Im Schatten der Gewalt - Armenien im 20. und 21. Jahrhundert

Kloster Howhannawank in Armenien
Das Kloster Howhannawank in Armenien (Foto vom 29.06.2018). Howhannawank ist ein Kloster der Armenischen Apostolischen Kirche in Ohanawan, etwa 5 Kilometer noerdlich der Provinzhauptstadt Aschtarak und gut 20 Kilometer nordwestlich von Jerewan. Er ist Johannes dem Taeufer geweiht.

Die Armenier verstehen sich als älteste christliche Nation der Welt. In der Tat nahm im frühen 4. Jahrhundert Trdat III., Herrscher des am Ostrand des Römischen Reichs gelegenen Königreichs Armenien, im Zuge der Konstantinischen Wende das Christentum an. Bis zur Schaffung eines christlichen Großreichs in Mitteleuropa unter Karl dem Großen dauerte es fast ein halbes Jahrtausend.

Doch von der Spätantike führt keine gerade Linie ins Zeitalter der Nationen. Das alte armenische Königreich wurde bereits im 5. Jahrhundert in den Kämpfen zwischen Rom und dem Sassanidenreich zerrieben. Ein „Goldenes Zeitalter“ mit einem großarmenischen Reich vom Kaspischen Meer bis fast ans Mittelmeer endete nach 150 Jahren Ende des 10. Jahrhunderts.

Die Armenier hatten, von kurzen Phasen eigener Staatsgebilde abgesehen, bereits fast 1000 Jahre unter wechselnden, meist muslimischen Herrschern gelebt, als sich ausgehend von der Französischen Revolution der Gedanke der Volkssouveränität verbreitete. Der armenische Nationalstaat in seinen heutigen Grenzen geht auf die Ende 1920 geschaffene Sowjetrepublik Armenien zurück, unabhängig ist das Land seit 1991.

Die große Katastrophe 1915‑1917

Das Trauma der armenischen Nation ist die große Katastrophe (armenisch: aghet) der Völkermord von 1915. Bereits zuvor waren bei Pogromen Zehntausende Armenier im Osmanischen Reich ermordet worden. Die Massaker, Todesmärsche und Deportationen, die die jungtürkische Regierung anfachte und organisierte, löschten nahezu das gesamte armenische Leben in Kleinasien aus. Etwa eine Millionen Menschen wurden zwischen 1915 und 1918 ermordet, Hunderttausende vertrieben, Zehntausende Frauen und Kinder entführt und zwangsturkisiert. Die Vertriebenen vergrößerten die weltweite armenische Diaspora, der heute rund 7,5 Millionen Menschen angehören, darunter eine Million in Russland und ca. 450 000 in den USA.

Rund 300 000 Armenier fanden Zuflucht in dem südlich des Kleinen Kaukasus gelegenen Hochlands um den Sewansee, wo eine gemischte, teils armenische Bevölkerung siedelte. Diese Gegend hatte seit 1828 zum Russischen Reich gehört. Als dieses 1917 zusammenbrach und überall an seinen Rändern Nationalstaaten ausgerufen wurden, proklamierten im Februar 1918 Vertreter der armenischen, aserbaidschanischen und georgischen Nationalbewegungen gemeinsam eine Transkaukasische Föderative Sowjetrepublik. Schon Ende Mai 1918 beschloss jedoch die georgische Nationalversammlung die Gründung eines eigenen Staats, Aserbaidschan folgte und am 28. Mai wurde in Jerewan die Demokratische Republik Armenien ausgerufen. Diese hatte kaum Chancen auf Bestand: Nahezu das gesamte Staatsgebiet, das Armenien auf der Pariser Friedenskonferenz 1919 geltend machte, wurde zugleich von den Nachbarstaaten beansprucht: Von Westen rückten Truppen der türkischen Gegenregierung unter Mustafa Kemal vor; im Süden und Osten lagen armenische und aserbaidschanische Verbände in einem Bürgerkrieg, im Norden wurde um die Grenzziehung zu Georgien mit Waffengewalt gefochten.

Sowjetarmenien

Die allseitige Gewalt konnten erst die Bolschewiki mit der überlegenen Roten Armee unterdrücken. Lenins armenische Verbündete übernahmen im Dezember 1920 die Macht in Jerewan und riefen eine Armenische Sozialistische Sowjetrepublik aus. Diese führten sie Ende 1922 in die Sowjetunion. Damit war der erste Versuch einer armenischen Nationalstaatsgründung, der im Zeichen des vorhergegangenen Völkermords gestanden hatte, beendet.

Nicht beseitigt waren jedoch die nationalen Konflikte zwischen der christlich-armenischen Bevölkerung und den turksprachig-schiitischen Aserbaidschanern. Um die wechselseitigen Ansprüche auszugleichen – und eigenen Einfluss zu wahren – schlugen die Bolschewiki die an der Grenze zur Türkei liegende Region Nachitschewan als Exklave der Sowjetrepublik Aserbaidschan zu. Im gebirgigen Teil der gemischt besiedelten Region Karabach am Ostrand des armenischen Hochlands schufen sie eine mehrheitlich armenisch besiedelte Autonome Sowjetrepublik innerhalb Aserbaidschans ohne Landverbindung zur Armenischen SSR. Andere Teile der historischen Region Karabach wurden direkt der Aserbaidschanischen SSR unterstellt. Nur die gemischtbesiedelte Region Sangesur an der Grenze zum Iran wurde Teil der Armenischen SSR.

Viele Elemente der Geschichte Sowjetarmeniens ähneln denen anderer Sowjetrepubliken. Dazu gehören eine wirtschaftliche Erholung Mitte der 1920er Jahre und die Förderung nationaler Kultur, die zu einer Blüte von Literatur, Theater und Film in armenischer Sprache führten.

Dazu gehören aber auch die rücksichtlosen Enteignungen und das Chaos der frühen 1920er Jahre und die brutale Kirchenverfolgung durch die Bolschewiki. 1928 wurden die Kirchengebäude des „armenischen Vatikan“ in Etschmiadsin enteignet. Ihren Höhepunkt fanden die Verfolgungen während des stalinistischen Terrors 1937-1938, als der Katholikos der Armenisch-Apostolischen Kirche Choren I. wahrscheinlich von Schergen der politischen Polizei ermordet und das Katholikat von Etschmiadsin zwangsaufgelöst wurde. Dutzende Priester wurden hingerichtet. Zehntausende Armenier wurden umgebracht oder in sibirische Lager deportiert, aus denen viele nicht zurückkehrten.

Erspart blieb Armenien die deutsche Besatzung im Zweiten Weltkrieg. Zwischen 300 000 und 500 000 Armenier kämpften in der Roten Armee, etwa die Hälfte von ihnen kam um.

Erst das Chruschtschowsche Tauwetter brachte ab 1956 einige wenige politische Freiheiten. Weitgehend unterdrückt blieb jedoch das Gedenken an den Völkermord. Dass es nicht möglich war, diese Erinnerung auszulöschen, zeigte sich 1965. Am 50. Jahrestag des Beginns des Genozids kamen trotz Verbots 100 000 Menschen auf dem Opernplatz von Jerewan zusammen, um eine Anerkennung der Verbrechen zu fordern. Der Slogan „Unser Land, unsere Länder“ zeigte, dass das Gedenken bereits damals mit politischen Forderungen nach Unabhängigkeit und territorialer Revision verbunden war. Um die Stimmung zu beschwichtigen, genehmigten die sowjetischen Behörden den Bau eines Denkmals auf einem Hügel bei Jerewan, das erst in den 1990er Jahren um ein Museum ergänzt wurde.

Ab Ende der 1950er Jahre brachte die unter Stalin Anfang 1930 mit brutalen Methoden eingeleitete Industrialisierung im zuvor fast ausschließlich von Viehzucht und Kleinlandwirtschaft geprägten Armenien einen bescheidenen Wohlstand. Für zahlreiche Arbeitsplätze – und massive Umweltzerstörung –sorgte die chemische Industrie sowie die Kupferverhüttung. Darüber hinaus siedelte die Sowjetführung in Armenien Betriebe für zivilen und militärischen Maschinenbau an. Armenien war zudem als „Silicon Valley“ der Sowjetunion mit ausgezeichneten Mathematikern und Informatikern bekannt.

Das Ende der Sowjetunion und der Karabach-Konflikt

Die Verbesserung der sozialen Lage konnte jedoch über die politische Unfreiheit und die ungelösten Konflikte nicht hinwegtäuschen. Wie in den baltischen Republiken der Sowjetunion bildete sich auch in Armenien in den 1980er Jahren eine Nationalbewegung. Sie forderte zum einen Demokratie, was mehr Unabhängigkeit vom sowjetischen Zentrum bedeutete. Zum anderen tauchte mit der Lockerung der Zensur und der Repressionen unter Gorbatschow die Karabach-Frage wieder auf.

Von nun an verstärkten sich die Entwicklungen in Armenien und Bergkarabach wechselseitig. Mitte Februar 1988 bat das Regionalparlament von Bergkarabach die Staatsführung in Moskau darum, das mehrheitlich armenisch besiedelte Autonome Gebiet aus der Aserbaidschanischen Sowjetrepublik auszugliedern und an die Armenische Sowjetrepublik anzuschließen. Der Beschluss trieb in Bergkarabach und Armenien sofort eine Million Menschen mit „Karabach, Karabach“-Rufen auf die Straße – fast ein Drittel der Bevölkerung des Landes.

Damit war ein Konflikt wieder ausgebrochen, der 60 Jahre lang autoritär unterdrückt worden war. In kürzester Zeit kam es an allen Orten, wo Armenier und Aserbaidschaner gemeinsam siedelten, zu Pogromen und Vertreibungen. Jede Konfliktpartei verharmloste eigene Gewalt und versuchte, sie als Reaktion auf vorausgegangene Gewalt der Gegenseite zu rechtfertigen. Dies eskalierte 1992 zu einem Krieg um Karabach zwischen armenischen und aserbaidschanischen Truppen, der mindestens 30 000 Menschenleben kostete. Im Mai 1994 wurde er mit einem Waffenstillstandsabkommen eingefroren. Nach den Pogromen in Sumgait (1988) und Baku (1990) waren sämtliche Armenier aus Aserbaidschan und Nachitschewan geflohen. Ebenso war die aserbaidschanische Bevölkerung aus Armenien geflüchtet und aus Bergkarabach sowie aus umliegenden, von karabach-armenischen Truppen besetzten Gebieten vertrieben worden.

Staatliche Unabhängigkeit, Wirtschaftskrise und Kriegsfolgen

Der Waffengang um Bergkarabach war der blutigste der spät- und postsowjetischen Auflösungskriege und überschattete die staatliche Unabhängigkeit, die Armenien 1991 ausrief. Auf den ersten Blick hatten die Republik Arzach, wie die Karabach-Armenier ihren De-facto-Staat nun nannten, und die Republik Armenien mit Hilfe Russlands einen Sieg errungen. Doch dieser Sieg war eine schwere Bürde. Der anhaltende Konflikt hat Armenien über die gesamten 30 Jahre seiner Existenz als unabhängiger Nationalstaat massiv belastet.

Aserbaidschan schwor Vergeltung und rüstete mit Geld aus dem seit Ende der 1990er Jahre wachsenden Ölexport zum Gegenschlag. Daher schnellten in Armenien die Militärausgaben in die Höhe. Gemessen am Verhältnis dieser Ausgaben zu jenen für Bildung und Soziales wurde Armenien zum einem der am meisten militarisierten Länder der Welt. Schlimmer noch: Die mit Aserbaidschan verbündete Türkei schloss 1993 die Grenzen. Damit war Armenien, das sich ohnehin verkehrsgeographisch in sehr ungünstiger Lage in einer bergigen Region ohne Meerzugang befindet, von einer wichtigen Route nach Westen abgeschlossen. Dies verschärfte in Armenien die schwere Wirtschaftskrise nach dem Zusammenbruch des Sozialismus. Hinzu kamen die Folgen des schweren Erdbebens vom Dezember 1988, bei dem 25 000 Menschen ihr Leben verloren hatten.

Zugleich brachte der Konflikt mit Aserbaidschan Armenien in fatale Abhängigkeit von Russland, auf dessen Sicherheitsgarantien Bergkarabach angewiesen war. An einer Lösung hatte Moskau, das gemeinsam mit Frankreich und den USA Friedensgespräche unter dem Dach der OSZE anleitete, kein echtes Interesse. Formal waren das armenische Bergkarabach und die Republik Armenien getrennte Einheiten. Jerewan hat die Republik Arzach nie anerkannt. Doch als Lewon Ter-Petrosjan, der 1991 zum ersten Präsidenten der Republik Armeniens gewählt worden war, im Jahr 1997 auf Zugeständnisse und eine Friedenslösung hinarbeitete, wurde er zum Rücktritt gezwungen. Zu seinem Nachfolger wurde 1998 Robert Kotscharjan gewählt, der in den Jahren zuvor Ministerpräsident und Präsident von Arzach gewesen war. Von da an wurde die armenische Politik 20 Jahre lang von Männern dominiert, die aus Bergkarabach stammten, enge Verbindungen nach Moskau hielten und das Land autoritär führten.

Aufbruch, Katastrophe, Ungewissheit

Dies änderte sich erst im Februar 2018. Als Präsident Sersch Sargsjan nach zwei Amtszeiten nicht mehr kandidieren durfte, änderte dessen Republikanische Partei mit ihrer Parlamentsmehrheit die Verfassung, stärkte das Amt des Ministerpräsidenten und wählte Sargsjan auf diesen Posten. Gegen diese Rochade formierte sich eine landesweite Protestbewegung, die an die ukrainischen Maidan-Demonstrationen erinnerte. An ihrer Spitze stand der ehemalige Journalist Nikol Paschinjan. Nachdem dieser zunächst verhaftet worden war, fügte sich die alte Führung dem Druck der Straße, Sargsjan trat zurück und das Parlament wählte Paschinjan zum neuen Ministerpräsidenten.

Für Armenien begann eine Zeit des Aufbruchs. Paschinjan öffnete das Land vorsichtig in Richtung Europäische Union und ging zugleich mit nicht immer rechtsstaatlichen Methoden gegen die alte Führungsgruppe vor, die sich nun in der Opposition befand. Mit beidem zog er sich den Ärger Moskaus zu. Der Preis, den Armenien dafür zu zahlen hatte, ist extrem hoch.

25 Jahre lang hatten sich die international nicht anerkannte Republik Arzach und die Republik Armenien Zugeständnissen an Aserbaidschan verweigert und auf Russland als Sicherheitsgaranten verlassen. Nun lockerte Moskau das Bündnis. Andere Verbündete mit Gewicht hat das Land nicht. Den ersten Schlag führte Aserbaidschan im Herbst 2020. Scharmützel hatte es an der Waffenstillstandslinie oft gegeben, 2016 einen kurzen Krieg. Jetzt aber startete die mit modernen Waffen ausgerüstete, von der Türkei unterstützte aserbaidschanische Armee einen Großangriff auf Bergkarabach. Nach sechs Wochen stand sie kurz vor dem totalen Sieg. Noch einmal setzte sich Russland ein und brachte beide Seiten zur Unterzeichnung eines Waffenstillstands. Armenien musste den Verlust der an Karabach angrenzenden besetzten Gebiete sowie eines Teils der Republik Arzach anerkennen. Auf dem verbliebenen Territorium stationierte Moskau „Friedenstruppen“.

Doch nur ein Jahr später bereitete Aserbaidschan den zweiten Schlag vor. Nicht nur beschossen Bakus Truppen grenznahe Orte auf dem Gebiet der Republik Armenien. Im Dezember 2021 unterbrach Aserbaidschan die einzige von Armenien nach Bergkarabach führende Straße durch den sogenannten Latschin-Korridor, um die dortige armenische Bevölkerung systematisch auszuhungern. Russland ließ Baku gewähren, die in Bergkarabach stationierten Truppen taten nichts zur Aufhebung der Blockade. Und der armenische Präsident Paschinjan wusste, dass ein militärisches Eingreifen zu einer Katastrophe führen würde. Daher wandte er sich mit Hilfegesuchen an die internationale Gemeinschaft, die jedoch nur mit Appellen an Aserbaidschan reagierte.

Dies erlaubte es Baku, im Schatten von Russlands Krieg gegen die Ukraine im September 2023 den letzten Schlag zu führen. Während in New York die UNO-Vollversammlung tagte, griff die aserbaidschanische Armee die Republik Arzach an. Nach nur einem Tag mussten die Behörden des De-facto-Staats die Kapitulation erklären. Augenblicklich öffnete Aserbaidschan den zuvor neun Monate geschlossen gehaltenen Korridor und das Erwartbare trat ein: Die gesamte Bevölkerung Karabachs, über 100 000 von der Blockade ausgezehrte, durch jahrelange Drohungen verängstigte Menschen flohen in wenigen Tagen aus ihrer Heimat.

Für Armenien bedeutet der Untergang Arzachs eine weitere nationale Katastrophe. Über 1500 Jahre armenischen Lebens in Bergkarabach sind zu Ende gegangen. Auf Armenien und die internationale Gemeinschaft kommen riesige Aufgaben zu. Die Geflüchteten sind zu versorgen und in die Gesellschaft zu integrieren, die Kulturgüter – Kirchen und Friedhöfe ‑ in Karabach vor der Zerstörung zu schützen. Vor allem aber ist Armenien vor dem weiter aggressiven Gebaren Aserbaidschans zu schützen, das bereits neue Territorialforderungen erhoben hat.

Volker Weichsel

Dr. Volker Weichsel ist Slawist, Politikwissenschaftler und Redakteur der Zeitschrift OSTEUROPA