther urteilt, „dem jungen Volk“ zentrale biblische Einsichten vor Augen führen, bevor es überhaupt lesen kann. Sie sind eine Art Kinderstunde und Volkskatechismus, über den die Zehn Gebote, die Texte des Abendmahls oder das komplizierte Glaubensbekenntnis spielend in das Gedächtnis Eingang finden.
Das ist das eine. Das andere ist: Singen ist etwas Intimes. Die Seele muss sich trauen können. Das will früh geübt sein. Mit Liedern gibt sich der singende Mensch nämlich seinen Mitmenschen preis – zeigt sich, zeigt seine Stimmung, zeigt seine Überzeugungen. Immer wieder kommt Luther darauf zu sprechen. Im Lied greifen Text und Melodie ineinander, verstärken sich, packen das Herz der Singenden und das derer, die hören, noch einmal ganz anders als bei gesprochenen Texten. Luther formulierte es einmal so: Christus steige in unvergleichlicher Kraft in die Tiefen des singenden Herzens hinein und aus den Tiefen der singenden Herzen wieder empor. Das kann natürlich nur glücken, wenn die Sprache der Lieder verstanden wird. Es kommt also darauf an, „dass ein Mensch nicht nur mit Worten, sondern mit dem Sinn und Verstand des Herzens singt“ und Lieder hören kann.
Singen nur im Freien
Luther führt es am Abendmahl vor Augen. Es sei wunderbar, wenn die Einsetzungsworte über Brot und Wein gesungen würden. Aber „wer sie nicht ins Herz fasst, dem hilft es nicht, wenn tausend Prediger sich toll und thöricht schreien“. Der Klang allein entscheidet also nicht schon über das Lied. Es muss verstanden werden.
Deutschsprachige geistliche Lieder gab es schon vor Luthers Zeiten. Das deutsche geistliche Lied hat er also nicht erst erfunden. Allerdings wurden die Lieder, die er vorfand, nur draußen vor der Tür gesungen, wenn Menschen pilgerten, über das Land prozessierten oder ihre Angehörigen zu Grabe trugen. Da hatte offensichtlich das Konzil zu Basel 1435 ganze Arbeit geleistet, als es verbot, während des Gottesdienstes geistliche Lieder in der Volkssprache zu singen. Im Gottesdienst durfte die Gemeinde hin und wieder ein Kyrie eleis, ein Halleluja oder Hosianna anstimmen. Nur verstand da kaum jemand, was er sang. Darüber hat sich eine berühmte Flugschrift aus der Reformation lustig gemacht. Sie dokumentiert: Die Reformation schaute nicht nur dem Volk kirchenmusikalisch aufs Maul. Sie übte sich in kluger Musikkritik, ohne der Gemeinde ihre Freude am Hallelujasingen zu nehmen.
Sperrig, aber voller Energie
Diese Freude kommt in Luthers Auferstehungsgesang „Christ ist erstanden“ voll auf ihre Kosten. So gelang es Luther, den muttersprachlichen Gemeindegesang für den Gottesdienst neu zurückzuerobern. Es ist eine echte Rückeroberung. Luther hat dabei so manchen mittelalterlichen deutschen Gesang in das 16. Jahrhundert hinübergerettet. Das wirkt bis heute. Ist es ein Zufall, dass ausgerechnet das Osterlied „Christ ist erstanden“ von allen Lutherliedern am stärksten unter die Haut geht? Luther hat diese „Osterleise“ – „Leise“ von dem die Strophe abschließenden „Kyrieleis“ – unter der Rubrik „Lieder, von den Alten gemacht“ in sein Wittenberger Gemeindegesangbuch aufgenommen. Das Deutsch ist sperrig und mag fremd wirken. Seine Energien aber sind hoch. Die Arbeit mit Konfirmandinnen und Konfirmanden bestätigt das. Hinter dieser „Osterleise“ verblasst für Jugendliche ohne jedes Pardon nicht nur so manches neue geistliche Lied.
Der Text ist entscheidend
Die von Luther und seinen Freunden komponierten und gedichteten Lieder reformierten den Gottesdienst. Sie entfalteten darüber hinaus eine ganz eigene Macht. Der Macht von Fanliedern in Fußballstadien vergleichbar, feuerten sie die Reformationsbewegung vor allem in den Städten an. Gott und das Leben gemeinsam zu besingen, das schweißt zusammen und macht stark. Das hatten doch schon die ersten Christen zum Morgenanbruch des Sonntags so erfahren.
Gesänge schmieden Bündnisse, Bündnisse nicht nur mit Zeitgenossen. Singen verbündet, so glaubt Luther, auch über die Zeiten hinweg mit den biblischen Gestalten, mit König Salomo und seinen hohen Liedern, mit Mose als Sänger des Meerliedes (2. Mose 15), mit dem Lied der Deborah, mit Zacharias, mit Simeon und seinem schönen Lebensabgesang. Wer ein Christ sei, der singe mit der lieben Jungfrau auch ein Magnifikat. Luther vergisst nicht, mit einem schrägen Seitenblick gegenüber dem römischen Marienkult zu notieren: „Maria sagt nicht, man werde ein Liedlein von ihrer Tat singen.“ Überhaupt tut es die Melodie allein freilich nicht. Luther warnt: „Faule Bäuche, böse Wölfe, gottlose Säue“ hätten „wahrlich treffliche, schöne Musik oder Gesänge, besonders in den Stiften und Pfarren, aber viele unsauber, abgöttische Texte damit geziert.“ Der richtige Text erst macht für Luther eine Kirchenmusik, die diesen Namen verdient.
Es lohnt ein genauer Blick
Ein Glück, dass es da die „lieben Psalmen“ gibt. Die können stilbildend wirken. Luther hat sie als Theologieprofessor immer wieder für Studierende ausgelegt und als Mönch in den Stundengebeten verinnerlicht. Das brachte ihn auf die Idee, das deutsche Psalmlied zu erfinden. Sieben Psalmlieder sind von ihm überliefert. „Ein feste Burg ist unser Gott“, diese „Marseillaise des Reformationsliedgutes“, wird heute noch auf den Feldern der südamerikanischen Befreiungstheologie gesungen. Es lohnt über die erste Strophe hinaus die Texte genauer anzuschauen. Mit Psalm 12 als Vorlage dichtet Luther als zweite Strophe seines Liedes „Ach Gott, vom Himmel sieh darein“: „Ihr Herz nicht eines Sinnes ist in Gottes Wort gegründet. Der wählet dies, der andere das; sie trennen uns ohn alle Maß und gleißen schön von außen.“
Soll noch einmal jemand in Berufung auf die Reformation sagen, die Vielstimmigkeit und Pluralität von Meinungen bei einheitlicher kirchenvioletter Verpackung sei Kennzeichen evangelischer Freiheit! Luther lässt Gott selbst in diesem Lied gegen diese Auffassung einschreiten: „Mein heilsam Wort soll auf den Plan!“ Erst Herzenseinigkeit in Kernüberzeugungen stiftet Freiheit. Das dritte berühmte Psalmlied „Aus tiefster Not schrei ich zu Dir“ verstand Luther als Trostlied. Man muss es wie den 130. Psalm, der ihm zugrunde liegt, eben von Anfang bis Ende singen.
„Mitten im Tod, wir sind im Leben“
Klagelieder waren ganz auffällig Luthers Sache nicht. „Wir können nicht eher singen, als es uns wohl geht, wo es uns aber übel geht, ist das Singen aus.“ Melancholische Trauer, das war für Luther das Ende vom Lied. Er beschwört gegen jene schwarzen Stimmungen, die er aus eigener Anschauung nur zu gut kannte, die Gemeinde, gegen den Tod anzusingen. „Die Kunst sollen die Christen können, das man Te deum laudamus singe, wenn es am übelsten gehe .“ Und er ergänzt an anderer Stelle: „Wir singen weder Trauerlieder noch Klagegesänge bei unseren Toten, sondern tröstliche Lieder von Vergebung der Sünden, von Ruhe, Schlaf, Leben, Auferstehung der verstorbenen Christen, womit unser Glaube gestärkt und die Leute zu rechter Andacht ermuntert werden.“
Über die Psalmlieder und alle anderen Lieder kommt es Luther zuletzt auf eines an. Das ist der Kern von Reformation und Musik, wenn Luther befragt werden soll: „Im Singen“ muss „Christus unser Psalm, Lied und Gesang werden“. Da kehre sich dann das Liedlein um, das man singe. Das Liedlein „Mitten im Leben wir sind im Tod“ werde „zum Lied: Mitten im Tod, wir sind im Leben“. Wo das geschehe, urteilt Luther, singe ein Mensch voller Ungeduld nicht nur zur Adventszeit „Nun komm, der Heiden Heiland“! An Weihnachten übrigens hat es den Reformator dann doch hingerissen. Da blitzt auf, was bei Paul Gerhardt zur Regel werden sollte, da kommt Luther auf sein eigenes Gemüt zu sprechen: „Ach mein herzliebes Jesulein, mach dir ein rein, sanft Bettelein, zu ruhen in meins Herzens Schrein, dass ich nimmer vergesse dein.“ Johann Sebastian Bach sollte mit diesem Choral die erste Kantate seines Weihnachtsoratoriums abschließen, mit verhaltenen Pauken und Trompeten nur im Zwischenspiel, aber nicht beim Gesang! Am Ende hatte der Luther gelesen und war bei diesem Choral gewarnt. Wie auch immer: Es wäre doch gelacht, wenn nicht wenigstens die Harfenengel im Himmel Martin Luther spielten.
Stephan Schaede