„Viele verkaufen das Letzte, was sie noch besitzen“

Präsidentin der Diakonie Katastrophenhilfe Cornelia Füllkrug-Weitzel in Syrien

Cornelia Füllkrug-Weitzel, Präsidentin der Diakonie Katastrophenhilfe
Die Häuser im Stadtteil Al-Hamdaniyah von Homs sind zerstört. Unter anderem in dieser Gegend fördert die Diakonie Katastrophenhilfe Projekte, erzählt die Präsidentin der Diakonie Katastrophenhilfe, Cornelia Fuellkrug-Weitzel.

Der Krieg in Syrien geht in das achte Jahr, die Lage für weite Teile der Bevölkerung ist dramatisch. Die Diakonie Katastrophenhilfe unterstützt die Notleidenden in mehreren Regionen. Pfarrerin Cornelia Füllkrug-Weitzel (62), Präsidentin des evangelischen Hilfswerks und von „Brot für die Welt“, hat den Projektpartner GOPA-DERD besucht, das Hilfswerk der griechisch-orthodoxen Kirche in Syrien. Medizinische und psychosoziale Hilfe seien besonders dringend, berichtete Füllkrug-Weitzel dem Evangelischen Pressedienst (epd) vor Ort. Oft müssten sich die Menschen zwischen Nahrung und Medikamenten entscheiden.
 
Was ist Ihr Eindruck von der aktuellen Lage in Syrien?

Cornelia Füllkrug-Weitzel: Je nach Landesteil, Stadt oder Dorf ist die Lage völlig unterschiedlich. Die Gegenden, die besetzt sind und unter Rückeroberungsdruck stehen, sind noch nahezu unzugänglich für humanitäre Hilfe. Die Menschen dort leiden dramatisch und es fehlt ihnen das Allernötigste. In anderen Gebieten haben Hilfsorganisationen zwar Zugang, aber der Hilfsbedarf ist größer als die Hilfsmöglichkeiten, weil die Menschen unter der dramatischen Wirtschaftslage infolge des Krieges und der massiven Einschränkungen des Sozialsystems, also etwa der Gesundheitsversorgung leiden.

Die Diakonie Katastrophenhilfe fördert bereits Projekte in Syrien. Wo genau?

Füllkrug-Weitzel: Vor allem in fünf Gebieten: Im Norden im ländlichen Raum von Latakia, der von Al-Nusra besetzt war und von der Regierung wiedererobert wurde. Auch in dem Teil des ländlichen Raums von Hama, der nicht besetzt war, aber unter erheblichem Beschuss aus umliegenden Dörfern lag. Im Tal der Christen nahe der Grenze zum Libanon, das nicht besetzt war, teilweise aber auch unter Beschuss lag. In Homs, das durch Bombenangriffe und Straßenkämpfe schwer zerstört wurde. Und in Suweida im Süden sowie im ländlichen Damaskus, wo noch gekämpft wird. „Brot für die Welt“ unterstützt außerdem Projekte in Aleppo, das nach wie vor noch nicht ganz befriedet ist und ebenfalls unter schwerstem Beschuss litt.
 
Nach internationalen Standards muss humanitäre Hilfe neutral sein. Kann ein Hilfswerk in Syrien derzeit wirklich neutral gegenüber allen politischen Parteien und Ansichten sein?
 
Füllkrug-Weitzel: Ein Hilfswerk ist immer dann neutral, wenn es sich nicht selbst zu einer politischen Partei macht und sich nicht von einer politischen Partei instrumentalisieren lässt. Das ist unsere Absicht und die Absicht unserer Partner, und ich denke, dass das auch weitgehend möglich ist.
 
Halten die Christen in Syrien genügend Distanz zum Regime?
 
Füllkrug-Weitzel: Gibt es irgendeinen Bevölkerungsteil, irgendeine Institution in Syrien, die niemandem nahesteht, keiner Kriegspartei? Das bezweifele ich. Das ist auch kein Kriterium. Sondern entscheidend ist, dass unsere Partner allen Menschen in Not helfen, egal ob das Christen, Alawiten oder Sunniten sind. Mein Eindruck hat sich durch unseren Besuch verstärkt, dass das bei unseren Partnern der Fall ist.
 
Was ist darüber hinaus Ihr Eindruck vom Hilfswerk der griechisch-orthodoxen Kirche in Syrien?
 
Füllkrug-Weitzel: GOPA-DERD ist schon länger im Land aktiv und hat sich im Zuge der Krise mit internationaler Unterstützung zu einem hochgradig professionellen Partner entwickelt. Genau das fördert die Diakonie Katastrophenhilfe ja auch. Wir sind daran interessiert, dass es auch in Syrien möglichst starke Partner gibt, die die humanitäre Hilfe selbst leisten. GOPA ist ausgesprochen umsetzungsstark, hat auch schon internationales Ansehen und ist nicht nur interessiert an der Einhaltung humanitärer Prinzipien, sondern tut es auch.
 
Was für Hilfe braucht Syrien heute, und wofür wünscht Ihr Partner künftig mehr Unterstützung von Ihnen?
 
Füllkrug-Weitzel: Wir sind gemeinsam der Meinung, dass rasch noch deutlich mehr Wohnraum wiederhergestellt werden muss, damit die noch immer über sechs Millionen im Land Vertriebenen wieder zügig angemessen Wohnmöglichkeiten haben. Das Zweite ist: Die Leute brauchen medizinische Hilfe. Das haben wir auch schon in der Vergangenheit unterstützt. Die Preise für Medikamente sind aufgrund der Inflation und wegen gestrichener staatlicher Subventionen massiv in die Höhe geschnellt. Wer operiert werden muss, hat nur wenige Chancen, von einem staatlichen Krankenhaus aufgenommen zu werden. Denn die sind entweder zerstört oder von der Armee belegt. Die Leute müssen auf private Kliniken ausweichen, die sie aber nicht bezahlen können. Wer dauerhaft auf Medikamente angewiesen ist, zum Beispiel wegen Diabetes oder Herzproblemen oder einer Krebserkrankung, muss sich zwischen Nahrung und Medikamenten entscheiden. Viele verkaufen das Letzte, was sie noch besitzen. Oder sie verschulden sich, weil sie sonst sterben würden, auch ohne von direkter Gewalteinwirkung betroffen zu sein.
 
Ein größeres Problem ist auch, dass so viele Ärzte abgewandert sind. Wenn die Bundesregierung von Rückführung spricht, wird sie gewiss nicht zuerst an die syrischen Ärzte denken. Sie sind diejenigen, die die Bundesregierung am ehesten in Deutschland halten will. Das ist ein gewisses Drama. Das Dritte ist die psychosoziale Unterstützung, vor allem Hilfe bei der Traumabewältigung. Eine so heftig durch die Gewalt traumatisierte Gesellschaft wie die syrische ist ohne weiteres nicht in der Lage, zu einer versöhnten Gemeinschaft zu finden. Und Menschen werden sich nur in ihrer Gegend ansiedeln können, wenn zuvor Brücken zwischen den Bevölkerungsgruppen gebaut worden sind.
 
Was sehen Sie als die größte Herausforderung für die syrische Christenheit derzeit an?
 
Füllkrug-Weitzel: Viele haben Angst davor, wie nach einem hoffentlich bald erfolgenden Friedensschluss die Verfassung aussehen wird. Ob sie weiterhin ein multireligiöses Land vorsieht. Die zweite Herausforderung ist, weiterhin die Hände auszustrecken zu den sunnitischen Dörfern in ihrer Umgebung. Besonders dort, wo ihre Klöster und Dörfer Zufluchtsorte für die Frauen und Kinder aus der sunnitischen Umgebung waren, ist die Ausgangslage dafür gut. Drittens sind – wie in allen Bevölkerungsgruppen – die jungen Männer außer Landes gegangen. Sie zu überzeugen, dass sie zurückkommen, und andere davon zu überzeugen, nicht noch zu gehen, ist für die Christen von besonders großer Bedeutung. An ihrer Präsenz hängt die Präsenz des Christentums in der Region insgesamt - und damit auch multireligiöser Gesellschaften.
 
Haben die Kirchen in Deutschland bislang versäumt, den syrischen Christen im Krieg ausreichend beizustehen?
 
Füllkrug-Weitzel:
Ich kann nur für „Brot für die Welt“, Diakonie Katastrophenhilfe und „Kirchen helfen Kirchen“ sprechen. Wir haben in den vergangenen zwei Jahren unentwegt Hilfe angeboten, aber von den Kirchen in Syrien nicht ausreichend Vorschläge bekommen. Die Gründe sind mir noch nicht ganz erklärlich. Allerdings kann man humanitäre Hilfe auch nicht aus dem Stegreif leisten. Deshalb haben die evangelischen Kirchen in Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg für den Wiederaufbau das evangelische Hilfswerk gegründet, aus dem wir hervorgegangen sind. Genauso ist das auch bei den Kirchen in Syrien. Mit GOPA-DERD gibt es nun ein kirchliches, humanitäres Hilfswerk in Syrien, es hat sich zum größten Hilfswerk der christlichen Kirchen in der Region entwickelt, das allen Syrern hilft, das sehr professionell und sehr umfassend tätig ist.

epd-Gespräch: Burkhard Weitz

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