Rede beim Johannisempfang der Evangelischen Kirche in Deutschland am 27. Juni 2018 in Berlin

Landesbischof Heinrich Bedford-Strohm, Ratsvorsitzender der Evangelischen Kirche in Deutschland

„…wenig niedriger gemacht als Gott“.
 Menschenbilder im digitalen Zeitalter

 

 1. Einleitung: Wer kennt mich am besten?

Wer kennt mich am besten? Das ist eine wichtige Frage. Wenn er mir Gutes will, ist es wunderbar, dass er mich kennt. Denn er versteht mich und kann mir beistehen. Wenn er mir böse will, kann er meine Schwächen und Verletzlichkeiten ausnutzen.

Wer kennt mich am besten? Ich weiß nicht, wie Sie diese Frage beantworten würden. Ich muss nicht lange zögern mit meiner Antwort: meine Frau kennt mich am besten. Weit über dreißig Jahre sind wir schon gemeinsam durchs Leben gegangen. Sie erkennt, wie es mir geht, manchmal schon, bevor ich es selber weiß.

Eine Studie, die Facebook kürzlich durchgeführt hat, scheint Stoff dazu herzugeben, meine Gewissheit in dieser Hinsicht etwas zu bremsen. Diese Studie hat nämlich ergeben, dass der Algorithmus, also die mechanisch programmierte Datenauswertung, von Facebook schon heute die Persönlichkeit von Menschen besser einschätzt als deren Freunde, Eltern und Partner. Immerhin 86220 Freiwillige haben bei der Studie mitgemacht, indem sie einen umfangreichen Fragebogen zu ihrer Persönlichkeit ausfüllten. Auch ihre Arbeitskollegen, Freunde, Familienangehörigen und Partner wurden befragt. Das Erstaunliche war, dass der Algorithmus nur zehn Facebook-Likes benötigte, um die Vorhersagen der Arbeitskollegen zu übertreffen. 70 Likes brauchte er, um die Einschätzungen der Freunde zu toppen. 150, um besser zu sein als die Familienangehörigen. Und 300 Likes, um die Vorhersagen der Ehepartner zu übertreffen.

Es gibt gute Gründe, darüber zu erschrecken, welche Einsicht und so auch Macht diejenigen über uns haben, die über Daten von Milliarden Menschen verfügen. Und dieses Erschrecken bezieht sich ja nur auf jene Datenströme, die wir Nutzer kennen können. Hinter unserem Rücken, ungefragt und unsichtbar, werden wir analysiert und kategorisiert und dann spezifischer Werbung oder gezielter politischer Agitation ausgesetzt, ohne es zu ahnen.

Diese Mächte zu kontrollieren, ihre Macht zu begrenzen, uns wieder mehr Souveränität über unsere eigenen Daten zu geben, dies wird eine entscheidende politische Aufgabe der Zukunft sein. Diese und andere Aufgaben, die über die Zukunft unseres Landes und unseres Lebens entscheiden, setzen handlungsfähige Politik, insbesondere auch handlungsfähige Parteien voraus. An dieser Handlungsfähigkeit kann man in diesen Tagen ernsthafte Zweifel haben. Ich bitte alle, die darauf Einfluss haben, zum sachlichen Diskurs über die drängenden Probleme unserer Tage zurückzukehren!

 

2. Zwischen Heilsverheißung und Untergangsszenario

Inus der Geschichte hat es immer beides gegeben: Die Fortschrittsoptimisten, die alles Neue begrüßen und mitunter ein goldenes Zeitalter, die Befreiung des Menschen und das Ende allen Kummers verheißen. Und die Untergangspropheten, die schon bei der Einführung der Eisenbahn warnten, dass die Geschwindigkeit von 25 km/h der Menschenseele Verderben sein wird.

Die einen sehen das Ende der vertrauten Arbeitswelt kommen und machen sich Sorge um eine „nutzlose Klasse“ (Harari), die entstehen wird; die anderen sehen die Befreiung des Menschen von aller Arbeit, die nach Mustern und festgelegten Abläufen von statten geht, weil diese Vorgänge über kurz oder lang von Maschinen übernommen werden können.

Die einen jubeln angesichts der medizinischen Möglichkeit, die dem einzelnen Menschen gemäß seiner spezifischen DNA Therapie und Heilung verheißt; die anderen sehen eine Zweiklassenmedizin kommen, die es nur wenigen Reichen erlaubt, das medizinisch Mögliche auch zu bezahlen.

Die einen erwarten glückserfüllt eine Entwicklung der Künstlichen Intelligenz (KI), die nicht nur selbstlernende Systeme umfasst, sondern irgendwann auch den Umschlag in ein Bewusstsein, das dann dem Menschen über kurz oder lang überlegen sein wird. Die anderen stellen die sorgenvolle Frage, bis wohin die Reise der KI-Entwicklung eigentlich gehen mag und ob wir auf eine neue Dataismus-Religion mit erweitertem Bewusstsein zugehen (Harari) und unser klassisches Bild vom Menschen dem Untergang geweiht ist.

Da tun die Stimmen wohl, die die kategorialen Grenzen zwischen Mensch und Maschine einschärfen, die auch in Zukunft trotz aller rasanten Entwicklung der KI niemals überwunden werden, weil der Mensch ein Mensch ist, „weil er irrt und weil er kämpft, weil er hofft und liebt, weil er mitfühlt und vergibt, und weil er lacht und weil er lebt“, wie Herbert Grönemeyers Hymne an den Menschen formuliert. Bisher gibt es keine Hinweise darauf, dass maschinelles Lernen jemals ein Verständnis von seinem Objekt und von einem eigenen Anfang und Ende gewinnen kann.

Und auch wir in unserer Kirche stecken mittendrin in diesen Diskussionen um das, was kommen mag: Manche sehen in der Digitalisierung geradezu eine biblische Vision in Erfüllung gehen. Man kann ja durchaus ein Stück Pfingstgeist in den neuen Möglichkeiten der digitalen Welt und ihrer herrschaftsfreien Kommunikation aller mit allen wehen sehen. Aber mit ebenso guten Gründen wird auch bei uns auf die Schattenseiten verwiesen. Die Algorithmen verstärken die eigenen Meinungen und Vorlieben. Wenn man „googelt“, glaubt man, in die weite Welt zu blicken. In Wirklichkeit blickt man in einen – wenn auch breiten - Spiegel. Die großen Anbieter von Produkten weben uns ein mit Empfehlungen, die sich wie eine babylonische Gefangenschaft um uns legen: „Kunden, die dieses oder jenes Buch lesen oder diese oder jene Musik hören, lesen und hören auch …“ Der Algorithmus schwingt sich auf, zum Interpreten meiner Seelenlage zu werden, mein Innerstes zu kennen, und setzt mein Herz einem digitalen Angebotsfeuer aus, das sich immer weiter perfektioniert. Und mich – ohne dass ich es vielleicht merke – gerade dadurch standardisiert, weil es mir ja immer nur typische Angebote vor Augen malen kann.

Kaum eine dieser Beobachtungen dürfte neu oder einzigartig sein. Versuche ich sie aber mit etwas Abstand im Spannungsfeld zwischen Heils- und Unheilsprophetie der Gegenwart zu verstehen, fallen mir drei Aspekte auf:

1. Ich habe den Eindruck, dass wir alle mit dem Stichwort „Digitalisierung“ eine fundamentale Veränderung verbinden, mitunter mit einem Hauch von Unheimlichkeit, dass wir aber beim genaueren Nachfragen doch in fast allen Bereichen spüren: So ganz genau weiß eigentlich keiner, was kommen mag. So mögen die Einschätzungen der Digitalisierung eher die Sorgen oder Hoffnungen des Betrachters als die objektive Situation spiegeln.

2. Es ist für mich erstaunlich, wie ungebrochen mit der Digitalisierung eine Wiederbelebung des Fortschrittsparadigmas einhergeht. Das Silicon Valley hat Verheißungen in die Welt gesetzt, die so faszinierend sind, dass man sich dem kaum entziehen kann: Gesundheit für alle, langes, angeblich: ewiges Leben, Kommunikation mit jedem, netzbasierte Freiheitsbewegungen - es gibt so etwas wie eine Wiedergeburt der neuzeitlichen Verheißungsgeschichte. Wobei wir alle wissen: Fortschrittseuphorie nennt in aller Regel nicht den Preis, den andere zu zahlen haben und sie spricht auch nicht davon, wie klein, die Zahl derjenigen oft ist, die davon profitieren. Und: Das, was kommen wird, kommt nicht einfach wie ein Schicksal aus dem nichts Es wird vielmehr gesteuert. Die Verantwortlichen haben eine Telefonnummer und einen Mail-Account vermutlich auch.

3. Mitunter wird das Stichwort Digitalisierung mit quasi religiösen Erwartungen verbunden; der neue Himmel und die neue Erde der Bibel sind ein Klacks dagegen. Aber wenn Yuval Noah Harari in seinem Bestseller „Homo Deus. Eine Geschichte von Morgen“ die Welt im 21. Jh. auf drei Themen konzentriert sieht, nämlich auf Glück, Unsterblichkeit und Gottähnlichkeit, dann muss man kein Theologieprofessor sein, um zu erkennen, dass das schon die Verheißung der Schlange beim Sündenfall war: Ihr werdet sein wie Gott. (Gen 3). Wie wir in der Zukunft leben wollen, entscheiden wir, wobei wir in diesen Tagen erleben, wie zerbrechlich das “Wir” ist. Dazu braucht es die Kräfte der Zivilgesellschaft und der Politik.

Als Kirche haben wir einzubringen, was die biblische Überlieferung über den Menschen sagt.

 

3. Einsichten der christlichen Anthropologie

„Wenn ich sehe die Himmel, deiner Finger Werk, den Mond und die Sterne, die du bereitest hast: was ist der Mensch, dass du seiner gedenkst und des Menschen Kind, das du dich seiner annimmst? Du hast ihn wenig niedriger gemacht als Gott, mit Ehre und Herrlichkeit hast du ihn gekrönt.“

Diese Verse stammen aus Psalm 8, einem Gebet im Psalter des Alten Testaments, das auf seine Weise Antwort gibt auf diese ewige Frage: Was ist der Mensch?

Man kann diese Frage natürlich vielfältig beantworten, es gibt ganze Bibliotheken, die diese Frage beantworten wollen: Der Mensch sei „zoon logikon“ oder „animal rationale“, d.h. das vernunftbegabte Wesen, wie Aristoteles sagte, um damit die Differenz zum Tier zu betonen. Heute verstehen ihn manche eher biologistisch in großer Nähe zu den Tieren, sozusagen als eine etwas komplizierte chemische Algorithmusmaschine, als Spielball komplizierter biochemischer Zufälle, deren Freiheit nur vorgegaukelt ist.

Die biblische Tradition aber hat den Menschen nicht aus sich selbst heraus definiert, sondern immer zuerst in seiner Zugehörigkeit zu und in seiner Unterschiedenheit von Gott.

Die Antwort des Beters von Psalm 8 zeichnet den Menschen ein in seine einzigartige Rolle in der Schöpfung: Zuerst ist es das Staunen über Gottes Werke, das den Menschen auszeichnet, seine Verwunderung über alles, was unabhängig von ihm immer schon da ist. Im Menschen schlägt die Schöpfung ihre Augen auf - und erkennt zuerst ihr Gegenüber Gott. Das Leben ist weder als selbstverständlich noch als eigene Leistung oder Verdienst zu verstehen, weil alles schon da ist, bevor ich ins Leben eintrete. Biblische Anthropologie beginnt mit dem Lob Gottes.

Der Mensch ist „wenig niedriger als Gott, aber eben doch niedriger“. Darin spiegelt sich einerseits das Staunen des Menschen darüber, dass Gott ihn zum Herrn gemacht hat „über Gottes Hände Werk“, über seine Schöpfung, einschließlich aller Schafe und Rinder, aller wilden Tiere und Vögel und Fische. Andererseits wird dieser Mensch zugleich in und trotz dieser Herrschaft über die geschaffene Welt daran erinnert, dass er niedriger als Gott ist, dass er eben kein homo deus ist, sondern ein homo sapiens. Wenn er wirklich sapiens ist, dann darin, dass er sich zu unterscheiden weiß von und bezogen weiß auf Gott, obwohl ihm so viel Macht und Herrschaft in der Schöpfung Gottes gegeben ist.

So kommt auch das Besondere in den Blick: Psalm 8 ist ein Psalm, der Gottes Größe und des Menschen Bedeutung zugleich herausstreicht. Er kann das Staunen über Gottes Herrlichkeit erinnern, ohne den Menschen klein zu machen, ohne ihn zu erniedrigen, ohne ihn unwichtig werden zu lassen. Das wird ja oft dem Christentum nachgesagt, dass es den aufgeklärten, freien Menschen klein macht und unmündig. Aber das Gotteslob im Psalm mindert hier gerade nicht die Größe des Menschen, sondern betont seine Macht, seine Bedeutung - und damit untrennbar verbunden: seine Verantwortung. Wenig niedriger als Gott, mit Ehre und Herrlichkeit gekrönt, das heißt eben auch: Der Mensch kann sich nicht rausreden, er muss sich seiner Verantwortung für die Welt stellen, für die Vögel unter dem Himmel und die Fische im Meer, die Gott geschaffen und ihm zur Fürsorge anvertraut hat, ebenso wie für die Algorithmen der Gegenwart, die der Mensch selbst sich erdacht hat.

Vielleicht hat Johann Sebastian Bach darum theologisch die treffendste Spur gelegt: Er hat ja den Leitvers dieses Psalm 8, der zu Beginn und am Ende des Psalms steht, zum Eingangschoral der Johannespassion gemacht: „Herr, unser Herrscher, wie herrlich ist dein Name“. Auf die Idee muss man erst mal kommen: Die Geschichte des leidenden, sterbenden und auferstehenden Christus als Antwort auf die Frage: Was ist der Mensch? Denn mit der Geschichte vom wahren Menschen und wahren Gott ist Größe und Grenze, Mut und Demut, Grund und Gefährdung des Menschen ganz und gar und ein für alle Mal auserzählt: ecce homo! Dies ist die Basis einer christlichen Anthropologie, die den Menschen realistisch einschätzt:

 

4. Perspektiven eines menschenfreundlichen Umgangs mit der Digitalisierung

Realismus und Augenmaß, meine Damen und Herren, scheinen mir mit Blick auf den Digitalisierungs-Diskurs unserer Tage dringend angezeigt. Je mehr über Digitalisierung in Superlativen überzogener Euphorie oder Ängste gesprochen wird, desto deutlicher fällt der Innovationsstress aus, in den Gesellschaften getrieben werden.

Und dies sind im Jahr 2018 leider in vielen Ländern der Welt Gesellschaften, die ihr kulturelles Gesicht in eine besorgniserregende Richtung verändert haben. Über Jahrzehnte stabile gesellschaftliche Konsense haben an Kraft verloren. Nationalismus, Rassismus und Ausgrenzung von Menschengruppen erscheinen mit einem Mal wieder als legitime Instrumente im politischen Wettstreit – selbst im Zentrum der sog. freien Welt.

Und das geschieht in einer Phase globaler Innovationen, wo dringender denn je internationale Kooperation die Antwort auf das weltumspannende Phänomen digitaler Transformation sein müsste.

Den technologischen Fortschritt des 21. Jahrhunderts werden wir nicht mit der Mentalität des 19. Jahrhunderts gestalten können.

Deswegen ist gerade jetzt Europa, und die damit eng verbundene Leitidee einer in Vielfalt verbundenen Gemeinschaft, so wichtig. Alle politisch Verantwortlichen, die seit Jahren immer wieder mit ungeheurem Krafteinsatz die europäische Ebene und ihre menschenrechtliche Grundlage stärken, haben unsere volle Unterstützung. Nur auf dieser europäischen Ebene werden die großen politischen Handlungsfelder – wie eben auch die digitale Transformation – erfolgreich gestaltet werden können.

Durch geniale Ideen und geschickte unternehmerische Nutzung dieser Ideen haben einige wenige Menschen unsere Kommunikations- und Medienwelt revolutioniert. Innerhalb kürzester Zeit haben diese Unternehmer extremen Reichtum, aber vor allem auch extreme Macht gewonnen. Wir haben mit guten Gründen in Deutschland und anderen Ländern Europas einen öffentlich-rechtlichen Rundfunk etabliert, der genau dadurch seine an den Werten des Grundgesetzes orientierte Aufgabe besonders gut erfüllen kann, dass er nicht in erster Linie von Werbeeinnahmen mit den damit verbundenen harten Marktkriterien bei der Auswahl der Inhalte abhängig ist. Dieses Privileg ist aber auch eine Verpflichtung, den damit verbundenen öffentlichen Bildungsauftrag auch wirklich zu erfüllen. Und es ist gut, dass wir auch für den privaten Medienbereich in Deutschland klare und transparente Regeln etabliert haben.

Anders in den digitalen Kommunikationswelten: die Kommunikation von Milliarden Menschen wird von einigen wenigen mächtigen Firmen kontrolliert. Jede Änderung des Algorithmus von Facebook hat Auswirkungen auf das Kommunikationsverhalten von Milliarden Menschen weltweit. Es fehlt derzeit noch an wirkungsvollen international abgestimmten Transparenz- und Regulierungsvorgaben, um diese gewaltige globale Marktmacht zu begrenzen. Das muss sich ändern. Das Handlungsspektrum reicht hier von Vorschlägen zur Zerschlagung großer Konzerne der Netzwirtschaft, neuer Verantwortlichkeiten der Konzerne auch für die online zur Verfügung gestellten Inhalte bis hin zur Durchsetzung von werbefreien Bezahlmodellen innerhalb etablierter Plattformen (Jaron Lanier). Alle Optionen sollten weiterhin intensiv und hartnäckig verfolgt werden.

Denn es geht um nicht weniger als die Rückeroberung eines sozialen Raums, in dem Menschen unter Bedingungen massiver Intransparenz und auf Basis eines Regelwerkes ohne demokratische Kontrolle täglich viel Lebenszeit verbringen. Warum sind Straße und Schiene mit guten Gründen Gegenstand öffentlicher Daseinsvorsorge, die digitale Infrastruktur des Netzes, auf der Menschen täglich mehr Zeit als in Autos und Zügen verbringen, aber nicht?

Vorschläge wie der jüngst vom ARD-Intendanten Ulrich Wilhelm vorgelegte Plan zum Aufbau einer gemeinsamen Plattform von Sendern und Verlagen auf europäischer Ebene sind sehr nachdenkenswerte Vorstöße. Deutschland und Frankreich sollten Vorreiter sein, wenn es darum geht, eine europäische Antwort auf die Dominanz weniger Anbieter im Netz zu geben.

Wir sollten in dem weiten Feld der Digitalisierung nicht das Erstgeburtsrecht einer aufgeklärten und reflektierten, menschenfreundlichen und selbstkritischen Entwicklung zugunsten des Linsengerichtes einer Aufholjagd aufgeben, in der wir mit China oder USA um Datenmengen und Algorithmenschnelligkeit wetteifern. Nicht nur die öffentlich- rechtliche Netz-Daseinsvorsorge, sondern auch die selbstkritisch-aufgeklärte Prüfung der jeweils nächsten Schritte sollten wir als einen zukünftigen Marktvorteil betrachten, dessen Wert sich vielleicht nicht gleich in wirtschaftlichen Zahlen zeigen lässt, wohl aber in der gesellschaftlichen Akzeptanz und der politischen Freiheit.

Lassen Sie mich eines noch hinzufügen:  Indem wir als Kirchen Teil einer weltweiten Zivilgesellschaft sind, behalten wir immer auch die Folgen unseres Tuns an anderen Stellen dieser Erde im Blick und erinnern an die globale Dimension des europäischen Handelns. Unter welchen Bedingungen – solche Fragen müssen gestellt werden - werden eigentlich wo die Rohstoffe unserer mobilen Endgeräte gefördert? Und wohin exportieren die reichen Länder dieser Erde gewaltige Mengen von Elektronik-Schrott?

Bei allen Risiken und Herausforderungen gilt dennoch: Die Chancen des digitalen Wandels bleiben erheblich. Kommunikative Teilhabe gelingt dort durch neue digitale Technik, wo sie früher nicht möglich war. Körperliche Einschränkungen werden durch digitale Hilfsmittel gemildert oder gar behoben. Der medizinische Fortschritt ist in unserer Zeit durch konvergierende wissenschaftliche Disziplinen und deutlich gestiegene Rechner- Kapazitäten erheblich. Neue Diagnose- und Behandlungsmethoden entstehen bei Krankheiten, die lange als unbesiegbar galten. Intelligente Assistenzsysteme machen unser Autofahren sicherer. All dies nutzt dem Menschen. In einer nüchternen Reflexion der Nutzendimension, die sich gleichzeitig der Gefahren und Risiken bewusst ist, liegt der Schlüssel für eine menschenfreundliche Gestaltung des digitalen Wandels.

 

5. Schluss

Ich komme zum Schluss: Allen kalifornischen Unsterblichkeits-Visionären rufe ich zu: Erstens: ja, lasst uns die Welt besser machen. Am besten gemeinsam. Und auf Grundlage klarer demokratisch vereinbarter Regeln. Zweitens aber sage ich auch: Das Tor zum Paradies aufstoßen wird die Digitalisierung ganz gewiss nicht –. „Was ist der Mensch, dass du seiner gedenkst?“ Dieser alte Satz aus den biblischen Psalmen kann uns helfen, Heil und Unheil, Chancen und Risiken des digitalen Wandels klug miteinander abzuwägen, weil er uns Größe und Grenzen des Menschen zeigt.

Er bewahrt uns davor, dass wir falschen Internetgöttern auf den Leim gehen. Es ist nicht Google, sondern Gott, zu dem wir mit Psalm 139 sagen dürfen: „Ich sitze oder stehe auf, so weißt du es; du verstehst meine Gedanken von Ferne. Ich gehe oder liege, so bist du um mich und siehst alle meine Wege!“ (Psalm 139, 2f.). Denn trotz aller Digitalisierung, trotz aller Algorithmen und Künstlicher Intelligenz - Gott kennt mich besser als ich mich selbst kenne, weil das am Ende nicht an einer Datenmenge hängt, die jemand über mich aufbieten kann, sondern an der Tiefe der Beziehung, die durch Liebe wächst und mir mein Geheimnis, meine Besonderheit, meine Einzigartigkeit lässt. Gott – sei – Dank! Gott bleibt mein erstes Gegenüber, aber unter allen Menschen ist es meine Frau, die mich am besten kennt, - und das soll auch so bleiben.

Danke für Ihre Aufmerksamkeit!

Landesbischof Heinrich Bedford-Strohm, Ratsvorsitzender der Evangelischen Kirche in Deutschland

Rede beim Johannisempfang der Evangelischen Kirche in Deutschland am 27. Juni 2018 in Berlin