Recht als Verwirklichung von Moral – eine Überforderung?
Ernst Benda
Anläßlich des Bioethik-Kongresses in Berlin
Vortrag von Prof. Dr. Ernst Benda auf dem Kongress der EKD "Zum Bild Gottes geschaffen. Bioethik in evangelischer Perspektive" am 28./29. Januar 2002 in Berlin
[Um sich der für den heutigen Abend gestellten Frage anzunähern, eine kurze Begriffsbestimmung. Ich entnehme sie – ausgerechnet – einer Arbeit von Reinhold Merkel, dem Rechtsphilosophen, mit dem ich sonst in der bioethischen Debatte nur wenig Gemeinsamkeiten feststellen kann. Er definiert "Moral" als den "Corpus aller unserer Maximen des richtigen Handelns; ‚Ethik’ ist die Lehre von diesen Maximen, deren theoretische Reflexion und Begründung ... Die Ethik klärt und erklärt, wie das moralische Handeln des Einzelnen aussehen und warum er so handeln soll; sie ist die Theorie der Moral." (1)]
Das Verhältnis zwischen Moral und Ethik einerseits und dem Recht andererseits haben wir lange für wenig problematisch gehalten, insbesondere für das Recht dann, wenn es sich nur an seine immanenten Grenzen hält, das heißt, im Sinne des vorgegebenen Themas, sich vor Überforderungen hütet. Auch das Bundesverfassungsgericht hat in der heute erneut umstrittenen Frage, von wann an menschliches Leben durch die Rechtsordnung zu schützen sei, nicht ethisch, sondern verfassungsrechtlich geurteilt: "Dieses Lebensrecht, das nicht erst durch die Annahme seitens der Mutter begründet wird, sondern dem Ungeborenen schon aufgrund seiner Existenz zusteht, ist das elementare und unveräußerliche Recht, das von der Würde des Menschen ausgeht; es gilt unabhängig von bestimmten religiösen oder philosophischen Überzeugungen, über die der Rechtsordnung eines religiös-weltanschaulich neutralen Staates kein Urteil zusteht."(2) Diese Aussage ist keine der Ethik, sondern eine des Rechts, und zwar des Verfassungsrechts. Sie nimmt daher in Anspruch, vom Staat, auch vom Gesetzgeber, bei seinen Entscheidungen beachtet zu werden.
Bei der Auslegung des Grundgesetzes und vor allem seiner tragenden Prinzipien kann man nicht in gleicher Weise vorgehen wie bei der Anwendung der Grundbuchordnung, die gewiß saubere handwerkliche Arbeit, aber kaum ethische Reflexionen erfordert. Die durch Artikel 1 des GG aufgeworfene Frage, was die Würde des Menschen konkret und in ihren rechtlichen Auswirkungen bedeutet, kann nicht losgelöst von Wertvorstellungen beantwortet werden. Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts "enthalten die Grundrechtsnormen nicht nur subjektive Abwehrrechte des Einzelnen gegen den Staat, sondern sie verkörpern zugleich eine objektive Wertordnung, die als verfassungsrechtliche Grundentscheidung für alle Bereiche des Rechts gilt." (3) Dieses Verständnis des Grundgesetzes als Wertordnung hat in der rechtswissenschaftlichen Literatur Kritik erfahren, weil es zur Ideologisierung der Rechtsprechung oder ihrer Orientierung an den subjektiven Wertvorstellungen der entscheidenden Richter führe. Konrad Hesse meint, daß bei dieser Kritik übersehen werde, "daß der Begriff ‚Werte’ vielfach nur zur Kennzeichnung des normativen Inhalts der Grundrechte verwendet werde. Die Rechtsprechung habe "unter dem lebendigen Eindruck der historischen Erfahrungen ...nur das ausgesprochen, "was der historische sinn und der unverzichtbare Kern der durch das Grundgesetz konstituierten neuen Ordnung sein und bleiben mußte". In dem Maße, in dem es gelinge, den konkreten Inhalt der Grundrechte zu bestimmen, werde es möglich sein, "den unvermittelten Rückgriff auf ‚Werte’ weitgehend zu vermeiden". (4) Von dieser Sicht aus bedeutet die Feststellung, daß sich die Bezugnahme auf das Grundgesetz als "Wertordnung" in der neueren Rechtsprechung seltener – aber keineswegs überhaupt nicht mehr – findet als in den frühen Jahren des Gerichts. Hieraus folgt keine grundsätzliche Abkehr von diesem Verständnis. Entstehen neue verfassungsrechtliche Fragen, wie jetzt in der bioethischen Debatte, ist die Frage nach den grundlegenden Wertvorstellungen, die das Grundgesetz prägen, nicht verfehlt, sondern unentbehrlich. Bei der Beratungen des Bioethics Comittee der UNESCO über die Universal Declaration on the Human Genome Ende der neunziger Jahre, an denen ich als deutscher Vertreter beteiligt war, bin ich oft auf die unausgesprochene oder nur höflich angedeutete Meinung von Kollegen aus anderen Ländern gestoßen, die wohl sagen wollten, ja, die Deutschen hätten es mit ihrer aus der Sicht dieser Länder zurückhaltenden Beurteilung der Behandlung der Embryonenforschung gerade nötig ... In der Tat haben wir es nötig, uns auf Erfahrungen der Vergangenheit zu besinnen. Jedenfalls in diesem Sinne ist es nicht verfehlt, das Grundgesetz als eine Wertordnung zu verstehen.
Menschenwürde ist ein "interdisziplinär zu erarbeitender Begriff" (Peter Häberle) (5). An der hiernach zu leistenden Arbeit beteiligen sich ganz zu Recht die Vertreter der Philosophie ebenso wie die der Theologie, auf einer konkreteren Ebene etwa die Sprecher von Behindertenverbänden und ganz selbstverständlich auch die Kirchen.
[Zur Rolle der Kirchen in der bioethischen Debatte bemerkt Reinhold Merkel: "Jedenfalls in den beiden christlichen Kirchen wird die Morallehre überwiegend keineswegs einfach als Sammlung von Regeln verstanden, die bloße Ableitungen aus religiösen Bekenntnissen oder theologischen Dogmen wären. Vielmehr wird sie ... als Ergebnis einer auf Begründung und Konsistenz verpflichteten normativen Vernunft aufgefaßt. In dieser Selbstdeutung sind die christlichen Morallehren einfach Mitbewerber im Wettstreit um die besseren Argumente ... Und daß sie in solcher Gestalt die Kompetenz eines über Jahrhunderte betriebenen profunden Räsonnements mitbringen, auf die der allgemeine ethische Diskurs der Gesellschaft nicht ohne Nachteil verzichten könnte, liegt auf der Hand.
Soweit sie dagegen die Ausgangspunkte einzelner ethischer Normen rein theologisch festsetzen ..., als religiöse Bekenntnisse, vor denen nicht die Frage nach Gründen, sondern gläubiger Gehorsam angezeigt ist, unterlegen sie ihren Morallehren ein Fundament, das in einer säkularisierten und längst aus unterschiedlichen Kulturkreisen und Religionen zusammengesetzten Gesellschaft nicht mehr verbindlich zu machen ist. Als Grundlage rechtlicher Regelungen sind solche Begründungsweisen von Verfassungs wegen ausgeschlossen. Das heißt selbstverständlich nicht, daß die so fundierten Normen falsch oder unvernünftig sein müßten ... Nicht mehr verallgemeinerbar und daher als Grundlage einer verbindlichen Sozialethik untauglich ist aber der Modus ihrer Begründung: zuletzt der Verweis auf die Lehren einer göttlichen Offenbarung." (6)
Jedenfalls evangelische Christen benötigen diesen plausiblen und auch die verfassungsrechtliche Lage zutreffend wiedergebenden Hinweis nicht.] Präses Manfred Kock hat in seinem Bericht für die Synode der EKD im November 2001 darauf hingewiesen, daß die ethische Urteilsbildung in den Fragen der Bioethik "nur in persönlicher Verantwortung" vollzogen werden könne. die "Protestantische Tradition" habe "immer nur in wenigen Fragen Eindeutigkeit oder gar Einstimmigkeit verlangt, nämlich in den Grundfragen des Glaubens ... Fragen der Lebensform und der Lebensgestaltung und somit die meisten Themen der Ethik gehören dazu nicht." (7)
Wendet sich der Ratsuchende von den Kirchen ab, die ihn auf die Entscheidung des eigenen Gewissens verweisen, und den Philosophen zu, so erfährt er gelegentlich eine ähnliche Abfuhr. Auch dort wird, jedenfalls von Julian Nida-Rümelin in einem vor wenigen Tagen veröffentlichten Beitrag, versichert, der Beitrag der Philosophie könne nur ein bescheidener sein, vor allem bei der Klärung von Begriffen und der Prüfung der Validität von Argumenten. Dagegen kann die Philosophie "nicht die Rolle des Priesterstandes vergangener Zeiten übernehmen und Ratlosen sagen: ‚Das ist richtig, und das ist falsch.’" (8)
Wenn diese Zurückhaltung von anderen Vertretern der Philosophie geteilt wird – wenn man die Fülle der meist doch sehr dezidierten Stellungnahmen überschaut, kann man allerdings daran zweifeln -, dann muß sich der fragende Blick auf die Rechtsordnung richten. Wenn diese die ihr zukommende Funktion erfüllen will, darf sie nicht schweigen. Das Bundesverfassungsgericht hat schon in seiner ersten Entscheidung zum Schwangerschaftsabbruch von 1975, in dem die elementare Frage nach den Konsequenzen des Prinzips der Würde des Menschen (Art. 1 GG) und der staatlichen Verpflichtung zum Schutz menschlichen Lebens (Art. 2 Abs. 2 GG) für die Regelung des Abbruchs einer Schwangerschaft gestellt wurde, die Verpflichtung hervorgehoben, eine so grundlegende Frage nicht offen zu lassen, sondern zu beantworten: "Der Staat darf sich seiner Verantwortung auch nicht durch Anerkennung eines "rechtsfreien Raumes" entziehen, indem er sich der Wertung enthält und diese der eigenverantwortlichen Entscheidung des Einzelnen überläßt." (9)
Geht man hiervon aus, so ist der Staat in einer grundsätzlich anderen Situation als die Ethik, mag sie aus Glaubensüberzeugungen oder aus philosophischer Reflexion gespeist sein. Selbstverständlich ist nicht jedes menschliche Verhalten, das die Rechtsordnung zulässt, allein schon aus diesem Grunde ethisch vertretbar. Dies wäre nur dann der Fall, wenn sich Ethik und Recht decken würden. Manche moralisch bedenklichen Verhaltensweisen duldet das Recht aus gutem Grunde, nicht weil es sie billigt oder gar für wünschenswert hält, sondern deswegen, weil die Durchsetzung vom Staat gesetzter Standards entweder praktisch kaum möglich ist oder einen unvertretbaren Aufwand erfordern würde, oder weil der Staat seinen freiheitlichen Charakter verlieren müßte, wenn er die Verhaltensweisen seiner Bürger im persönlich-intimen Bereich kontrollieren wollte. Zu Recht ist durch die Große Strafrechtsreform der 70er Jahre das Strafrecht im Sexualbereich dahin geändert worden, daß auch moralisch fragwürdige Verhaltensweisen nicht mehr unter Strafe gestellt wurden. Daß der Staat in den Schlafzimmern der Bürger nichts zu suchen hat, hat schon Bismarck ausgesprochen; erst recht gilt dies in einem Gemeinwesen, das dem einzelnen einen von staatlicher Einflußnahme freien Bereich höchstpersönlicher Lebensgestaltung zuerkennt. In der aktuellen Debatte um die Frage, ob menschliches Leben mit der Befruchtung beginnt und daher schon dem Embryo der Schutz der Artikel 1 und 2 des Grundgesetzes zukommt, wird immer wieder der Satz des Bundesverfassungsgerichts in der Entscheidung von 1975 zitiert, die Schutzverpflichtung bestehe "nach gesicherter biologisch-physiologischer Erkenntnis jedenfalls vom 14. Tage nach der Empfängnis (Nidation, Individuation)" (10). Hieraus läßt sich ohnehin nicht folgern, das Gericht habe die Zeit zwischen Befruchtung und Nidation ohne Schutz lassen wollen, sondern nur, daß hierüber nicht ausdrücklich entschieden wurde und auch nicht entschieden werden mußte, weil ja nur die Verfassungsmäßigkeit der Regelung des Schwangerschaftsabbruchs zu beurteilen war. Die Logik der damaligen Argumentation, die in der späteren Entscheidung von 1993 bestätigt wurde, spricht dafür, den Schutz, der dem nasciturus zugebilligt wurde, auch dem Embryo zuzuerkennen, und es ist besser, dies nicht zu verdrängen oder zu ignorieren oder einfach auf eine Änderung der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zu hoffen.
Heute wird gern auf die Tolerierung von nidationsverhindernden Mitteln wie der Spirale verwiesen und denen, die am Embryonenschutzgesetz festhalten wollen, ein "Wertungswiderspruch" oder gar "Doppelmoral" vorgehalten. Bei der Diskussion über die Problematik, die zu dem zitierten "Jedenfalls"-Satz führte, ist dieses Dilemma aber gesehen worden: Wollte die Rechtsordnung versuchen, solche Manipulationen zu erfassen, welche die Nidation verhindern, und sie von dem Umstand zu unterscheiden, daß auch auf natürlichem Wege ein großer Teil der befruchteten Embryonen in dieser Zeit zugrunde geht, so müßte sie Ermittlungshandlungen anordnen, die mit der Achtung der Würde des Menschen, hier vor allem der betroffenen Frau, nicht vereinbar wären. Es ist nicht Doppelmoral oder ein Wertungswiderspruch, wenn das Recht auf ein Eingreifen dort verzichtet, wo seine Durchsetzung nur unter unzumutbaren Bedingungen möglich wäre. Dieser Gedanke liegt dem geltenden und vom Bundesverfassungsgericht gebilligten Recht des Schwangerschaftsabbruchs zugrunde. Dabei sollte man nicht übersehen, daß die geltende Rechtslage in der Lebenswirklichkeit zu vielfach unbefriedigenden Ergebnissen führt und der Überprüfung bedürfte, die das Bundesverfassungsgericht in seiner Entscheidung von 1993 nach Ablauf einer gewissen Zeit verlangt hat (11) . Die bioethische Debatte ist geeignet, den Gesetzgeber an diese bisher nicht eingelöste Verpflichtung zu erinnern. So gibt der Streit um die Präimplantationsdiagnostik (PID) hinreichenden Anlaß, auf die heutige Praxis der Pränataldiagnostik hinzuweisen, die mit der geltenden Regelung des § 218 Abs. 2 StGB unvereinbar ist, der in seiner heutigen Fassung ausdrücklich nicht mehr eine embryopathische Indikation anerkennt, sondern nur bei ernstzunehmender Gefährdung des Lebens oder der Gesundheit der Frau einen Schwangerschaftsabbruch zulässt. Was hier in der Praxis geschieht, ist mit den vom Bundesverfassungsgericht aufgestellten Anforderungen unvereinbar.
Die Rechtsordnung wäre überfordert, wollte sie jede ethisch gebotene Handlungsweise mit ihren Mitteln erzwingen. Der soziale Rechtsstaat, den das Grundgesetz fordert, erwartet von seinen Bürgern auch gegenseitige Rücksichtnahme und das Bewußtsein, Teil einer größeren Gemeinschaft zu sein. Aber diese lassen sich nicht durch Gesetz erzwingen. Es heißt zuviel verlangen, wenn man mit dem österreichischen Juristen René Marcic den sozialen Rechtsstaat als "jene politische Gemeinschaftsform, in der der Mensch von Rechts wegen zur Nächstenliebe angeleitet wird", verstehen wollte (12) . Die Rechtsordnung verzichtet zwar nicht darauf, Rechtsgesinnung zu verlangen und zu fördern, aber erzwingen kann sie diese nicht. Der Staat kann persönliches Verhalten und persönliche Gesinnung nur mittelbar beeinflussen. Jedenfalls könnte ein Staat, der Nächstenliebe zu erzwingen versuchte, nicht mehr freiheitlich sein.
In der vor wenigen Tagen veröffentlichten "Stellungnahme evangelischer Ethiker zur Debatte um die Embryonenforschung" (13) finde ich die Sätze: "Einzelne, eng gefasste moralische Standpunkte können aber nicht zur Grundlage in einer pluralistischen staatlichen Rechtsordnung werden. Rechtsregelungen sind so zu gestalten, daß sie Entscheidungen gemäß unterschiedlicher moralischer Überzeugung offenhalten. Das ist auch die Konsequenz aus der Auffassung, daß ethische Konflikte in der Rechtsordnung befriedet werden können."
Damit wird von der Rechtsordnung die Kapitulation gegenüber in der Gesellschaft bestehenden Kontroverspositionen in ethischen Grundfragen verlangt, und damit die radikale Aufgabe des Verständnisses des Grundgesetzes als einer Wertordnung. Ich widerspreche der Meinung, bei der Antwort auf die Frage, von wann an das Gebot gilt, die Würde des Menschen zu achten, handele es sich um einen eng gefassten moralischen Standpunkt. Ich hielte es für keine hilfreiche Aufforderung, so etwas nicht so eng zu sehen. Gewiß ist es eine wichtige Aufgabe jeder Rechtsordnung, befriedend zu wirken. Der oft zu Unrecht verachtete Kompromiß ist ein wichtiges und legitimes Mittel des Ausgleichs unterschiedlicher Meinungen und gegensätzlicher Interessen; ohne ihn kann jedenfalls eine Demokratie nicht existieren. Der Ort, an dem um Lösungen gerungen und der Ausgleich versucht wird, ist das Parlament. Schon vor vielen Jahren habe ich auf einen Satz des Juristen Ernst Wieacker hingewiesen: ,,Der Gesetzgebungsweg ist der legitime Schauplatz für den Kampf um die Einfügung neuer materialer Ethik in die geltende Rechtsordnung ... Dieser Kampf ist nicht nur legitim; er ist auch notwendig, um einen Rechtsstaat ... moralisch zu integrieren, und um die Sozialethik, deren Maximen stets gleich bleiben, deren Verwirklichung aber jeden Tag eine neue Aufgabe ist, zu aktualisieren . . . Hier ist auch der Raum, in dem naturrechtliche Überzeugungen großer Volksteile zum parlamentarischen Siege geführt und in positive, dann Rechtsgehorsam fordernde Rechtsnormen übergeführt werden können." (14)
Die Verfassung, das Grundgesetz, hat nicht nur einen höheren Geltungsanspruch als das vielleicht nur die Überzeugungen der Mehrheit umsetzende Gesetz. Die Verfassung beansprucht auch, diejenigen Grundnormen zu enthalten, über die Konsens besteht, die für das Zusammenleben der Menschen unverzichtbar sind und die in der politischen Auseinandersetzung des Alltags nicht stets neu in Frage gestellt werden sollen. Dies gilt erst recht für die fundamentalen Grundprinzipien wie vor allem das der Würde des Menschen. Auch und gerade die Verfassung soll befriedend wirken. Dies tut sie, indem sie mit ihrer hohen Autorität zu Grundfragen Stellung nimmt. In der Abtreibungsdebatte ist dies nur insoweit gelungen, als alle politischen Kräfte sich ungeachtet aller Erfahrungen entschlossen zeigen, dieses heiße Eisen unter keinen Umständen erneut anzufassen. Zeigt sich allerdings, wie das gegenwärtig in der lebhaften und sehr kontroversen Bioethikdebatte zum Ausdruck kommt, daß sich selbst über so elementare Fragen wie des Beginns – und des Endes – menschlichen Lebens und die sich hieraus ergebenden verfassungsrechtlichen Konsequenzen keine Einigkeit herstellen läßt, so ist die Aufgabe nicht durch einen sonst achtenswerten Kompromiß zu lösen. Vielmehr muß durch alle an der Sache beteiligten – Rechtsprechung, Wissenschaft, Politik und alle, die an der Bildung und Erhaltung von ethischen Geboten beteiligt sein – in ehrlicher Weise miteinander um die richtige Antwort gerungen werden. Dies ist, wie wir immer mehr erkennen, eine ganz schwierige Aufgabe, aber wir können ihr nicht ausweichen, auch nicht durch Formel- oder Sachkompromisse.
Man kann diese Position mit den Sätzen des Trierer Rechtsphilosophen Gerhard Robbers zusammenfassen, die dieser vor kurzem bei den "Bitburger Rechtspolitischen Gesprächen" geäußert hat – dort ging es um das gleiche Thema wie auf unserer Tagung heute:
"Der schöne Satz Georg Jellineks, das Recht sei das ethische Minimum, dieser Satz ist falsch geworden. Er gilt in einer Gesellschaft, deren Recht eingebettet liegt in homogenen Wertvorstellungen, auf deren Einhaltung relativer Verlaß ist, und in der deshalb nur das Minimum rechtlicher Bewehrung bedarf. In der pluralistischen Welt sind auch die Grundlagen der Ethik streitig geworden. ...Selbst ein ethisches Minimum als kleinster gemeinsamer Nenner taugt da nicht – so war das auch nie gemeint. Ein kleinster gemeinsamer Nenner würde das Recht ethisch entblößen. Hier muß denn rechtlich und es muß politisch entschieden werden." (15)
Dies ist die Aufgabe. Rechtsordnung entsteht durch den politischen Prozeß. Die Aufgabe des Rechts ist schwierig, wie die der Ethik. aber überfordert wird das Recht nicht.
Fußnoten:
- In seinem für die FDP-Fraktion des Deutschen Bundestages erstatteten Gutachten zu den aktuellen bioethischen Fragen, Januar 2002, Anm. 8.
- BVerfGE 88, 203 [253].
- BVerfGE 39, 1 [41].
- Konrad Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts, 20. Aufl. 1995, Rdnr. 299.
- Peter Häberle, Menschenwürde und Verfassung..., in: Rechtstheorie II (1980), S. 389 ff. [424].
- Reinhold Merkel, a.a.O., S. 8 (Umdruck).
- Präses Manfred Kock, Jesus Christus – das eine Wort Gottes. Bericht des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland für die 6. Tagung der 9. Synode der EKD vom 4.-9. November 2001 in Amberg, Umdruck S. 15.
- Julian Nida-Rümelin, Was darf die Biotechnik? Der Tagesspiegel vom 22.1.2002, S. 29.
- BVerfGE 39, 1 [44].
- BVerfGE 39, 1 [37].
- BVerfGE 88, 203 [309 ff.].
- R. MARCIC Vom Gesetzesstaat zum Richterstaat, 1957, S. 416.
- Reiner Anselm u.a., Pluralismus als Markenzeichen, F.A.Z. vom 23.1.2002, S. 8.
- Ernst Benda, Das Verhältnis von Ethik und Recht, in: Politisch-soziale Korrespondenz 1966, S. 5 ff. [8].
- Gerhard Robbers, Rechtsethische Aspekte der Gentechnologie, 40. Bitburger Gespräche, Umdruck S. 8.