Ein Spiegelbild der Gesellschaft
Wie sich Mitgliedschaft in einer Kirche und Religiosität auf Vorurteile und die Einstellung zur Demokratie auswirken
Haben Kirchenmitglieder mehr Vorurteile gegenüber jüdischen Menschen, gegenüber Geflüchteten, gegenüber muslimischen Menschen oder zu Fragen von Familie und Gender? Und wie steht es um ihre Zustimmung zur Demokratie? Um die Beziehungen zwischen Religiosität, Antisemitismus und anderen gruppenbezogenen Vorurteilen zu beleuchten, hat eine von der Evangelischen Kirche in Deutschland geförderte Studie über 2.500 Menschen befragt.
Wie Religion gelebt wird, hat Auswirkungen auf die eigenen Vorurteile
Im Mittelpunkt der repräsentativen Studie stehen gruppenbezogene Vorurteile. Die Studie setzt diese Vorurteile aber ins Verhältnis zur gelebten Religiosität der Befragten: Wie intensiv wird die eigene Religion gelebt und wie blicken Befragte auf andere Religionen? So wird sichtbar, welche Aspekte von Religiosität womöglich vorurteilsfördernd oder auch -mindernd wirken können.
Hier die wichtigsten Ergebnisse im Überblick:
1. Kirchenmitglieder sind im Hinblick auf ihre Vorurteile ein Spiegelbild der Gesellschaft
Im Durchschnitt haben Kirchenmitglieder nicht weniger oder mehr Vorurteile als nichtreligiöse Menschen. Konkrete Unterschiede werden erst sichtbar, wenn man das spezifische Verhältnis der Kirchenmitglieder zur Religiosität betrachtet und die Art der Vorurteile differenziert.
So zeigen Menschen, deren Glaube eine zentrale Rolle in ihrem Leben einnimmt, in allen Bereichen außer der sexuellen Vielfalt weniger Vorurteile. Die Ergebnisse zeigen auch, dass evangelische Kirchenmitglieder weniger antisemitische Ressentiments haben. Kirchenmitglieder, die anderen Religionen gegenüber offen sind, sind in fast allen Bereichen stärker vor Vorurteilen geschützt und zeigen keiner Gruppe gegenüber überdurchschnittlich starke Vorurteile.
Im Umkehrschluss gilt aber auch: Kirchenmitglieder, die davon überzeugt sind, dass andere Religionen weniger wahr sind als ihre eigene, haben in vielen Bereichen mehr Vorurteile.
Was die Zahlen bedeuten:
Der dargestellte Koeffizient stellt dar, ob bestimmte religiöse Merkmale – zum Beispiel der evangelische Glaube, eine hohe Zentralität der Religiosität im Leben eines Menschen oder säkulare Einstellungen – mit dem Halten von mehr oder weniger Vorurteilen gegenüber bestimmten Gruppen bzw. Einstellungen gegenüber der Demokratie (s.u.) in Verbindung stehen. Der Koeffizient reicht von 1.0 (starker Zusammenhang zwischen religiösem Merkmal und mehr Vorurteilen) bis -1.0 (starker Zusammenhang zwischen religiösem Merkmal und weniger Vorurteilen).
Religiosität und gruppenbezogene Vorurteile
Die folgende Tabelle zeigt Zusammenhänge zwischen der Religiosität von Menschen und gruppenbezogenen Vorurteilen im Überblick auf. Das Plus (+) bedeutet einen Anstieg der Vorurteile, das Minus (-) eine Reduzierung.
Die nachfolgenden Grafiken geben in Prozentzahlen an, wie verbreitet Vorurteile gegenüber verschiedenen Gruppen unter evangelischen Kirchenmitgliedern, katholischen Kirchenmitgliedern und Menschen ohne Religionszugehörigkeit sind.
Vorurteile gegenüber geschlechtlicher Vielfalt und Gleichstellung der Geschlechter
Evangelische Kirchenmitglieder sind mit Blick auf Feminismus etwas toleranter. Sie zeigen sich offener gegenüber einer modernen Rollenverteilung in der Familie.
Vorurteile gegenüber Menschen muslimischen Glaubens
Evangelische Kirchenmitglieder halten Menschen muslimischen Glaubens weniger oft für kriminell. Einer Zuwanderung von Muslim*innen nach Deutschland stehen sie offener gegenüber.
Antisemitische Vorurteile
Antisemitische Tendenzen finden sich bei evangelischen Kirchenmitgliedern etwas seltener.
Vorurteile gegenüber Homosexualität
Dreiviertel aller Mitglieder der evangelischen Kirche halten Homosexualität für etwas völlig Normales. Die große Mehrheit ist dafür, dass homosexuelle Paare Kinder adoptieren können sollten.
Vorurteile gegenüber Menschen, die in Armut leben
Evangelische Kirchenmitglieder haben etwas weniger häufig Vorurteile gegenüber Menschen, die in Armut leben.
2. Kirchenmitglieder und besonders religiöse Menschen unterstützen die Demokratie stärker
Die Unterstützung der Demokratie wird von der Studie auf drei Weisen gemessen:
Glauben Befragte, dass die Demokratie das für unsere Gesellschaft angemessene System ist?
Stimmen Befragte der Demokratie, wie sie konkret im Grundgesetz verankert ist, zu?
Sind Menschen mit der gelebten Demokratie zufrieden?
Die Ergebnisse zeigen: Religiös geprägte Menschen sind leicht überdurchschnittlich von der Angemessenheit der Demokratie überzeugt, haben ein überdurchschnittliches Einverständnis mit dem Grundgesetz und sind deutlich zufriedener mit der Demokratie.
3. Kirche kann soziale Vernetzung sowie soziales Engagement fördern und dadurch den gesellschaftlichen Zusammenhalt stärken
Kirchen und ihre Gemeinden bieten Menschen Orte und Ressourcen für soziales, den gesellschaftlichen Zusammenhalt förderndes Engagement und soziale Vernetzung. Dieser soziale Aspekt zeigt sich auch in der prodemokratischen Ausrichtung ihrer Mitglieder. Allerdings gibt es sowohl unter Kirchenmitgliedern als auch unter Konfessionslosen solche, die antidemokratische Meinungen haben.
Hintergrund
Die quantitative Erhebung bildet den ersten Teil einer umfassenden EKD-Studie zum Verhältnis von Religiosität und politischer Kultur. Die Untersuchung ist bislang einzigartig, denn bisherige Untersuchungen zur Beziehung zwischen Religion, Vorurteilen und politischer Kultur lieferten nicht nur widersprüchliche Ergebnisse, sondern reduzierten Religiosität oft auf eindimensionale Merkmale, zum Beispiel ob jemand Kirchenmitglied ist oder nicht. In dieser Studie wurde sie bewusst differenziert in ihren verschiedenen Dimensionen betrachtet.
Eine interdisziplinäre Studie zu Kirche und politischer Kultur
Gibt es auch in der Evangelischen Kirche Distanz zum gesellschaftlichen Grundkonsens zu Freiheit und Gleichheit aller Menschen oder Distanz zu demokratischen Werten? Um das herauszufinden, wurde von der EKD eine groß angelegte Studie gefördert, welche die Beziehungen zwischen Religiosität und politischer Kultur, im besonderen menschenfeindliche Weltansichten, ergründen soll. Die Studie erhebt Statistiken zu gruppenbezogenen Vorurteilen, analysiert Online-Kommunikation und betrachtet, wie Kirchengemeinden mit gesellschaftspolitischen Herausforderungen umgehen.
Anhänge zu Teilprojekt 1 und Teilprojekt 2 der Studie Zwischen Nächstenliebe und Abgrenzung
Evangelische Verlagsanstalt GmbH, 2022
ISBN 978-3-374-07141-8
Preis 29,00 Euro