Christenverfolgung hat viele Gesichter
Äthiopien steht im Mittelpunkt am Sonntag Reminiszere, 5. März 2023
Christenverfolgungen in Äthiopien? Die neue Broschüre der EKD zum Sonntag Reminiszere am 5. März 2023 hat den Fokus auf das Land am Horn von Afrika gelegt. Verwunderlich, auf den ersten Blick. Ein Drittel der Äthiopierinnen und Äthiopier bekennen sich zum Islam, zwei Drittel der Bevölkerung gehören christlichen Kirchen an. Die Mehrheit aller Gläubigen gehört zur Äthiopisch-Orthodoxen Kirche. Die Mekane Yesus Kirche, unsere Partnerkirche, ist die zwar größte lutherisch geprägte Kirche weltweit, mit über 10 Millionen Mitgliedern. Bei einer Bevölkerung von insgesamt etwa 110 Millionen ist sie aber in Äthiopien eine Minderheitenkirche.
Wenn aber in einem Land überwiegend Christinnen und Christen unterschiedlicher Konfessionen leben - wie lässt sich dann von Christenverfolgung sprechen? In Äthiopien prägt die Zugehörigkeit zu einer religiösen Gruppierung das Leben grundlegend und ist mit der engen Zugehörigkeit zu einer bestimmten Bevölkerungsgruppe eng verwoben.
Werden religiöse Stätten zerstört, wird die umfassende, oft dörfliche Gemeinschaft der Gläubigen verletzt, die sich durch die Zugehörigkeit zu diesen Stätten definiert. Äthiopien wurde von der EKD unter dem Gesichtspunkt ausgewählt, den Blick dafür zu weiten, was Christenverfolgung bedeuten kann. Oberkirchenrätin Sabine Dreßler, Mitherausgeberin der Broschüre, erklärt: „Selbst in einem über die Maßen christlich geprägten Land können Angriffe auf christliche Identität und Tradition stattfinden (und dies von Christen) durch die bewusste Zerstörung von Kirchen, Klöstern, Kulturgütern und Gemeinschaften.“
Diese Angriffe hat es leider in dem beinah zweijährigen Krieg in Äthiopiens Norden vielfach gegeben. Im Regionalstaat Tigray sind seit November 2020 mehr als 600.000 Menschen umgekommen, die Zivilbevölkerung musste Unvorstellbares erleiden. Eine vergewaltigte Frau brachte das Leiden auf den Punkt, indem sie Amnesty International sagte: „Ich weiß nicht, ob sie wahrnahmen, dass ich ein Mensch bin.“
Die äthiopische Regierungsarmee und die mit ihr verbündete eritreische Armee versuchten gezielt, die Identität der Tigrayerinnen und Tigrayer zu zerstören, die sich stolz auf ihr uraltes christliches Erbe beziehen. Viele von ihnen wurden in den orthodoxen Kirchen, in denen sie nach biblischer Tradition Asyl gesucht hatten, von Menschen, die sich ebenfalls als gläubig bezeichnen, massakriert. Klöster wurden in der Einöde zerstört. Christenverfolgung in Äthiopien geschieht, um Regionalstaaten wie Tigray oder Oromia zu entmachten, indem die religiösen wie auch ethnischen Identitäten der Menschen gezielt zerstört werden.
„Christenverfolgung hat viele Gesichter.“
Seit Ende letzten Jahres gibt es nun ein sog. Friedensabkommen. Das Internet ist wieder überall verfügbar, humanitäre Lieferungen erreichen die Bevölkerung und die eritreische Armee beginnt langsam, sich aus Tigray zurückzuziehen. Aber dieses Abkommen gilt nicht für andere Landesteile, in denen auch ein Bürgerkrieg gegen die äthiopische Armee tobt wie im Regionalstaat Oromia im Westen. Dort ist unsere evangelische Partnerkirche am Stärksten verankert, ca. 65% sind nach ihren eigenen Angaben Oromo. Im November letzten Jahres wurden Hunderte Gläubige in West- und Ostwollega von Amhara-Milizen, die orthodoxe Christen sind, getötet, auf dem Markt oder beim Sonntagsgottesdienst. „Für unsere Kirche war diese Woche eine Woche der Dunkelheit und großen Trauer“, sagt der leitende Präsident unserer Partnerkirche, Rev. Dr. Yonas Yigezu, „Tag für Tag verliert unsere Kirche Mitglieder wegen des Krieges an vielen Orten und Regionen in Oromia. Wir verurteilen diese Massaker und sind sehr traurig, dass sich die Regierung nicht bemüht hat, diese Brutalität von Anfang an zu verhindern.“ Die Regierung traue der Kirche nicht mehr, so Yigezu, weil sie weiß, dass jede Kirche in ihrem Auftrag als Friedenskirche gegen den Krieg sei.
Die Wahl der EKD zu Reminiszere macht deutlich: Christenverfolgung hat viele Gesichter. An diesem Sonntag feiern wir in Berlin und anderswo Gottesdienste, die zur Solidarität mit unseren Geschwistern aufrufen.
Pfarrer Dr. Martin Frank
Der Beitrag erschien zuerst in „Die Kirche“, Ev. Kirchenzeitung Berlin-Brandenburg Schlesische Oberlausitz, Nr. 10/2023