Bericht des Unabhängigen Beauftragten für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs (UBSKM)
Johannes-Wilhelm Rörig auf der 6. Tagung der 12. Synode der EKD in Dresden
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– unredigierte Fassung –
Zunächst einen schönen guten Tag! Sehr geehrte Synodale, meine sehr geehrten Damen und Herren!
Über die Einladung, hier heute vor Ihnen sprechen zu können, habe ich mich sehr gefreut. Ich möchte gleich zu Anfang sagen, dass ich in der heutigen Tagung Ihre große Entschlossenheit sehe, den Kampf gegen sexuelle Gewalt und seine Folgen konsequent zu führen, und ich sehe auch Ihre Entschlossenheit für eine umfassende Aufarbeitung von sexuellem Missbrauch im Verantwortungsbereich der EKD, im Verantwortungsbereich der Landeskirchen, der Kirchengemeinden und auch der diakonischen Einrichtungen.
Meine Damen und Herren, es ist schmerzhaft, dies zu sagen, aber auch im Jahr 2019 ist sexuelle Gewalt für viele Mädchen und Jungen in Deutschland trauriger Alltag. Sie erleben sexuelle Gewalt zumeist in ihren Familien, durch ihre eigenen Väter, durch Brüder, Großväter, Stiefväter, auch durch ihre Mütter. Betroffene leiden besonders oft unter untätigen Mitwissenden, oft untätigen Familienmitgliedern, Müttern und Vätern, die nicht schützen und die nicht einschreiten.
Kinder und Jugendliche erleiden sexuelle Gewalt auch im sozialen Nahfeld und vermehrt durch Gleichaltrige. Viele neue Tatkomplexe und Gefährdungen sind jetzt durch die digitalen Medien hinzugekommen. Sexueller Missbrauch wird immer häufiger gefilmt und mit perfiden Beweggründen ins Netz eingestellt. Täter und Täterinnen beteiligen sich am Missbrauch, geben Anweisungen via Webcam, und sexuelles Mobbing unter Schülerinnen und Schüler ist stark steigend.
Mein wiederholter Appell seit Langem lautet: Mädchen und Jungen müssen auf ihrem Weg in die digitale Welt unbedingt medienpädagogisch viel stärker begleitet werden, und zwar von der 1. bis zur 10. Schulkasse. Da geht es nicht nur um die Chancen des Internets, sondern es geht auch um die Risiken und die spezifischen Gefahren, und es geht auch um die Vermittlung grundlegender Werte, beispielsweise Menschlichkeit und Respekt.
Ihr Applaus war mir jetzt sehr wichtig, weil mein nächster Satz lautet: Evangelisches Engagement, gerade in diesem Punkt, ist sehr gewünscht und wäre sehr hilfreich auf allen Ebenen.
Am Wochenende konnten wir in der „Welt am Sonntag“ in einem Interview mit Bundesministerin Dr. Giffey lesen, dass sie noch in diesem Jahr ein Jugendmedienschutzgesetz vorstellen wird, und die Grünen haben vorgeschlagen, dass auf der Bundesebene eine Bundeszentrale für digitale Bildung eingerichtet werden muss. Aber ich denke, wir werden nicht umhinkommen, dass im schulischen Kontext Medienpädagogik noch eine sehr viel stärkere Rolle spielt.
Meine Damen und Herren, in meinem Themenfeld haben wir in Deutschland eine paradoxe Situation, die mich als Unabhängigen Beauftragten manches Mal an den Rand der Verzweiflung bringt.
Einerseits haben wir in Deutschland ein wirklich hervorragendes Wissen, wie sexuelle Gewalt gegen Mädchen und Jungen, wie sexuelle Übergriffe verhindert werden können, wie Missbrauch schneller beendet und wie das durch Missbrauch erlittene Leid gelindert werden kann.
Andererseits kommen wir bei dem institutionellen Schutz seit Jahren leider nur langsam voran. Im Internet – der Welt, in der sich Mädchen und Jungen einen Großteil ihres Tages aufhalten – gibt es leider noch überhaupt keinen wirksamen Kinder- und Jugendschutz. Ich sehe die Politik in Bund und Ländern geradezu herausgefordert, aber auch die Zivilgesellschaft, die Kirchen, die Wohlfahrt und den organisierten Sport, endlich dauerhaft das Maximum für den Kinderschutz und für den Schutz vor sexueller Gewalt zu tun. In meinem Themenfeld reicht unverbindliches Mitgefühl nicht aus.
Sparen in meinem Bereich bedeutet letztendlich – hart formuliert – Unverantwortlichkeit gegenüber gefährdeten und betroffenen Mädchen und Jungen.
Mut und ein starker politischer Wille sind gefragt, auch von denjenigen, die für den Kinderschutz nicht unmittelbar zuständig sind. Selbstverständlich weiß auch ich: Prioritäten müssen gesetzt werden, wenn es um das knappe Geld geht. Aber auch Politik und Gesellschaft müssen sich immer wieder die Frage stellen: Was ist es uns wert, dass Kinder und Jugendliche frei von Gewalt in unserer Gesellschaft aufwachsen?
Wir dürfen sexuelle Gewalt nicht hinnehmen. Uns muss jedes Jahr dann, wenn die Polizeiliche Kriminalstatistik (PKS) zu Gewalt gegen Mädchen und Jungen vorgestellt wird, der Schrecken in die Glieder fahren.
Ich möchte noch eines hinzufügen: Wer dauerhaft verantwortet, dass nichts oder viel zu wenig für Schutz und Hilfe getan wird, läuft letztendlich Gefahr, sich dem Vorwurf der Duldung auszusetzen.
Meine Damen und Herren, zur Stärkung von Prävention und Intervention haben EKD und Diakonie bereits im Jahr 2012 und dann noch einmal im Jahr 2016 erste Vereinbarungen geschlossen. Dies habe ich in den letzten Jahren mit 24 weiteren Dachorganisationen der Zivilgesellschaft getan, auch mit dem katholischen Bereich, mit der Deutschen Bischofskonferenz, mit der Deutschen Ordensobernkonferenz sowie mit der Caritas, und auch mit dem Deutschen Olympischen Sportbund.
Meine Damen und Herren, jetzt, nachdem das UBSKM-Amt, das mit Christine Bergmann 2010 gestartet ist, Ende letzten Jahres endlich auf Dauer eingerichtet wurde, sondieren wir, was für Prävention und Intervention flächendeckend, bundesweit und dauerhaft verstärkt getan werden kann. Ich bin auch in diesem Monat mit Prälat Dutzmann und Frau Loheide verabredet, um gemeinsam zu schauen, welche Möglichkeiten einer künftigen Kooperation wir haben. Wir wollen ausloten, was im evangelischen Bereich noch zusätzlich getan werden kann, damit zum Beispiel bei Ihnen betroffene Mädchen und Jungen im evangelischen Kontext nicht übersehen werden, dass Signale erkannt werden, dass Hilfe geboten wird und natürlich auch, dass evangelischer Kontext kein Tatort wird. Die eben von Bischöfin Fehrs angesprochene Gewaltschutzrichtlinie wird uns hier eine ganz wichtige Grundlage sein.
Meine Damen und Herren, heute steht die Aufarbeitung im Vordergrund. Ich freue mich sehr – ich möchte das ausdrücklich betonen –, dass Frau Claus gleich nach mir sprechen wird und dass Betroffene sexueller Gewalt nachher die Workshops aktiv mitgestalten. Ich meine, dass Sie damit einen sehr erfreulichen Meilenstein für ernsthafte Betroffenenbeteiligung gesetzt haben.
– Das ist der Applaus für Sie.
Mit der Einrichtung des EKD-Beauftragtenrates haben Sie letztes Jahr eine wichtige Grundsatzentscheidung getroffen, auch mit dem Elf-Punkte-Handlungsplan. Der Bericht von Bischöfin Fehrs und Herrn Dr. Blum eben ist auch für mich sehr beeindruckend gewesen.
Seit März 2019 arbeiten wir mit dem Beauftragtenrat sehr intensiv zusammen, und zwar in der bei meinem Amt eingerichteten Arbeitsgruppe „Aufarbeitung Kirchen“, in der auch Frau Claus und Christine Bergmann Mitglied sind. Wir erörtern dort – Herr Dr. Blum hat es eben ein wenig angesprochen – Regelungsgegenstände einer künftigen Vereinbarung zu verbindlichen Kriterien und Standards einer Aufarbeitung – so schwer es ist, diese Kriterien und Standards genau zu formulieren.
Wir diskutieren über die Ausgestaltung von Strukturen und schauen uns an: Was gibt es schon in dem Bereich der Landeskirchen? Worauf kann man aufbauen? Wir reden über die verbindliche Ausgestaltung von Betroffenenbeteiligung, aber auch über die Fragen des Zugangs zu Akten, Archiven und weiteren Unterlagen.
Auch werden wir über Aspekte der Anerkennung und – ich nutze dieses Wort einmal – Entschädigung sprechen; Sie sprechen eher von Unterstützungsleistung. Wir werden in diesem Bereich sicherlich auch schauen, inwieweit da Standards formuliert werden können und ein Rahmen gefunden wird, wie eine Antwort auf die offene Frage der Entschädigung gegeben werden kann, und zwar unter Berücksichtigung des bisherigen Verfahrens, das Sie eingeleitet haben.
Unser großes Ziel ist, ein starkes Fundament für eine gelingende Aufarbeitung im evangelischen Bereich zu schaffen; ein verbindliches Fundament für die umfassende Beteiligung von Menschen, die sexuelle Gewalt in Kindheit und Jugend im evangelischen Kontext erlitten haben; ein Fundament, das sicherstellt, dass Betroffene niemals mehr als Störer oder Bittsteller behandelt werden; ein Fundament – auch das ist mir ein sehr wichtiger Punkt –, mit dem größtmögliche Akzeptanz für die Aufarbeitung im evangelischen Kontext erzielt werden kann. Die Worte „Zurückgewinnung von Glaubwürdigkeit und Vertrauen“ habe jedenfalls ich dabei im Hinterkopf. Wir wollen ein Fundament erreichen, mit dem möglichst flächendeckende Rechtssicherheit bei Akteneinsicht, für Datenschutz und Persönlichkeitsrechte erreicht wird.
Bezüglich der verbindlichen Strukturen sprechen wir über verbindliche, einheitliche Strukturen für eine unabhängige Aufarbeitung, entweder auf der Ebene der Landeskirchen oder in regionalen Verbünden. Wir schauen uns das an, was es bisher an Strukturen gibt, sodass man gut darauf aufsetzen kann. Wir sprechen sehr konkret über die Struktur einer unabhängigen Aufarbeitungskommission auf der EKD-Ebene, also auf der Bundesebene, wie ich das einmal sagen würde.
Die unabhängigen Kommissionen sollten die Aufarbeitung fest in die Hand nehmen, die einzelnen Schritte und Entscheidungen steuern sowie Transparenz und Öffentlichkeit sicherstellen. Ich stelle mir vor, dass die Kommissionen unterstützen, koordinieren, begleiten und dokumentieren.
Ich wäre froh, wenn wir bis Anfang des Jahres 2020 Klarheit hätten, ob eine Vereinbarung zustande kommt. Ich kann Ihnen sagen, dass ich im Moment überhaupt keinen Zweifel mehr habe, dass wir bis Ende des Jahres eine vergleichbare Vereinbarung mit der Deutschen Bischofskonferenz und höchstwahrscheinlich auch mit allen 27 Ortsbischöfen abschließen werden.
Unser Angebot liegt dem Beauftragtenrat auf dem Tisch. Bei mir auf dem Tisch – Bischöfin Fehrs hat es vorhin angesprochen – liegt die Bitte des EKD-Beauftragtenrates, gemeinsam an der Entwicklung für die Strategie einer Dunkelfeldforschung zu arbeiten. Ich sage Ihnen heute gerne zu, dass ich Sie da sehr stark unterstützen werde. Diese Dunkelfeldforschung wird dann auch valide Zahlen für den evangelischen Bereich hervorbringen.
Ich sage Ihnen auch zu, dass ich dieses wirklich große interdisziplinäre Vorhaben – Herr Blum, Sie haben vorhin nicht übertrieben, als Sie es so beschrieben haben – in der ersten Sitzung des neuen Nationalen Rates gegen sexuelle Gewalt an Kindern und Jugendlichen ansprechen werde. Diesen Rat werde ich am 2. Dezember in Berlin gemeinsam mit Bundesministerin Dr. Giffey konstituieren. Wir werden dort auch über die Dunkelfeldstudie sprechen. – Ich bedanke mich recht herzlich für Ihre Aufmerksamkeit.