Mündigkeit statt Kirchenzucht
Wie die Konfirmation entstand und was sie heute bedeutet
Die Konfirmation ist eine jahrhundertealte Tradition in den evangelischen Kirchen. Das Konzept hat sich aber im Laufe der Zeit stark gewandelt: Während Teenager früher Martin Luthers Schriften auswendig lernen mussten, stellen Konfirmanden heute Fragen und diskutieren über Glaubensinhalte.
Wer sich dem hessischen Dorf Bonames durch das Niddatal im Frankfurter Norden nähert, sieht zunächst einen behelmten Kirchturm. Am Dorfeingang ragen links die Reste einer alten Wehranlage bis an die Straße heran. Die Landstraße steigt stark an, und schon nach 150 Metern hat man sie erreicht: die barocke Dorfkirche, im Dreißigjährigen Krieg stark beschädigt, 1661 frisch renoviert und neu ausgestattet. Damals kam auch ein neuer Pfarrer aus dem hessischen Umland in die Frankfurter Landgemeinde. Sein Name: Johann Heinrich Henrici. Er führte die Konfirmation ein – einen Brauch, den er aus der angrenzenden Landgrafschaft Hessen-Darmstadt mitgebracht hatte.
Der reguläre Katechismusunterricht sah bis dahin etwa so aus: Der Pfarrer versammelte die Kinder gegen Ende ihrer Schulzeit bei sich im Pfarrhaus. Er ließ sie den Kleinen Katechismus von Dr. Martin Luther memorieren. Sie sagten ihn auf. Und daraufhin bescheinigte ihnen der Pfarrer die Zulassung zum Abendmahl.
Die Neuerung, die mit Pfarrer Henrici nach Bonames kam, war, dass er die Zulassung zum Abendmahl öffentlich, also vor versammelter Gemeinde, erteilte. Dieses bahnbrechende Ereignis hat leider im Bonameser Gemeindearchiv keine einzige Spur hinterlassen. Wir wissen davon nur deshalb, weil Pfarrer Henrici in diesem Jahr Besuch aus dem Stadtgebiet Frankfurts bekam.
Verbreitung durch Spener
1666 war ein Straßburger Prediger namens Philipp Jacob Spener zum Senior der lutherischen Pfarrerschaft Frankfurts berufen worden. Eine seiner ersten Visitationen führte ihn nach Bonames zu Pfarrer Henrici, just als dieser seine Katecheten in einem Gottesdienst der versammelten Gemeinde vorstellte. Spener war begeistert: ein Gottesdienst mit öffentlicher Bekräftigung („Konfirmation“) des Taufversprechens aus dem Munde der Katechumenen!
In seinem Visitationsbericht, den er am 12. Oktober 1667 dem Rat übergab, wird die Bonameser Praxis den übrigen Frankfurter Gemeinden zur Nachahmung empfohlen. Speners Begründung: Die Konfirmation sei zwar kein Sakrament, aber doch ein seit den Zeiten der Apostel gehaltener Ritus. Sie diene der Gemeinde zur Erbauung – und nicht nur ihr, sondern mindestens ebenso den jungen Konfirmanden. Durch ein öffentliches Bekenntnis würden sie an ihre Taufe erinnert und an ihre Pflicht, sich mit Gott zu verbinden.
Spener machte sich damals mit scharfen Bußpredigten in Frankfurt einen Namen. Den Bürgern der Stadt warf er vor, ihr Christentum sei zu äußerlicher Kirchgängerei verkommen. Wahrer christlicher Glaube erfordere eine disziplinierte Frömmigkeit und zeige sich in tätiger Liebe. Drei Jahre nach dem Visitationsbericht aus Bonames gründete Spener seinen ersten Hauskreis mit einer kleinen Gruppe Gleichgesinnter, das Collegium Pietatis. Acht Jahre später erschien sein Hauptwerk: „Pia desideria oder herzliches Verlangen nach gottgefälliger Besserung der wahren Evangelischen Kirche samt einigen dahin einfältig abzweckenden christlichen Vorschlägen“. Das Buch gilt als programmatische Schrift des Pietismus. Die zu tätigem Christentum verpflichtende öffentliche Konfirmation in Bonames diente Spener als Beispiel für das, worauf er hinaus wollte. Heute würden Kirchenfunktionäre sagen: als „Best-Practice“ und als „Leuchtturmprojekt“.
Überragende Rolle
Pfarrer Henrici hatte die Konfirmation aus seiner Heimat, der Landgrafschaft Hessen-Darmstadt mitgebracht. Doch erst von Bonames aus – und erst dank des fremden Blicks, den der von Glaubensinnerlichkeit getriebene Spener darauf warf – verbreitete sich das landgräflich-hessische Sonderfest über die Grenzen Hessen-Darmstadts hinaus. Nicht sofort, sondern sehr langsam. Der Frankfurter Magistrat genehmigte die Einführung zunächst nur in seinen Landgemeinden, aber in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts setzten sich Konfirmationsgottesdienste im deutschen Protestantismus flächendeckend durch.
Die Konfirmation gehört nicht zwingend zum Protestantismus, sie ist kein Sakrament. Trotzdem spielt sie heute zumindest im deutschen Protestantismus eine überragende Rolle: Gemeinsamer Ein- und Auszug mit Pfarrer, mahnende Worte eines Kirchenvorstehers, Segen vorm Altar – bis ins hohe Alter erinnert man sich daran bei Silberner, Goldener und Diamantener Konfirmation. Jubilare reisen selbst aus fernen Ländern an. Vergleichbare Taufjubiläen gibt es dagegen nicht.
Ordnung aus der Reformationszeit
Wie genau Pfarrer Johann Heinrich Henrici die Konfirmation seiner Bonameser Zöglinge feierte, ist nicht überliefert. Vermutlich folgte er der Ziegenhainer Kirchenzuchtordnung, hatte er doch seine Ausbildung im hessischen Umland absolviert. Landgraf Philipp I. hatte diese Ordnung 1538/39 auf der Wasserfestung Ziegenhain im heutigen nordhessischen Schwalmstadt verhandeln lassen.
Die Ordnung schreibt einen Ritus für die öffentliche Bekräftigung des Taufversprechens vor: „Es sollen die Ältesten und Prediger auch darauf sehen, dass die Kinder, die nun durch den Katechismus-Unterricht im christlichen Verständnis so weit gebracht sind, dass man sie billig zum Tisch des Herrn zulassen sollte, auf ein hohes Fest wie Ostern, Pfingsten und Weihnachten vor aller Gemeinde dem Pfarrer an dazu verordnetem Ort von ihren Eltern und Paten vorgestellt werden. Dabei sollen die Ältesten und alle anderen Diener des Wortes um ihn stehen. Da soll der Pfarrer diese Kinder über die wichtigsten Stücke des christlichen Glaubens befragen. Und nachdem die Kinder darauf geantwortet, sich da auch öffentlich Christus dem Herrn und seiner Kirche ergeben haben, soll der Pfarrer die Gemeinde vermahnen, den Herrn für diese Kinder um Beständigkeit und Mehrung des Heiligen Geistes zu bitten und solches Gebet mit einem Kollektengebet beschließen. Nach dem allen soll dann der Pfarrer diesen Kindern die Hände auflegen und sie so im Namen des Herrn konfirmieren und zu christlicher Gemeinschaft bestätigen, sie darauf auch zum Tisch des Herrn gehen heißen, mit angehängter Vermahnung, sich im Gehorsam des Evangeliums treulich zu halten und christliche Zucht und Strafe von allen und jedem Christen, vor allem aber von den Seelsorgern allezeit gutwillig aufzunehmen und ihnen gehorsam Folge zu leisten.“
Kompromiss von Lutheranern und Täufern
Mit der Ziegenhainer Kirchenzuchtordnung schlichtete Philipp zwölf Jahre nach Einführung der Reformation in Hessen einen Streit zwischen Lutheranern und Täufern. Die Lutheraner beharrten auf der Säuglingstaufe. Die Täufer argumentierten, dass sich der Getaufte in die Nachfolge Christi stelle, zur geschwisterlichen Christengemeinde bekenne und von jeglicher Gewalt fernhalten müsse. Das setze ein persönliches Bekenntnis zum Glauben voraus. Der Gegensatz schien unüberbrückbar. Andernorts verwies man „Wiedertäufer und Anabaptisten“ des Landes oder richtete sie hin. Philipp aber drängte auf eine Einigung – was ihm damals den Beinamen „der Großmütige“ eintrug. Heute würde man ihn tolerant nennen.
Der Landgraf holte 1538 den Elsässer Reformator Martin Bucer zur Hilfe, der schon im Abendmahlsstreit zwischen Martin Luther und Ulrich Zwingli vermittelt hatte. Bucer verknüpfte beide Anliegen. Es blieb bei der Säuglingstaufe, der Bund der Taufe wurde aber mit Erreichen der Mündigkeit vor der ganzen Gemeinde bekräftigt. Die Konfirmierten unterstellten sich der Zucht der Kirchenältesten, die darüber wachten, dass sie in der Nachfolge Christi blieben. Die Regelung war ein Kompromiss. Die öffentliche Bekräftigung der Taufe wurde lokaler Brauch in der Landgrafschaft, bis Pfarrer Johann Heinrich Henrici ihn beim Wechsel in eine Landgemeinde der Freien Reichsstadt Frankfurt am Main mitnahm.
Doch in dem Moment, als Spener die Konfirmation in Bonames entdeckte, verschoben sich die Akzente: Den Täufern ging es um äußere Zucht, Spener um Glaubensinnerlichkeit. Sie ließen die Selbstverpflichtung der Katechumenen vor einer Gemeinde durch berufene Älteste absichern. Spener war von der Feierlichkeit des Augenblicks beeindruckt. Er setzte darauf, dass sie den Jugendlichen zur inneren Erbauung diente und sie sich an die aus der Taufe ergebende Pflicht erinnern würden – als hoffe er hier auf ein erneutes Wirken des Heiligen Geistes. Kein Wunder, dass Spener vor dem Frankfurter Rat betonen musste, er wolle kein neues Sakrament einführen.
Zwischen Taufe und Abendmahl
Wenn man den Abschnitt aus der Ziegenhainer Kirchenzuchtordnung über die Konfirmation liest, glaubt man, viele Gemeinsamkeiten mit der heutigen Konfirmation zu entdecken. Aber es lohnt sich, genauer hinzuschauen. Denn in der Sache hat sich vieles grundlegend geändert: Lotte Fiebig besucht den Konfirmandenunterricht in Frankfurt-Bonames. Trinitatis 2016, am Sonntag nach Pfingsten, wird sie konfirmiert. Drei Wochen vorher werden zwei Mitkonfirmanden getauft – während eines Vorstellungsgottesdienstes, den Lottes Gruppe gemeinsam vorbereitet. Ihre Taufe erinnert alle anderen daran, dass auch sie getauft wurden. Wer schon als Säugling in der Bonameser Kirche getauft wurde, durfte bereits seinen Eintrag in den Kirchenbüchern aus dem Stahltresor des Gemeindebüros nachschlagen.
Lottes Verwandtschaft wird am Wochenende vom 21. zum 22. Mai aus Norddeutschland anreisen. Am Samstagabend wird Lotte mit Eltern, Paten und Großeltern zum Feierabendmahl in die Bonameser Kirche gehen. Die Pfarrer der Gemeinde machen den Jugendlichen deutlich, wie ihre Konfirmation zwischen Taufe und Abendmahl steht. Die Taufe stellt sie in die Nachfolge Jesu. Das Abendmahl schafft Gemeinschaft mit ihm. Und die Konfirmation macht beides bewusst.
Dass sie darüber hinaus eine Bekräftigung des Taufversprechens ist, mag eine vage Hoffnung sein. Aber natürlich ermahnt heute niemand die Konfirmanden, „sich im Gehorsam des Evangeliums treulich zu halten und christliche Zucht und Strafe von allen und jedem Christen, vor allem aber von den Seelsorgern allezeit gutwillig aufzunehmen und ihnen gehorsam Folge zu leisten“.
Eigene Wertvorstellungen entwickeln
An die Stelle eines dürren, verkopften Katechismuslernens ist moderner Unterricht getreten. Die Jugendlichen sollen nicht bloß Luthers Fragen und Antworten zu den Hauptstücken des Glaubens repetieren. Die Pfarrer und ehrenamtlichen Helfer haben Lottes Konfirmandengruppe gebeten zu sagen, was sie über das Abendmahl wissen wollen. Und die Konfirmanden fragten: Wie oft gibt es Abendmahl in der Kirche? Wer darf kommen? Wie läuft das ab? Was sagt der Pfarrer? Was macht die Gemeinde? Wann darf man die Hostie essen? Woher wusste Jesus, dass er verraten würde?
Lotte hat gefragt: „Wieso ist der Brot der Leib und der Wein das Blut?“ Die Antwort weiß sie noch Wochen später: „Brot und Wein kommen am jüdischen Pessachfest vor, beide stehen für das Leben, das Jesus hingibt für andere.“ Um im Glauben mündig zu werden, reicht es nicht, formalen Anforderungen zu genügen. Es setzt vielmehr wirkliches Verständnis voraus.
Die Konfirmanden entwickeln auch eigene Wertvorstellungen. Sie haben diskutiert: Was ist besser: Erwachsenen- oder Kindertaufe? Niemand hat ihre Entscheidung bewertet oder gar verworfen. Früher haben sich Christen darüber bis aufs Blut gestritten. „Was ist wichtig für mein Leben?“, lautet die Frage auf einem Arbeitsblatt mit Piktogrammen, die für bestimmte Werte stehen. Lotte hat angekreuzt: Vertrauen, Hoffnung, Gemeinschaft, Bildung, Stille, Liebe. Andere Werte zählen für sie weniger: Erfolg, Geld, Glaube. Die Pfarrer vertrauen darauf, dass die Auseinandersetzung mit diesen Fragen den Jugendlichen hilft, eine eigene Haltung zu entwickeln. Niemand verlangt, sich auf erwünschte Werte festzulegen.
Diskutieren statt pauken
Zu Martin Bucers Zeiten mögen die Gemeindeältesten moralisches Wohlverhalten eingefordert haben. Philipp Jacob Spener mag gehofft haben, durch Feierlichkeit Eindruck auf die Jugendlichen zu machen, damit sie sich die biblischen Gewissheiten mit dem nötigen Ernst innerlich aneignen – und so weltliche Verirrungen abstreifen. Beides ist heute in einer pluralen Gesellschaft nicht mehr denkbar, in der Menschen einen vergleichsweise großen Spielraum für ihre Entscheidungen haben.
Insofern sind Konfirmandenzeit und Konfirmation etwas anderes als zu Bucers und Speners Zeiten. Der Unterricht ist keine Paukerei, die Konfirmation kein Examen. Lottes Konfirmandengruppe ist eine Jugendgemeinde auf Zeit. Einmal im Monat trifft sie sich zu Konfi-Abenden. Man isst gemeinsam, singt, erlebt Stille bei Kerzenschein, sieht Filme. Es wird diskutiert, gebetet, ein Gottesdienst gemeinsam vorbereitet. Mal erkundet die Gruppe die eigene Kirche, mal macht sie am Samstag einen Ausflug in die Frankfurter Synagoge, zweimal verbringt sie gemeinsam verlängerte Wochenenden.
Regelmäßig besucht Lotte den Gottesdienst. Besucher staunen, wie lebhaft die Jugendlichen miteinander diskutieren. Die Jugendlichen aus Lottes Konfigruppe nähern sich Fragen des Glaubens ohne Zwang zur Konformität. Sie entwickeln eigene Glaubensvorstellungen. Auf eine gewisse Weise sind sie viel glaubensinnerlicher, als es sich Spener jemals vorstellen konnte.
Burkhard Weitz (zeitzeichen)