Das Land des Neuen Bundes und seine Kirche
Prof. Dr. Armenuhi Drost-Abgarjan, Halle
Einführung
Die Selbst- und Fremdwahrnehmung der Armenier kann man mit zwei Stichwörtern beschreiben: eine alte Weltkultur und das erste offiziell christliche Volk in der Geschichte der Menschheit, das noch vor der Einführung des Christentums im Römischen Reich unter seinem König Tiridates das Christentum im Jahr 301 angenommen und zur staatlichen Religion erhoben hat. Darüber berichtet der byzantinische Autor Sozomenos in seiner Kirchengeschichte (II, 8), die 443-450 n. Chr. entstand. Aber auch der Begründer der byzantinischen Chronistik Eusebius von Cäsarea (†339) und der Kirchenvater Basileios von Cäsarea (†379) bezeugen die Existenz der armenischen Kirchen seit der apostolischen Zeit.
Der heilige Berg Ararat, der höchste Gipfel des armenischen Hochlands (5165 m ü. M.), das armenische Alphabet (entstanden 405 durch Mesrop Maschtotz) und Edschmiadsin, der Sitz des Katholikos („Mutterstuhl“) des geistlichen Oberhaupts der gesamten armenischen Christenheit, sind die Wahrzeichen der armenischen Kultur und Religion.
Der Name des Berges Ararat im Armenischen Hochland wird von dem des gesamten umliegenden Gebirgsland Urartu-Ararat (Blütezeit im 8. Jh. v. Chr.) abgeleitet. In der biblischen Geographie ist dieses „Gebirge Ararat“, die Region der Rettung alles Lebendigen, mit der Arche aus der Sintflut und des Neuen Bundes mit Gott (Gen 8,4) verbunden.
Die am Fuße des Ararat im Ararat-Tal lebenden Armenier fühlen sich bis heute verantwortlich für den Bund, den nach dem biblischen Bericht Gott mit den Menschen nach der Sintflut neu geschlossen hat. Die Bedingung dieses Bundes, zu dessen Zeichen Gott einen Regenbogen über dem Berg in die Wolken gesetzt hatte, war, dass die Menschen keine Frevel mehr begehen. Dafür versprach er, nie wieder die Wasser zu einer Flut werden zu lassen, welche die Menschen vernichten könnte.
Diese Verantwortung für die Christenheit bedingt die Weltoffenheit und Friedfertigkeit der insgesamt auf der Welt lebenden 10 Millionen Armenier. Ihr ausgeprägtes Gefühl für Freundschaft und die Neugier auf fremde Kulturen und Sprachen prägen ihre Einstellung und Handlungen bis heute.
Weltweite Vernetzung der armenischen Kirche
Daher fällt die zivilisatorische, kulturelle und geistesgeschichtliche Grenze des armenischen Volkes und ihrer Kirche nicht mit der aktuellen geopolitischen Grenzziehung der kleinen Republik Armenien im Südkaukasus zusammen.
Armenier waren von der frühesten Zeit an Wächter der heiligen Stätten des Christentums im Heiligen Land. Sie waren Sprecher der altorientalischen Kirchen im Osmanischen Reich, und bis heute sind sie neben den Griechen und Lateinern für die Bewahrung der Erinnerungs- und Kultusorte in der Grabeskirche in Jerusalem, der Geburtskirche in Bethlehem, und der Himmelfahrtskirche auf dem Ölberg zuständig.
Bekanntlich trägt eines der zentralsten Viertel Jerusalems auf dem Zion-Berg den Namen „Armenisch“. Dort befindet sich das Hl. Jakobskloster. Die geistliche Präsenz der Armenier im Heiligen Land bezeugt auch das Armenische Patriarchat in Jerusalem.
Die Armenier nahmen an den ersten ökumenischen Konzilien teil, gestalteten das Glaubensbekenntnis (Nizänum) mit, beteiligten sich an den heißen theologischen Debatten über die Natur(en) Christi und das Wesen der Trinität in der sich konstituierenden christlichen Kirche. Sie waren Lehrer und Schüler in den theologischen Schulen von Antiochien, Alexandrien, Edessa, Nisibis und Konstantinopel.
Ein weiteres Patriarchat gibt es bis heute in Konstantinopel, trotz der Einverleibung Westarmeniens in die Republik Türkei nach dem Völkermord an den Armeniern (1915-1923). Die traditionellen armenischen Bistümer sind auch in Ägypten, in Syrien, im Libanon und anderen Ländern des Nahen Ostens lebendig.
Armenische Steinmetze und Architekten waren nicht nur an Bau und Restaurierung der Kathedrale der Hl. Sophia, sondern auch anderer sakraler und weltlicher Bauten in der Reichshaupstadt Konstantinopel beteiligt, auch nach deren Eroberung durch die Osmanen im 15. Jahrhundert.
Die byzantinischen Kaiser armenischer Herkunft gründeten unter Beteiligung der armenischen Geistlichkeit die Mönchsrepublik Athos auf der gleichnamigen Halbinsel in Chalkidiki (Griechenland). Sie gilt als „Vatikan der Orthodoxie“. Bis heute werden dort, unter anderem in der Hauptkirche Megisti Lavra, die Reliquien des Heiligen Grigor des Erleuchters, des ersten Bischofs der offiziellen Armenischen Kirche, aufbewahrt. Er wird auch in Byzanz und anderen Kirchen der Christlichen Ökumene verehrt.
Die armenischen Fürstentümer und das kleinarmenische Exil-Königtum Kilikien am Mittelmeer mit dem Katholikossat des Großen Hauses von Kilikien dienten als Brücken zwischen Europa und dem Oriens Christianus (11.- 14. Jh.). Unter Obhut und Vermittlung der Armenier wurden im Osmanischen Reich die katholischen (1831) und protestantischen (1846) Milets gegründet.
Die Armenische Kirche ist Mitglied des Weltkirchenrats und der Konferenz der Europäischen Kirchen. Ihre Vertreter werden immer wieder mit leitenden Funktionen in diesen ökumenischen Organisationen beauftragt. Sie sind auch im Rat der Kirchen des Mittleren Ostens (MECC) aktiv.
Aktuelle Lage
Während der vorliegende Beitrag entsteht, läuft die ethnische Säuberung in den ältesten und größten Diözesen der Armenischen Kirche, in Berg-Karabach, durch die aserbaidschanisch-türkischen Invasoren in einem Jahrtausende lang von den Armeniern besiedelten Gebiet ab. Nach der Wende hatte es sich vom stalinistischen Terror der Sowjetunion und der daraus resultierenden Unterdrückung durch Aserbaidschan losgesagt und per Referendum − entsprechend dem Selbstbestimmungsrecht der Völker − 1991 für unabhängig erklärt. Die Weltgemeinschaft sieht dem Geschehen tatenlos zu.
Tausende armenische Christen sind unterwegs ins Kernland Armenien. Diejenigen, die es nicht schaffen, werden festgenommen, gefoltert, vergewaltigt, ermordet. Diese menschliche Katastrophe, eine Tragödie historischer Dimension, signalisiert die Vollendung des Exodus der Christen aus dem christlichen Orient.
Scharakan-Hymnus aus dem Kanon des Grigor des Erleuchters
zum Gedenktag des Eingangs in die (Gefängnis-)Grube Chor Virap
(Howhannes Jerznkatzi, 13. Jh.)
Rebe traubenbringend des wahren Weinstocks,
gepflegt von der väterlichen göttlichen Rechten,
woraus entsprang der frohmachende Becher unserm betrübten Volk,
wodurch getränkt, wir erquickt wurden in geistlicher Freude.
Frühlingbringender Klang des südlichen Windes,
strahlend vom Feuer des göttlichen Geistes,
wodurch taute das Eis des Götzendienstes der nördlich wohnenden Völker,
und sie wurden blühend in göttlicher Erkenntnis.
Paradies neuergötzend, gepflanzt im Lande der Armenier,
mit vielmühend Schweiß, Herr Grigorios,
getränkt von strömenden Flüssen der Kunde des wahren Wortes,
erfüllt von blütenreichen wunderschönen Setzlingen.
Himmlisches Licht aufgegangen, auf Erden dich zeigtest,
mit hellstrahlend Glanz von der Sonne des Lebens,
wodurch überwunden ward dichthaftend Finsternis des armenischen Geschlechts,
und sie sahen das Licht der Gnade des heiligen Geistes.
(Übersetzung von Armenuhi Drost-Abgarjan und Hermann Goltz)
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