Predigt zu Matthäus 10, 34-39
Der Bevollmächtigte des Rates der EKD, Prälat Dr. Martin Dutzmann, predigt in der Kaiser-Wilhelm-Gedächtnis-Kirche am 24.10.2021
Die Gnade unseres Herrn Jesus Christus…
Liebe Schwestern und Brüder,
eigentlich würde ich Sie jetzt gerne darum bitten, spontan – ohne lange zu überlegen – einen Satz zu sagen, von dem Sie wissen, dass er von Jesus überliefert ist.
Der eine oder die andere würde sicher seinen oder ihren Tauf- oder Konfirmationsspruch sagen. Vielleicht wäre dieser tröstliche Vers darunter: „Kommt her zu mir alle, die ihr mühselig und beladen seid. Ich will euch erquicken.“ Oder dieser: „Siehe, ich bin bei euch alle Tage bis an der Welt Ende.“
Andere würden wohl eines der Jesusworte aus dem Johannesevangelium nennen, die mit „Ich bin“ anfangen: „Ich bin der gute Hirte und kenne die Meinen und die Meinen kennen mich.“ Oder – Trostwort bei mancher Beerdigung: „Ich bin die Auferstehung und das Leben. Wer an mich glaubt, der wird leben, ob er gleich stürbe.“
Und schließlich: Hier in der Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche, die als Teil der Nagelkreuzgemeinschaft in besonderer Weise dem Frieden verpflichtet ist, würde wohl auch die Seligpreisung Jesu genannt: „Selig sind, die Frieden stiften, denn sie werden Gottes Kinder heißen.“
Vor dem Hintergrund all dieser tröstenden, stärkenden, orientierenden Worte Jesu wirkt der uns heute als Predigttext vorgeschlagene Abschnitt aus einer Rede Jesu nicht nur ernüchternd, sondern geradezu verstörend. Ich lese aus dem 10. Kapitel des Matthäusevangeliums die Verse 34 bis 39.
(Matth. 10, 34-39 lesen)
Ich gestehe, liebe Schwestern und Brüder, ich bekomme das nur schwer zusammen: jene tröstenden, stärkenden, orientierenden Worte Jesu, die vielen von uns Trost und Wegbegleiter sind, und seine harsche, fordernde Rede, über die wir heute nachzudenken haben. Insbesondere will es mir nicht gelingen, die Seligpreisung der Friedensstifter mit dem Auftakt des Predigttextes zusammenzubringen: „Ihr sollt nicht meinen, dass ich gekommen bin, Frieden zu bringen auf die Erde. Ich bin nicht gekommen, Frieden zu bringen, sondern das Schwert.“
Oder geht es gar nicht darum, diese widersprüchlichen Jesusworte in ein harmonisches Bild zu bringen und die Spannungen aufzulösen? Vielleicht ist heute Morgen ja etwas ganz anderes verlangt: Nämlich, dass wir uns wecken lassen „aus dem Schlaf der Sicherheit“, wie wir es gerade gesungen haben. Vielleicht müssen wir aus dem Schlaf der Sicherheit aufgerüttelt werden, um Frieden zu finden. Einen wirklicher Frieden, keinen, der auf faulen Kompromissen oder schlichter Trägheit basiert. Setzen wir uns also dem Weckruf Jesu aus…
„Wer Vater oder Mutter mehr liebt als mich, der ist meiner nicht wert; und wer Sohn oder Tochter mehr liebt als mich, der ist meiner nicht wert. Und wer nicht sein Kreuz auf sich nimmt und folgt mir nach, der ist meiner nicht wert.“ Das klingt bedrohlich. Hoffen wir, liebe Schwestern und Brüder, dass wir niemals in die Lage kommen, uns zwischen Jesus und unseren Eltern oder zwischen Jesus und unseren Kindern entscheiden zu müssen! Das mussten und müssen viele unserer Glaubensgeschwister in totalitären Staaten. Während der nationalsozialistischen Terrorherrschaft haben Menschen mutig ihren Glauben bekannt. Manche haben gar Jüdinnen und Juden versteckt und zur Flucht verholfen, weil sie sich daran erinnerten, dass Jesus Jude war und das Heil von den Juden kommt. Sie nahmen ihr Kreuz auf sich - und brachten sich in Lebensgefahr. Sich und ihre Väter, Mütter, Söhne, Töchter. Auch während der dann folgenden Diktatur im Osten Deutschlands riskierten Christen viel – nicht nur für sich selbst, sondern auch für ihre Familien. Wer als Christ glaubte und lebte, dessen Familie wurde in Mithaftung genommen. In der Regel konnten die Kinder keinen höheren Schulabschluss erlangen und erst recht nicht studieren. So wurden viele Lebensläufe nachhaltig beschwert.
Wer wie ich in der Bundesrepublik Deutschland groß geworden ist, wo seit 1949 Staat und Kirchen zwar getrennt sind, aber vertrauensvoll zusammenarbeiten, geriet und gerät gewöhnlich nicht in solche Konflikte. Umso wichtiger ist es für Menschen wie mich und auch wohl für nicht wenige von Ihnen, sich selbst ehrlich zu befragen: Was hätte ich eigentlich getan, hätte ich als Christ zwischen 1933 und 1945 gelebt? Hätte ich das Unrecht an Jüdinnen und Juden als Unrecht erkannt? Und hätte ich dann den Mut gehabt, meinem Glauben entsprechend das Unrecht auch Unrecht zu nennen, wie etwa Dietrich Bonhoeffer es tat oder Paul Schneider? Und wo hätte ich gestanden, wäre ich Bürger der DDR gewesen? Hätte ich zu meinem Glauben gestanden – auch um den Preis, dass meine ganze Familie bespitzelt worden wäre und meine Kinder ihre Berufswünsche hätten begraben müssen? Nein, einfache Antworten gibt es da nicht, und das ist zutiefst beunruhigend. Aber die Frage muss offengehalten werden und das aus zwei Gründen: Zum einen schulden wir das allen Glaubensgeschwistern, die je in einem solchen Konflikt zwischen ihrem Glauben an Jesus Christus und ihren familiären Bindungen standen oder zur Stunde stehen. Zum anderen wissen wir alle nicht, in welche Lebenslage wir noch kommen und wie wir uns dann entscheiden werden.
“Ihr sollt nicht meinen, dass ich gekommen bin, Frieden zu bringen auf die Erde. Ich bin nicht gekommen, Frieden zu bringen, sondern das Schwert“, sagt Jesus und auch das ist eine Zumutung, nicht nur für friedensbewegte Menschen. Es ist eine Zumutung, auch wenn Jesus das Schwert nicht wörtlich, sondern als Symbol für Unfrieden aller Art verstanden wissen will.
Wir sollten auch diese Zumutung nicht abwehren oder wegerklären. Wir sollten darin vielmehr Fragen an uns hören. Fragen an uns, die wir heute Jesus Christus nachfolgen: Wie verhalte ich mich eigentlich, wenn im Familien-, Freundes- oder Kollegenkreis abfällig über den christlichen Glauben oder über die christliche Kirche gesprochen wird? Gebe ich dann zu erkennen, dass der Glaube mein Leben prägt und dass bestimmte christliche Werte mir wichtig sind? Oder schweige ich um des „lieben“ und das heißt dann wohl meistens um meines Friedens willen“? Wenn Menschen in einem Gespräch Verhaltensweisen gutheißen, die ich als Christ nicht billigen kann, melde ich mich dann zu Wort und riskiere eine vielleicht heftige Auseinandersetzung? Oder decke ich alles mit dem vermeintlichen „Mantel der Liebe“ zu, der vor allem mich selber wärmt? Halte ich, wenn sich Bekannte oder Verwandte rassistische Witze erzählen, den Mund, weil ich Unfrieden befürchte? Schweige ich, wenn Menschen, die vor Not und Gewalt geflohen sind, verdächtigt und verunglimpft werden?
Auch diese Fragen sind unangenehm, doch auch sie sind immer wieder zu stellen. Jedenfalls höre ich in dem Jesuswort, dass Jesus keinen Frieden um des „lieben“ Friedens willen möchte. Das wäre auch kein wirklicher Frieden. Der kann nur erreicht werden, wenn gegensätzliche Standpunkte offengelegt und ausgehalten werden. Ein Frieden um des Friedens willen ist leider oft ein fauler Frieden.
“Ihr sollt nicht meinen, dass ich gekommen bin, Frieden zu bringen auf die Erde. Ich bin nicht gekommen, Frieden zu bringen, sondern das Schwert.“ Dieses Jesuswort bringt mich auch in meiner Rolle als Vertreter der Evangelischen Kirche gegenüber dem Staat zunehmend ins Grübeln und ins Fragen.
Im Februar des vergangenen Jahres erreichte die Corona-Pandemie Deutschland. Kurz darauf kam es zum ersten so genannten Lockdown: Die Geschäfte blieben geschlossen, Konzerthäuser, Kinos und Theater gaben keine Vorstellungen, das öffentliche Leben wurde still gestellt. Still wurde es auch in den Kirchen. Die Bundeskanzlerin und die Ministerpräsidenten bzw. Ministerpräsidentinnen der Bundesländer verboten Versammlungen in Gotteshäusern. Wir Kirchen und auch die jüdische und die islamische Religionsgemeinschaft haben das hingenommen. Wir wussten uns mitverantwortlich für den Kampf gegen die Pandemie und wollten unter allen Umständen verhindern, dass ein Gotteshaus zum Ansteckungsherd würde. Dazu sahen wir uns durch das Gebot der Nächstenliebe verpflichtet. Viele haben uns seinerzeit vorgeworfen, wir hätten die Auseinandersetzung mit dem Staat suchen und unser kirchliches Recht durchsetzen müssen. Ich meine allerdings auch heute noch, dass wir richtig entschieden haben.
Anders verhält es sich im Blick auf die seelsorgliche Begleitung kranker und sterbender Menschen. Auch in den Krankenhäusern und Altenheimen war es still und Angehörige, aber auch Seelsorgerinnen und Seelsorger, wurden aus Angst vor Ansteckung nicht zu den kranken und sterbenden Menschen gelassen. Einige Pastorinnen und Pastoren haben sich das nicht gefallen lassen. Soweit ich weiß, hat ein Kollege das Besuchsrecht in einem Altenheim vor Gericht erstritten. Er hatte recht. Und inzwischen bin ich davon überzeugt, dass wir Kirchenleute energisch hätten protestieren müssen, als demenzerkrankte Menschen allein gelassen wurden und Sterbende nicht Abschied von ihren Lieben nehmen durften. Wir hätten im Namen Jesu den Unfrieden mit jenen riskieren müssen, die auf Seiten des Staates diese Schutzmaßnahmen erdachten und verordneten.
Liebe Schwestern und Brüder, die Jesusworte, die uns heute als Predigttext aufgegeben sind, klingen wahrhaftig anders als jene, an die wir uns eher und vor allem lieber erinnern. Sie klingen harsch und verstörend. Sie stellen uns Fragen, die wir nicht ohne weiteres beantworten können. Sie konfrontieren uns mit eigenen Versäumnissen. Und sie klingen bedrohlich, wenn es am Ende dann auch noch heißt: „Wer sein Leben findet, der wird’s verlieren.“ Trotzdem, glaube ich, sind diese Worte Jesu ein notwendiger Weckruf. Sie rütteln uns auf und nötigen uns zur Selbstprüfung. Sie lassen uns spüren, dass der Glaube an Jesus Christus nicht nur eine Tradition oder ein Kulturgut ist, sondern zuerst und vor allem eine existenzielle Herausforderung.
Diese Herausforderung ist aber verheißungsvoll. Jesus beendet seine Rede so: „…und wer sein Leben verliert um meinetwillen, der wird’s finden.“ Wer zu seinem Glauben steht, den wird Gott nicht im Stich lassen. Wer aus Glaubensgründen eine Auseinandersetzung riskiert, der wird in Gott einen starken Helfer haben. Wer faulen Frieden meidet, wird am Ende wahren Frieden finden.
Dieser Friede, der Friede Gottes, der höher ist als alle Vernunft, der bewahre eure Herzen und Sinne in Christus Jesus. Amen.