Verbindlich leben
Kommunitäten und geistliche Gemeinschaften in der Evangelischen Kirche in Deutschland. Ein Votum des Rates der EKD zur Stärkung evangelischer Spiritualität, EKD-Texte 88, 2007
2. Der Dienst der Kommunitäten und geistlichen Gemeinschaften in der Kirche
a) Sein und Tun
Der erste Dienst von Kommunitäten und geistlichen Gemeinschaften in und an der Kirche ist das Sein und die darin gegebene Lebensgestalt, die einen Raum öffnet und geistliche Heimat gibt für andere Menschen. Das Sein ist allem Tun vorgeordnet. Das Sein in Christus steht vor dem Tun für Christus.
Christus in seiner verborgenen Gegenwart ist die Mitte. Im Hören auf das Evangelium und im Teilen der Sakramente feiern die Gemeinschaften seine Gegenwart. Dadurch werden sie zu Lebensräumen für Menschen, die Glaube, Leben und Denken als eine existenzielle Einheit erfahren wollen und Begleitung auf ihrem Weg der Suche nach Gott und dem Sinn ihres Lebens erbitten.
Schon das Dasein und das Miteinander-Sein von Kommunitäten und geistlichen Gemeinschaften hat Zeugnis-Charakter: Dass Gemeinschaft geschieht, ist ein Geschenk, aus dem das Dasein füreinander und für andere entspringt. So erweist sich das gemeinsame Leben als Alternative zu der heute zunehmenden Vereinsamung und Isolierung.
Kommunitäten und geistliche Gemeinschaften sind Glieder am weltweiten Leib Christi und gleichzeitig konkrete Verleiblichung von Kirche. Sie sind Lebenszellen innerhalb ihrer Kirchen im Horizont der einen, heiligen, katholischen (allgemeinen) und apostolischen Kirche.
b) Miteinander-Sein
Kommunitäten und geistliche Gemeinschaften entstehen als Antwort auf einen Ruf Christi in die verbindliche gemeinsame Nachfolge. Vorbilder dafür finden sich im Neuen Testament (Jüngergemeinschaft, Urgemeinde) sowie in der Geschichte aller Kirchen (Mönchtum, Orden, Pietismus, Herrnhuter Brüdergemeine, Diakonissen- und Diakonengemeinschaften usw.). Sie sind Lebensraum zur Erhaltung und Gestaltung der „Ersten Liebe“ (Offb 2,4).
Mitte des gemeinsamen Lebens ist das Evangelium und das Hören auf den Geist Gottes. Der Gottesdienst, die Gebetszeiten und die Betrachtung der Heiligen Schrift in unterschiedlichen persönlichen, gemeinschaftlichen, freien und liturgischen Formen prägen den Tagesrhythmus. Kommunitäten und geistliche Gemeinschaften sind – auch stellvertretend – Zellen der Anbetung, der Fürbitte, des immerwährenden Gebets.
Kommunitäten und geistliche Gemeinschaften sind Räume klarer Verbindlichkeiten, in denen sich öffentliche und private Nachfolge berühren und die geistliche Geschwisterschaft existenzielle Verwirklichung findet. Sie sind zugleich Räume des Wachstums, des Experimentierens, der Vielstimmigkeit, der Versöhnung, der Heilung und der Verbindlichkeit.
Im gegenseitigen Teilnehmen und Teilgeben entsteht ein tragfähiges Beziehungsgeflecht. Das gemeinsame Leben umfasst Alltag und Arbeit ebenso wie Fest und Feier. Auf dem Weg des konkreten Miteinanders gehören Freude und Gelingen genauso mit dazu wie Krisen, Schuldigwerden und Scheitern. Von der immer neuen gegenseitigen Annahme und Vergebung lebt die Gemeinschaft. Dass Menschen dennoch beieinander bleiben und Versöhnung in Christus erleben, hat zeichenhafte Wirkung. Jede Gemeinschaft lebt Einheit in Verschiedenheit. Dazu ist neben der Verbindlichkeit das gegenseitige Freigeben in Liebe notwendig.
Die Verbindlichkeiten der Gemeinschaften sind zumeist niedergelegt in einer Regel, einer Ordnung, einem Leitbild oder einer Satzung. Die evangelischen Räte (Armut, Keuschheit, Gehorsam) bestimmen in unterschiedlicher Art und Weise die Lebensgestalt der Kommunitäten und geistlichen Gemeinschaften. Sie haben Hinweisfunktion auf den gerechten Umgang mit Armen, auf klaren, liebenden Umgang miteinander und auf Autorität, die Leben fördert. So stellen sie kritisch das Diktat des Geldes, den Missbrauch des Körpers und der Gefühle des Menschen und die egoistische Form der zerstörerischen Machtausübung in Frage. Evangelische Räte weisen hin auf den armen, freien und gehorsamen Christus.
Die verbindliche Gemeinschaft erschließt offene Räume der Kreativität, der Persönlichkeitsgestaltung und -reifung. Verbindliches Miteinander ist nichts Statisches, sondern ein Leben im dynamischen Prozess der Erneuerung. Diese Offenheit drückt sich aus im Offensein für neue Mitglieder, in der gelebten Gastfreundschaft, im Anteilnehmen an den Fragen und Entwicklungen in Kirche und Gesellschaft.
Aus dem Sein wachsen Dienste in und an der Kirche. Alle Dienste werden auch von anderen Christen in der Kirche gestaltet und angeboten. Das Charakteristische der Kommunitäten und geistlichen Gemeinschaften ist, dass eine Gruppe diese Dienste trägt, die eine Verbindlichkeit im geistlichen Leben eingegangen ist. Die Gemeinschaft ist der hermeneutische Rahmen für das Tun.
c) Für-andere-Sein
Der erste Ausdruck des „Für-andere-Seins“ sind das Gebet und die Gottesdienste. Kommunitäten und geistliche Gemeinschaften sind Kulturräume zur Gestaltung von Festen, Ritualen und Lebensrhythmen am Tag, in der Woche und durch das Kirchenjahr. Die neuen Gebetsformen, die sich in Kommunitäten und geistlichen Gemeinschaften entwickeln, und die Wiederaufnahme mancher alter Traditionen sowie die Aufnahme von Erfahrungen aus anderen Bereichen der weltweiten Christenheit machen die Kommunitäten und geistlichen Gemeinschaften zu einem Reservoir an Gebetserfahrung, das den Gemeinden und der Kirche insgesamt neue Impulse geben kann. Sie schaffen dadurch einen Raum, in den Menschen eintreten und eine geistliche Heimat finden können. Weiter drückt sich das aus in der Diakonie des Gebetes: Fürbitte für Einzelne, für Kirche und Welt, im Angebot von Segnung und Heilungsgebet sowie kreativen Gottesdienstformen.
Kommunitäten und geistliche Gemeinschaften sind in der Regel offen für Seelsorge und geistliche Begleitung, um Menschen auf ihrem Weg im Glauben und im Leben zu helfen. Dies geschieht in Angeboten zum Mitleben, in Seminaren, Exerzitien, Stillewochen usw. Dazu gehört auch diakonische Lebenshilfe im engeren und weiteren Sinne, in persönlicher Beratung, kreativen Vollzügen und Bildungsarbeit. Hier öffnet sich ein Raum des Zuhörens und der persönlichen Aussprache. Kommunitäten und geistliche Gemeinschaften übernehmen eine je besondere Berufung bzw. Sendung. Sie entwickeln eine missionarische Dynamik, die sich vielfältig ausdrückt und in Gründung von neuen Zellen im In- und Ausland und innovativen Projekten konkret wird. Das Besondere dabei ist, dass diese Sendung aus dem gemeinschaftlichen Geschehen heraus wahrgenommen wird und eher „ganzheitlich“ geschehen kann. In einer weitgehend nachchristlichen Kultur und Gesellschaft geben Kommunitäten und geistliche Gemeinschaften Zeugnis für die Lebenskraft des Evangeliums und sind insofern ein prophetisches Zeichen für die lebendige Gegenwart Christi und seines Geistes. Sie sind wach für die Zeichen der Zeit und die Spuren des Handelns Gottes im Heute.
Kommunitäten orientieren sich am Evangelium und werden dadurch zu Orten der Auseinandersetzung im Ringen um eine Kultur des Lebens. Sie fördern eine positive Streitkultur, um den Werten des Evangeliums im offenen Diskurs mit gesellschaftlichen und politischen Gruppierungen Raum zu schaffen. Vielfach gehört diakonisches Handeln an Alten, Kindern, Randgruppen usw. sowie Arbeit für Frieden und Gerechtigkeit und verantwortungsvoller Umgang mit der Schöpfung zu den zentralen Aufgaben von Kommunitäten und geistlichen Gemeinschaften. Sie wissen sich beauftragt, die Diakonie, zu der die Kirche gerufen ist, beispielhaft zu verwirklichen. Damit bauen sie Brücken zwischen der Kirche und den auf vielfältige Hilfe angewiesenen Menschen unserer Gesellschaft. Schwestern- und Bruderschaften, die im Umfeld diakonischer Einrichtungen entstanden sind und ihre Ausrichtung auf die Praxis von dorther beziehen, leben im evangelischen Raum das benediktinische „ora et labora“ in der Spannung zwischen Ökonomie und Spiritualität. Sie arbeiten exemplarisch und nicht selten experimentell an der Einpassung unternehmerischer Strukturen in einen kirchlich geprägten Kontext und bemühen sich um Achtung ökologischer Werte im Umgang mit der Schöpfung.
Kommunitäten und geistliche Gemeinschaften leben im ökumenischen Horizont. Einige haben Mitglieder aus verschiedenen Konfessionen, die meisten sind vernetzt mit Gemeinschaften anderer Kirchen durch persönliche Kontakte, durch gemeinsame Initiativen, gegenseitige Beratung oder gleiche Wurzeln. Konfessionelle Unterschiede sind nicht überwunden, sie treten jedoch in den Hintergrund zugunsten der gemeinsamen und grenzüberschreitenden Orientierung an Christus. Das Gebet Jesu um das Eins-Sein seiner Jünger wird von ihnen als Auftrag zur gelebten Einheit verstanden und aufgenommen.
Kommunitäten und geistliche Gemeinschaften sind unvollkommen: sie sind auf die Barmherzigkeit Gottes sowie die Ergänzung und Korrektur durch andere Menschen angewiesen. Gemeinsam mit der ganzen Christenheit sind sie unterwegs als Hoffende und warten auf die Vollendung des Reiches Gottes. In ihrer konkreten Gestalt wollen sie dafür ein Zeichen sein.