Matthias Claudius: Edelfeder für jedermann
Sein Abendlied „Der Mond ist aufgegangen“ gehört zu den beliebtesten deutschen Volksliedern
Matthias Claudius war Journalist, Theologe, Laienprediger, Dichter, Sekretär, Erbauungsschriftsteller, Literaturkenner, Netzwerker, Theaterkritiker und Satiriker. Berühmt wurde er aber als Liederdichter. Sein Abendlied „Der Mond ist aufgegangen“ gehört zu den beliebtesten deutschen Volksliedern.
Schon bei der Berufsangabe wird es schwierig. Journalist, Theologe, Laienprediger, Dichter, Sekretär, Erbauungsschriftsteller, Literaturkenner, Netzwerker, Theaterkritiker und Satiriker. Alles das war Matthias Claudius, und in fast jeder Disziplin erreichte er ein meisterhaftes Format. Unsterblich wurde er aber als Liederdichter. Sein „Abendlied“ hat sich in die deutsche Seele eingebrannt: „Der Mond ist aufgegangen“ nimmt in den Listen der beliebtesten deutschen Volkslieder regelmäßig den ersten Platz ein. Nicht nur bei Christen.
Seht ihr den Mond dort stehen?
Er ist nur halb zu sehen
und ist doch rund und schön.
So sind wohl manche Sachen,
die wir getrost belachen,
weil unsre Augen sie nicht sehn.
So legt euch denn, ihr Brüder,
in Gottes Namen nieder;
kalt ist der Abendhauch.
Verschon uns Gott mit Strafen,
und lass uns ruhig schlafen –
und unsern kranken Nachbarn auch.
Claudius hat mit dem Bogen zwischen dem Mond, der nur halb zu sehen und doch vollkommen ist, und dem Blick auf das Bett des kranken Nachbarn einen humanen Ton gefunden, der über Jahrhunderte hinweg die Menschen in ihrem Innersten erreicht. Wenn man jemandem beweisen will, dass wir heute nicht in einer völlig religionslosen Zeit leben, braucht man nur an dieses Lied zu erinnern. Es hat die Kraft, weit über den Kern der Kirche hinaus einen natürlich-frommen Sound auszustrahlen. Claudius' Abendlied verbindet alle, der garstige Graben zwischen Kirche und Welt ist hier aufgehoben. „Der Mond ist aufgegangen“ wurde Pop, Popularmusik, und ist im wahrsten Sinne des Wortes in aller Munde.
In Richtung Pfarramt vorgebildet
Ein Mann der Kirche war Claudius dabei nie. Obwohl als Pastorensohn aufgewachsen, die norddeutsche Familie Claudius brachte seit Jahrhunderten Theologen hervor, und mit zwei Semestern Theologie in Richtung Pfarramt vorgebildet, konnte er sich nicht mit dem Gedanken anfreunden, Pastor zu werden. Dafür fühlte er wohl zu frei und liebte zu sehr das Unkonventionelle. In dieser Hinsicht war er ein Freigeist, ein holsteinischer Dickschädel, eher Bauer als Akademiker.
Wenn Matthias Claudius auch nie eine Pfarrstelle innehatte, die ihm das Leben vermutlich einfacher gemacht hätte, denn er hatte zeitlebens Probleme, die kinderreiche Familie zu ernähren, ist sein Cantus firmus dennoch die fromme Empfindung. Er polemisierte zwar mit satirischer Schärfe gegen orthodoxe Rechthaberei um jeden Preis, so gegen den Hamburger Hauptpastor Johann Melchior Goeze, aber die Sache mit Gott hat Claudius nie losgelassen. Seine Kritik an der Institution Kirche war von einer Art kritischer Solidarität geprägt. Tiefes Gottvertrauen gehörte zu seinem psychischen Grundgepäck. Das existenzielle Abtasten der Seelentiefe machte ihn zu einem kompromisslosen Menschenfreund.
Meister der kleinen Form
Mag sein, dass seine Mitgliedschaft bei den Logenbrüdern ihm als Wahrheitssucher dabei geholfen hat, dennoch versagte er radikalen wissenschaftsgläubigen Philosophen die Gefolgschaft. Als Aufklärer, wie sein Logenbruder Gotthold Ephraim Lessing, ging Claudius nicht in die Geschichte ein. Er blieb durch und durch ein in der Wolle gefärbter Christ, jenseits konfessionalistischer Dogmatik und mit einer gewissen Sympathie für die damals in Mode gekommenen Herrnhuter Pietisten. Seine Kanzel waren die Zeitung und das Buch, sein Medium das Gedicht, der fingierte Brief und die Kurzgeschichte. Einen Roman hat er nie geschrieben. Seine „Gesammelten Werke“ bleiben überschaubar. Er ist der Meister der kleinen Form.
Seinen Ruhm hat Claudius als Chefredakteur und Begründer der Zeitung „Der Wandsbecker Bothe“ erworben, auch wenn damit kaum Geld zu verdienen war. Im Flecken Wandsbeck, eine Fußstunde von Hamburg entfernt, lebte der Redakteur mit Frau Rebecca und den acht Kindern. Von 1771 bis 1775 erscheint das vierseitige Blatt viermal wöchentlich in einer Auflage von 400 Exemplaren. Später wird Matthias Claudius als der personifizierte „Wandsbeker Bote“ in die Geschichte eingehen. Aber was ist das Besondere an diesem Zeitungsmann, „Paper-Mann“ wie er sich selbst einmal tituliert hat? Es sind Originalität, Geradlinigkeit und kunstvolle Kunstlosigkeit, also die Begabung, tiefe Wahrheiten in schlichte Worte zu fassen: als feuilletonistische Edelfeder für jedermann.
Feinsinnige Poesie
Seine ersten Erfahrungen als Blattmacher hatte er als Jungredakteur der „Hamburger Adreß-Comptoir-Nachrichten“ machen können. Dort musste er Mitteilungen über Schiffsankünfte, Börsennotationen und Hotelgäste in Blei setzen lassen. Aber Claudius wäre nicht Claudius, wenn er nicht die Chance genutzt hätte, dort einen sehr speziellen anderen Sound zu platzieren. Sein „Wiegenlied bei Mondschein zu singen“ wurde von ihm zwischen Handels- und Lokalneuigkeiten abgedruckt und – führte prompt zur Abmahnung.
„So schlafe nun du Kleine, was weinest du? Sanft ist im Mondenscheine, und süß die Ruh.
Auch kommt der Schlaf geschwinder, und sonder Müh. Der Mond freut sich der Kinder und liebet sie.
Er liebt zwar auch die Knaben, doch Mädchen mehr, gießt freundlich schöne Gaben, von oben her
auf sie aus, wenn sie saugen, recht wunderbar, schenkt ihnen blaue Augen und blondes Haar.
Alt ist er wie ein Rabe, sieht manches Land. Mein Vater hat als Knabe Ihn schon gekannt.“
Dem Zeitungsverleger Polykarp August Leisching fehlt für diese feinsinnige Poesie jeder Sinn. Er möchte die Auflage steigern. Sein Rezept: die Zeitung mit weniger Kultur ausstatten und stattdessen mit dem Genre „Unterhaltung“ am liebsten alle Leserschichten auf einmal befriedigen. Claudius erleben wir in diesem Konflikt als absolut konsequent. Er duckt sich nicht, sondern wirft die Brocken hin. Als Abschiedsgruß setzt er einen fingierten Brief an den unterhaltungssüchtigen Verleger ins Blatt: „Aber wovon soll ich Sie denn unterhalten, lieber Herr Gevatter? Vom Türkenkriege? Von Amorn? Von Amorn muss man nicht Briefe schreiben, er haßt die Schwätzer, der kleine holde Götterknabe der … Also von nichts? Ja doch von nichts, meinetwegen, das ist so gerade das Fach, darin ich am stärksten bin.“
Er ließ sich nicht kleinkriegen
Diesen vor Ironie triefenden Abschiedsbrief darf man getrost auch heute in mancher Redaktionsstube an die Pinnwand heften. Mit literarisch ambitionierter Kultur ist eben schwerer Auflage zu machen, als mit Sex and Crime. Hohe Einschaltquoten erreichen Fußball und Comedy. Kulturjournale, und seien sie noch so frisch und gut gemacht, dümpeln meist in seichten Einschaltgewässern vor sich hin. Claudius ließ sich nicht kleinkriegen. Mit aufrechtem Gang und viel Gottvertrauen zieht er seiner Straße fröhlich. Denn er hat gehört, im Hamburg benachbarten Wandsbek, das zum dänischen Gesamtstaat gehörte und sich damals noch mit ck schrieb, habe ein gewisser Baron Heinrich Carl von Schimmelmann ein Zeitungsprivileg zu vergeben.
Der für den dänischen Hof wirkende Finanzminister und vom König geadelte Reeder und Kaufmann gehörte zu den einflussreichsten Männern seines Landes. Der atlantische Dreieckshandel, Schiffsladungen mit Schnaps und Waffen aus Dänemark, Sklaven aus Westafrika sowie Zuckerrohr und Rum aus der Karibik, florierte so stark, dass er der reichste Mann Europas wurde. Und das so verdiente Geld investierte er in Hochkultur. Ein Barockschloss nebst englischem Garten musste her und eine neue Zeitung, die seinem bis dato ziemlich unbekannten Wandsbek einen guten Namen machen sollte. Und sie wird „Der Wandsbecker Bothe“ heißen.
„Ich bin ein Bothe und nichts mehr“
Sein Redakteur Matthias Claudius geht mit Feuereifer an die Sache. Ein Freund und Kupferstecher namens Johann Martin Preisler erhält den Auftrag für die Titelgestaltung: Es soll „irgendwo eine Gruppe von 3-4 Fröschen mit offenem Munde (angebracht) werden und darüber eine Eule, die ins Geschrei sähe und auf der anderen Seite ein kleiner Genius!“ Damit ist das inhaltliche Programm beschrieben: ein satirisch ausgerichtetes Organ, das die Weltgeschichte nicht mit Bierernst unter die Lupe nimmt, sondern mit menschenfreundlichem Humor.
Das Genre aus heutiger Sicht: Weniger Handelsblatt und FAZ als Eulenspiegel oder zeitzeichen. Keinesfalls aber ein Vorläufer der Gartenlaube. Heimattümeleien sind im "Wandsbecker Bothen“ trotz des provinziell anmutenden Titels jedenfalls nicht zu entdecken. Das eher kosmopolitisch ausgerichtete Konzept beschreibt Asmus (Pseudonym für Claudius) in der ersten Ausgabe so: „Ich bin ein Bothe und nichts mehr. Was man mir gibt, das bring´ ich her, gelehrte und polit´sche Mär; von Aly Bay und seinem Heer! Von Persien wo mit seinem Speer der Prinz Heraklius wütet sehr.“
Claudius liebt solche Sprachspiele. Hier spürt jeder Leser sofort, dass er Martin Luthers Weihnachtslied „Vom Himmel hoch, da komm ich her“ parodiert. Und wenn er sich bescheiden „ein Bothe und nichts mehr“ nennt, schwingt mit, dass es auch ihm um eine christliche Botschaft geht, um Inhalte vom Himmel hoch.
Illustre Autoren
Um den modernen Kommunikationsheiligen Marshall McLuhan zu bemühen: Auch für den „Wandsbecker Bothen“ gilt „the medium is the message“. Lyrik ist eben Lyrik. Parodie ist Parodie. Nachrichten sind Nachrichten. Diesem Boten geht es um eine Botschaft, die mehr ist, als die Übermittlung von Nachrichten. Als Nachrichtenredakteur wäre Claudius ziemlich fehl am Platz gewesen. Aber er wäre kein guter Blattmacher, wenn er nicht zugleich andere zum Schreiben verpflichtet hätte. Die Autorennamen lesen sich wie ein Who is Who seiner zeitgenössischen Literaturwelt: Goethe, Klopstock, Voß, Hölty, Stolberg, Miller.
Der Clou aber waren die Artikel aus Matthias Claudius' Feder. Dadurch wurde das Blatt zu etwas Besonderem. Der Verfasser trat immer häufiger anonym auf. Zunächst als "Asmus“. Später sollten seine „sämtlichen Werke“ den alternativen Titel „Asmus omnia sua secum portans“ erhalten, dann auch als Freund Andres oder Lehrmeister Ahrens.
Einem solchen literarischen Trick der Kunstfigur begegnen wir ein gutes Jahrhundert später bei dem Journalisten und Schriftsteller Kurt Tucholsky, der in der Weimarer Republik als Peter Panter, Theobald Tiger oder Ignaz Wrobel für das Profil der Weltbühne sorgte. Sicher wäre es verwegen, Claudius, der immer dem Bürgertum verhaftet blieb, und Tucholsky als Seelenverwandte zu bezeichnen. Aber beide glaubten als Logenbrüder an das Humanum, liebten das parodistische Versteckspiel, hatten eine Ader fürs Satirische und besaßen einen entwaffnenden Humor.
Frisch, anstößig, bissig, neu und tröstlich
Ein politisch agitierender Schriftsteller wollte Claudius aber, im Gegensatz zu Tucholsky, nie sein, auch wenn seine Zeilen über den „Schwarzen in der Zuckerplantage“ seinen Verleger, den Minister und Sklavenhändler Schimmelmann, hätten treffen müssen: „Weit von meinem Vaterlande muss ich hier verschmachten und vergehn, ohne Trost, in Müh' und Schande. Ohhh die weißen Männer, klug und schön. Und ich hab' den Männern ohn' Erbarmen nichts getan. Du Himmel, hilf mir armen Schwarzen Mann!“
Man kann bei der Lektüre der „Sämmtlichen Werke des Wandsbecker Bothen“ auf Erstaunliches stoßen. Auch heute ist vieles noch frisch, anstößig, bissig, neu und tröstlich. Also: Lesen! Hier nun das Gedicht, das ich „täglich zu singen“ empfehle:
„Ich danke Gott und freue mich wie's Kind zur Weihnachtsgabe, dass ich bin, dass ich dich, schön menschlich Antlitz, habe.
Ich danke Gott mit Saitenspiel, dass ich kein König worden. Ich wär' geschmeichelt worden viel und wär' vielleicht verdorben.
Auch bet' ich ihn von Herzen an, dass ich auf dieser Erde nicht bin ein großer reicher Mann und auch wohl keiner werde.
Gott gebe mir nur jeden Tag, so viel ich darf zum Leben. Er gibt's dem Sperling auf dem Dach, wie sollt'er's mir nicht geben?“
Uwe Michelsen (2015 aus: zeitzeichen)
Uwe Michelsen ist evangelischer Pfarrer, Journalist und ehemaliges Mitglied im Rat der EKD.