Die Christen und Europa.
Die Christen und Europa.
Der Vizepräsident des EKD-Kirchenamtes zu Herausforderungen und Aufgaben für Christen im heutigen Europa, 1997
"In der heutigen Situation scheinen viele Zeichen darauf hinzuweisen, daß Europa seine einstige politische und kulturelle und glaubensmäßige Zentralstellung in der Welt verloren hat. Das braucht nicht das Ende der Welt zu sein, wohl aber scheint das Ende der Welt da zu sein, welche von unserem Europa her regiert und bestimmt war, das Ende der Glanzzeit des europäischen Menschen. Europa war einmal ..., begründet durch die Antike und das Christentum, eine große lebenskräftige leuchtende Einheit der Politik, der Kultur und des Glaubens ... Im Besitz dieses Erbes bekam Europa Weltbedeutung, durfte der europäische Mensch jahrhundertelang in der Vorstellung leben ..., daß Macht und Recht, Wissenschaft und Bildung, Religion und Sitte notwendig das seien, was wir in Europa so nennen ... Diese Vorstellung scheint heute ihre Kraft verloren zu haben ... Wo ist die europäische Initiative, die europäische Führung hingekommen? Wir sind ein Bereich geworden, über den heute entscheidend von außen bestimmt wird ...
Und nun gibt es inmitten dieses niedergehenden Europas christliche Kirchen mit der Aufgabe christlicher Verkündigung ... Wir werden eines ohne weiteres mit voller Klarheit sehen und feststellen müssen: daß die christliche Verkündigung sich heute nicht mehr darauf verlassen kann und darf, wie bisher umgeben und getragen zu sein von der Herrlichkeit und dem Pathos der Kultur und der Politik eines aufsteigenden und beherrschenden Europas... Die Kirche wird es wieder lernen müssen, ihrem Herrn wie Petrus nicht auf einem gebahnten, mit Stufen und schönem Geländer versehenen Pfad, sondern auf den Wellen entgegenzugehen. Sie muß es wieder lernen, über der Untiefe zu leben, wie sie es einst in ihren Anfängen mußte und getan hat. Sie muß es wieder lernen, ihren Auftrag dennoch auszurichten: allein in der Anziehungskraft ihres eigenen Anfangs und ihres eigenen Zieles... Die christliche Verkündigung im heutigen Europa muß also sein und wieder werden ein freies, ein unabhängiges Wort - unabhängig von allen herrschenden Winden, unabhängig von der Frage: Revolution oder Tradition? Optimismus oder Pessimismus? Westen oder Osten? Die christliche Verkündigung kann ein solches freies Wort darum sprechen, weil ihr Anfang und Ausgangspunkt Gottes freie Gnade ist ... Die christliche Verkündigung sei Verkündigung von diesem Anfang und Ausgangspunkt her. Sie rede von Gottes freier Gnade für das Volk der Sünder und Elenden, deren Gott dennoch gedacht hat und gedenken will; dann ist sie auch die rechte Verkündigung für das Europa der heutigen Zeit."
Die Sätze klingen aktuell. Dabei sind sie bereits vor fünfzig Jahren geschrieben worden. Der Autor ist Karl Barth ("Die christliche Verkündigung im heutigen Europa", Theologische Existenz heute, Neue Folge Nr. 1/1946, S. 11 ff).
Das Thema in diesem Beitrag greift weiter. Es soll nicht allein um Inhalt und Gestalt der christlichen Verkündigung im heutigen Europa gehen, sondern um die Herausforderungen und Aufgaben, die sich im heutigen Europa für Christen stellen. Zehn Fragen will ich dabei nachgehen:
- Um welches Europa soll es gehen?
- Welche rechtlichen und politischen Strukturen braucht Europa?
- Welche sozialen Standards werden in Europa gelten?
- Wie nimmt Europa seine globale Verantwortung wahr?
- Wie plural wird Europa sein?
- Wieviel Raum für regionale und lokale Besonderheiten wird es in Europa geben?
- Wie christlich soll Europa sein?
- Was sind die Chancen und die Gefährdungen von Christen und Kirchen bei der Gestaltung Europas?
- Welche Strukturen brauchen die Kirchen in Europa?
- Was haben die Christen Europa zu sagen?
1. Um welches Europa soll es gehen?
Auch schon in früheren Zeiten war es nicht unumstritten, wie Europa zu beschreiben und abzugrenzen sei. Auf jeden Fall fanden unterschiedliche Teile und Regionen Europas ein sehr unterschiedliches Interesse. Das ist heute nicht anders. Wenn ich, um ein Experiment zu machen, Bewohner der EU-Staaten bäte, die Länder Europas aufzuzählen, dann würden vermutlich überwiegend oder gar ausschließlich die Mitglieder der EU genannt werden. Die Schweiz ist ein Sonderfall. Aber wer würde Rumänien nennen? Oder die Ukraine? Oder - ein besonders kritischer Punkt - Rußland? Oder gar die Türkei? Es ist keineswegs so, daß das größere Europa nur ein blasser Gedanke wäre. Das größere Europa verfügt im Europarat und in der OSZE über politische Institutionen. Sie sind jedoch schwach. Auch gibt es gute Gründe, die Kräfte auf die Stärkung und Weiterentwicklung einer wirkungsvollen politischen Institution wie der EU zu konzentrieren. Denn immer deutlicher zeichnet sich ab, daß sich in der Welt, vor allem in Asien, neue Machtzentren herausbilden. Europa gerät hoffnungslos ins Hintertreffen, wenn es seine Ressourcen nicht bündelt. Aber man muß sich vor falschen Alternativen hüten. Beides ist nötig: der entschlossene Ausbau der EU zu einer handlungsfähigen und leistungsstarken politischen Größe und die Perspektive des größeren Europa.
Zwei Gründe sind es vor allem, die es erforderlich machen, über das EU-Europa hinaus das größere Europa im Blick zu behalten: Solidarität und eigenes Interesse. Die Verpflichtung der Christen auf Nächstenliebe und Gerechtigkeit gebietet es ihnen, sich der Not anderer Menschen anzunehmen. Deshalb kann ihnen die Situation etwa in den osteuropäischen oder den südosteuropäischen Ländern nicht gleichgültig sein. Solidarität darf gewiß nicht an den Grenzen Europas enden, die Hilfe für Osteuropa und Südosteuropa darf nicht auf Kosten der Länder etwa in Afrika oder Lateinamerika gehen, aber umgekehrt darf die globale Verantwortung nicht dazu führen, ausgerechnet die Not der Menschen vor der eigenen Haustür zu übersehen. Das würde im übrigen dem eigenen Interesse zuwider laufen. Wenn Länder in Afrika destabilisiert werden und im Bürgerkrieg versinken, dann ist das für die betroffenen Menschen schrecklich, bleibt für uns in Europa aber ziemlich folgenlos. Bei entsprechenden Konflikten vor unserer Haustür ist das anders. Allein aus eigenem Interesse müssen wir uns um den Balkan und um die Länder der ehemaligen Sowjetunion kümmern.
Solidarität ist nicht kostenlos. Deutschland hat in den vergangenen sechs Jahren erlebt, welche finanziellen Lasten mit der Integration der ehemaligen DDR verbunden sind. Die Widerstände gegen eine Erweiterung der EU um Polen, Tschechien und Ungarn kommen nicht von ungefähr. Die Kosten werden enorm sein. Aber, noch einmal, es wäre ethisch unvertretbar und politisch kurzsichtig, wenn sich das EU-Europa selbst genug wäre.
2. Welche rechtlichen und politischen Strukturen braucht Europa?
Grundlegend ist der Gedanke: Es gibt keine Stabilität und Dauerhaftigkeit ohne rechtliche und politische Strukturen. Ideen sind in der Weltgeschichte höchst wirkungsvoll gewesen, aber sie müssen sich letzten Endes in rechtlichen und politischen Strukturen materialisieren. Das ist im Falle Europas nicht anders.
Europa wird eine Größe von Fleisch und Blut nur werden, wenn es, in gewissen Grenzen, gemeinsame rechtliche Strukturen ausbildet und damit eine gesamteuropäische Rechtsgemeinschaft schafft. Das ist wichtig für die Sicherung des Friedens: Die Stärke des Rechts muß an die Stelle des Rechts des Stärkeren treten. Es ist ebenso wichtig für den Schutz der Umwelt, die Einhaltung bioethischer Standards oder den Gesundheitsschutz am Arbeitsplatz. Solange restriktive Bedingungen im einen Land durch die Verlagerung in ein anderes umgangen werden können, werden Fortschritte auf den genannten Gebieten fragil bleiben.
Von den bestehenden politischen Strukturen - der EU, dem Europarat und der OSZE - war bereits die Rede. Die EU nimmt schon jetzt gewisse staatliche Funktionen wahr. Es ist unerläßlich, daß die Bürger stärker als bisher an den Entscheidungsprozessen der EU, zum Beispiel durch die Stärkung des Europäischen Parlaments, teilnehmen können. Dem 1949 gegründeten Europarat gehören inzwischen 37 Staaten in Europa an. Seinen Bemühungen um den Schutz und die Weiterentwicklung der Menschenrechte sowie um die Sicherung eines Mindeststandards von wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechten kommt entscheidende Bedeutung für die weitere Entwicklung Europas zu. Die OSZE ist gegenwärtig noch ein lockeres Bündnis von Staaten, sie kann jedoch als Handlungsmodell künftig mehr Bedeutung gewinnen. Die schwere Krise im ehemaligen Jugoslawien hat die Staaten Europas mit der schmerzlichen Tatsache konfrontiert, daß sie aus eigenen Kräften nicht fähig waren, die erforderlichen robusten friedensbewahrenden Maßnahmen zu treffen. Ohne die USA wäre die gegenwärtige IFOR-Mission nicht realisierbar. Die Staaten Europas müssen sich klar werden, ob sie in dieser Abhängigkeit von Entscheidungsprozessen in den USA verharren wollen.
Der Ausbau der rechtlichen und politischen Strukturen Europas wird dadurch gehemmt, daß viele Menschen Angst haben vor dem Verlust nationaler Identität und vor einer multikulturellen Gesellschaft, die das Selbstbestimmungsrecht der Völker untergräbt. Diese Gefühle müssen ernstgenommen werden. Föderale Modelle sind am besten geeignet, die Identität der verschiedenen Regionen und Völker zu wahren. Aber klar ist auch: Die Zeit der uneingeschränkten nationalstaatlichen Souveränität ist vorbei. Ohne die Bereitschaft zum partiellen Souveränitätsverzicht gibt es keine neue internationale Ordnung.
3. Welche sozialen Standards werden in Europa gelten?
Die EU hat im Laufe der Zeit deutliche Fortschritte auf dem sozialpolitischen und sozialkulturellen Feld erzielt. Das läßt sich ablesen zum Beispiel an Verbesserungen des Arbeitsschutzes und der Stellung der Frau im Arbeitsleben, an den zahlreichen Förderprogrammen für Armutsgebiete wie dem Europäischen Sozialfonds, dem Regionalfonds und dem Kohäsionsfonds, an der 1989 von den Mitgliedsstaaten mit Ausnahme des Vereinigten Königreichs angenommenen Gemeinschaftscharta der sozialen Grundrechte der Arbeitnehmer ("Europäische Sozialcharta") und an dem 1992 beschlossenen Abkommen über die Sozialpolitik. Von erheblichem Einfluß ist die fortschrittliche soziale Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs.
Die Probleme dürfen jedoch nicht übersehen werden. Die hohe Arbeitslosigkeit selbst in den wohlhabendsten Ländern Europas, zunehmende Armut und Obdachlosigkeit, die mehr und mehr auf den Straßen der europäischen Städte sichtbar werden, die weiterhin spürbare Ausgrenzung von Menschen in besonders belasteten Lebenssituationen und von Fremden, die großen Wohlstandsunterschiede in Europa und innerhalb der Länder Europas - all das verweist auf die bisher ungelöste Aufgabe der Verwirklichung einer wirklichen solidarischen Gemeinschaft. Soziale Konfliktstoffe bedrohen das Miteinander und die schon erreichten Fortschritte. Der Zorn und die Trauer der vielen Verdrossenen, die sich selbst benachteiligt wissen, sind eine Belastung für Europas Zukunft. Die wirtschaftliche Integration schreitet schneller voran als die soziale. Die Globalisierung der Märkte verstärkt den Wettbewerb und hat problematische Begleiterscheinungen wie "Sozialdumping" und Spaltung des Arbeitsmarktes (z.B. Auslagerung von Produktionsstätten in Niedriglohngebiete, Absenkung des eigenen Lohnniveaus unter Hinweis auf Länder mit Niedriglöhnen, ausländische Konkurrenzunternehmen im eigenen Land mit Niedriglohn-Arbeitnehmern). Die Zusammenarbeit der Interessenvertretungen der Arbeitnehmer in Europa ist bei weitem nicht so gut ausgebaut wie die Kooperation auf Unternehmerseite. Die EU hat in wirtschaftspolitischen Fragen eine hohe Handlungskompetenz. Im Gegensatz dazu liegt die sozialpolitische Verantwortung überwiegend bei den Mitgliedsstaaten. Von den sozialpolitischen Möglichkeiten, die der Vertrag von Maastricht bietet, macht die EU nur zögerlich Gebrauch. Die sozialen Standards in den Mitgliedsstaaten der EU stehen seit einigen Jahren deutlich unter Anpassungsdruck. Die Unternehmen in den einzelnen Ländern mahnen gleiche Wettbewerbsbedingungen gegenüber ihren Mitbewerbern in den Nachbarländern an und drängen darauf, Besonderheiten, etwa beim Schutz des Sonntags, den Ladenschlußzeiten oder der Lohnfortzahlung im Krankheitsfall, abzubauen. Eine wirklich gemeinsame europäische Sozialpolitik ist noch nicht erreicht. Die sozialen Sicherungssysteme in den einzelnen Ländern sind zu unterschiedlich. So bedarf es erheblicher Anstrengungen, damit sich Europa nicht nur wirtschaftlich und monetär, sondern vor allem auch sozial weiterentwickelt.
Die Aufgabe wird noch gewaltiger, wenn man den Blick über die EU hinaus richtet. Beim Streben nach sozialer Gerechtigkeit darf aber die gesamteuropäische Perspektive nicht fehlen - ebensowenig wie der Gedanke der Mitverantwortung Europas für die Entwicklungen in der übrigen Welt.
4. Wie nimmt Europa seine globale Verantwortung wahr?
Europa oder die EU haben eine Mitverantwortung für die Entwicklungen in der übrigen Welt. Sie können sich nicht als "geschlossene Gesellschaft" verstehen oder zu einer "Festung" ausbauen. Die Gründe sind dieselben, die im Verhältnis zwischen der EU und dem größeren Europa geltend zu machen waren: Es ist ein Gebot der Solidarität, sich auch um die Not des fernen Nächsten zu kümmern, und es ist eine Forderung des eigenen Interesses, diese Not zu überwinden.
Nirgends wird dies deutlicher als im Blick auf die globalen Migrations- und Fluchtbewegungen. Die Zahl der Menschen, die aus Furcht vor Verfolgung, Gewalt und materieller Not ihre Heimat verlassen haben, ist weltweit auf über 27 Millionen gestiegen. Von der Weltbevölkerung befindet sich nahezu jeder 100. Mensch auf der Flucht. Jeder zweite Flüchtling ist heute jünger als 18 Jahre. Es ist ein elementares Gebot der Mitmenschlichkeit, sein Herz für diese Menschen zu öffnen. Darum hat der Schutz von politisch Verfolgten auch seinen Niederschlag in den Menschenrechtskonventionen gefunden. Für Christen gibt es besondere Motive, empfindsam zu sein gegenüber dem Schicksal von Flüchtlingen. Die Bibel erzählt viele Geschichten von Menschen auf der Flucht. Jesus selbst mußte mit seinen Eltern vor der Verfolgung des Herodes fliehen. Viele Jesusgeschichten in den Evangelien sind ein Zeugnis von der Kraft des Erbarmens: Wenn Jesus Menschen in Not sieht, dann - so heißt es regelmäßig - erfaßte ihn das Mitleid mit ihnen, und er erbarmte sich ihrer. Erbarmen ist für Christen das entscheidende Motiv in der Zuwendung zu Menschen in Not. Dabei darf Erbarmen nicht mit einem flüchtigen und beliebigen Gefühl verwechselt werden. Zu den bedeutsamsten Errungenschaften der Menschheitsgeschichte gehört es, daß im sozialen Rechtsstaat Erbarmen zur Grundlage von rechtlichen Normen und Ansprüchen geworden ist. Menschen in Not - und so auch Menschen auf der Flucht - bleiben nicht länger darauf angewiesen, daß sie zufällig Menschen begegnen, die ein empfindsames Herz haben. Solidarität ist in den Menschenrechten und in der Gesetzgebung verankert. Freilich - es gibt immer wieder viel Verweigerung gegenüber dem Gebot der Solidarität. Darum hat es eine so hohe Bedeutung, wenn die Überwindung der Not von Flüchtlingen und Asylsuchenden nicht allein von Nächstenliebe und Erbarmen, sondern ebensosehr vom Eigeninteresse her motiviert wird. Eigeninteresse ist ein starker Motor für das Handeln der Menschen. Den Bürgern der europäischen Staaten muß deutlich vor Augen gestellt werden, daß die Migrations- und Fluchtbewegungen nicht auf einem anderen Stern geschehen, sondern auf der einen Welt, deren Teil auch sie selbst sind. Keine Region der Welt ist in der Lage, sich von anderen völlig abzuschirmen. Man kann, ja man muß die Zuwanderung von Flüchtlingen und Asylsuchen steuern und begrenzen. Denn eine unbegrenzte Zuwanderung kann auch von einem wohlhabenden Land auf Dauer nicht verkraftet werden. Der soziale Friede würde gefährdet, und die Feindseligkeit gegenüber Flüchtlingen und Asylsuchenden würde gefördert. Deutschland hat in den vergangenen Jahren entsprechende Erfahrungen gemacht. Aber steuern und begrenzen ist das eine, unterbinden und abschneiden ist das andere, und kein Land der Welt vermag seine Grenzen so dicht zu machen, daß die Ströme der Flüchtlinge und Asylsuchenden nicht eindringen können. Was wir in Europa brauchen, ist zweierlei: eine politische Anstrengung zur Verteilung der Lasten, die mit der Aufnahme von Flüchtlingen und Asylsuchenden verbunden sind, und eine entschlossene Kooperation zur Bekämpfung der Fluchtursachen. Wer heute versäumt, die Fluchtursachen zu bekämpfen und im Maße des Möglichen zu überwinden, wird morgen vor noch stärkeren Wanderungsströmen stehen und entweder zu Maßnahmen greifen müssen, die mit den eigenen moralischen Vorstellungen und rechtlichen Normen in Spannung stehen, oder soziale Konflikte im eigenen Land riskieren, die den inneren Frieden gefährden.
Der Umgang mit den Migrations- und Fluchtbewegungen ist, wohlbemerkt, nur ein Beispiel in der Frage, wie Europa seine globale Verantwortung wahrnimmt. Im Rahmen dieser Frage geht auch um die Ordnung der wirtschaftlichen Beziehungen zwischen den verschiedenen Regionen der Welt, um Recht und Grenze protektionistischer Maßnahmen oder um die Etablierung und Durchsetzung der Menschenrechte, um nur einige Beispiele zu nennen.
5. Wie plural wird Europa sein?
Europa war einmal das Heilige Römische Reich deutscher Nation, ein Gebilde von relativ großer kultureller Geschlossenheit. Statt der einen christlichen Kirche haben wir es heute mit einer Vielzahl von christlichen Konfessionen und Denominationen zu tun, neben die christlichen Kirchen sind in wachsendem Maße andere Religionen getreten, und immer größer wird die Zahl derer, die der Religion entfremdet sind und unterschiedlichen Positionen und Weltanschauungen folgen. In manchen christlichen Kreisen wird die Entwicklung zu einem pluralistischen Europa bedauert. Dort ist die Sehnsucht wach nach einer Erneuerung eines vom Christentum einheitlich geprägten Europa. Solche Beschwörungen des "christliche Abendlandes" haben Tradition. "Es waren schöne Zeiten, wo Europa ein christliches Land war, wo eine Christenheit diesen menschlich gestalteten Weltteil bewohnte" - so lautet der erste Satz aus einer berühmten Schrift des deutschen Romantikers Novalis, der er den programmatischen Titel "Die Christenheit oder Europa" gab. "Es wird solange Blut über Europa strömen", wagte er zu prophezeien, solange die Christenheit nicht "wieder lebendig und wirksam" wird. "Nur die Religion kann Europa wieder aufwecken und die Völker sichern ... Die anderen Weltteile warten auf Europas Versöhnung und Auferstehung, um sich anzuschließen und Mitbürger des Himmelreichs zu werden." Der christliche Glaube jedoch ermahnt zu einer evangelischen Nüchternheit, die ihre Hoffnung nicht auf irgendeine zu restaurierende Vergangenheit, sondern allein auf die uns zuvorkommende Gnade Gottes setzt. Ein von der Gnade geleiteter Aufbruch wird sich auf keinen Fall als bloße Rückkehr vollziehen, geleitet vom Heimweh nach dem, was einmal gewesen ist. Das Ziel der Umkehr liegt vor uns, nicht hinter uns.
Europa wird das pluralistische Europa bleiben, zu dem es sich in den vergangenen Jahrhunderten entwickelt hat. Christen brauchen diese Entwicklung nicht als eine Tatsache anzusehen, die leider irreversibel und allein deswegen hinzunehmen sei. Sie können sie vielmehr bejahen. Denn Pluralismus steht nicht im Gegensatz zur christlichen Sicht der Welt, sondern muß geradezu als ein Ausdruck des schöpferischen Wirkens des Geistes Gottes verstanden werden. Pluralismus befreit: Er sprengt die geschlossene Welt auf, in der Menschen festgelegt sind auf eine einzige oder jedenfalls eine begrenzte Zahl von Möglichkeiten des Denkens und Handelns. Pluralismus bereichert: Er deckt die Vielfalt menschlicher Chancen und Entwicklungswege auf. Und Pluralismus schafft Voraussetzungen, unter denen die Zugehörigkeit zur christlichen Kirche wieder eine wirkliche Entscheidung des Glaubens ist: Solange Menschen in einer kulturell einheitlich geprägten Welt leben und in ihr Mitglieder der christlichen Kirche und Anhänger des christlichen Glaubens sind, handelt es sich gar nicht notwendig um eine Entscheidung des Glaubens. Das Christentum ist in den ersten Jahrzehnten und Jahrhunderten in einer pluralistischen Umgebung entstanden und gewachsen. Antiochien, Korinth, Athen oder Rom waren Orte lebhaftester Konkurrenz der Lebensstile und Weltanschauungen. Darum brauchen sich Christen vor einer pluralistischen Situation keineswegs zu fürchten. Es kommt darauf an, ihre Vorzüge und Chancen zu nutzen.
6. Wieviel Raum für regionale und lokale Besonderheiten wird es in Europa geben?
Für die weitere Entwicklung Europas wird es von größter Bedeutung sein, ob es gelingt, die Balance zwischen dem Ausbau einheitlicher Strukturen und der Bewahrung regionaler und lokaler Besonderheiten zu finden. Mehr Einheitlichkeit im Bereich der Außen-, der Wirtschafts- oder der Sozialpolitik zu gewinnen ist eine Notwendigkeit. Aber Vereinheitlichung ist kein Wert in sich. Das Leben der Menschen und der menschlichen Gemeinschaften leidet unter einem Übermaß an Vereinheitlichung. Viele Menschen fürchten die Uniformierung. Mit Recht wollen sie regionale und lokale Besonderheiten erhalten. Vor vielen Jahren, als das Zusammenwachsen Europas noch in den Anfängen steckte, sagte ein englischer Freund in einem Gespräch: "Du wirst sehen, eines Tages werden sie sogar ein Euro-Brot einführen." Euro-Brot war für ihn der Inbegriff einer unnötigen, schmerzhaften, verarmenden Uniformierung. Die europäische Politik tut gut daran, sich an die Maxime zu halten: so viel Vereinheitlichung wie nötig, so viel Bewahrung regionaler und lokaler Besonderheiten wie möglich.
In der EU wird der Ausgleich zwischen der Bewahrung der regionalen und lokalen Besonderheiten und der Schaffung einheitlicher Strukturen gegenwärtig vor allem mit dem Prinzip der Subsidiarität gesucht. Dieses Prinzip hat Wurzeln auch in christlicher Tradition und ist eine Richtschnur für das Verhältnis von eigenverantwortlichem Handeln zu gesellschaftlicher und staatlicher Organisation. Eine höhere Institution darf nicht tätig werden, soweit eine niedrigere Einheit ihre Ziele zufriedenstellend erreichen kann. Eine höhere Institution hat die Verpflichtung zu handeln, soweit eine niedrigere Einheit ihre Ziele allein nicht erreichen kann. Dabei soll dieses Handeln vorrangig auch der Stärkung der schwächeren Einheit dienen. Der 1992 in Maastricht unterzeichnete Vertrag strebt an, daß "die Entscheidungen möglichst bürgernah getroffen werden", und regelt, daß die EU "die nationale Identität ihrer Mitgliedsstaaten" achtet. Der Vertrag zur Gründung der EU in der Fassung vom 7. Februar 1992 bestimmt darüber hinaus: "In den Bereichen, die nicht in ihre ausschließliche Zuständigkeit fallen, wird die Gemeinschaft nach dem Subsidiaritätsprinzip nur tätig, sofern und soweit die Ziele der in Betracht gezogenen Maßnahmen auf der Ebene der Mitgliedsstaaten nicht ausreichend erreicht und daher wegen ihres Umfangs und ihrer Wirkungen besser auf Gemeinschaftsebene verwirklicht werden können."
Die Achtung regionaler und lokaler Besonderheiten hat im übrigen auch eine friedenspolitische Seite. Gerade der Konflikt im ehemaligen Jugoslawien hat gezeigt, wieviel vom Ausgleich unterschiedlicher religiöser und kultureller Prägungen abhängt. Föderale Strukturen sind viel besser als zentralistische Systeme geeignet, den inneren Frieden eines Staates zu erhalten. In einer Reihe von Krisenherden Europas werden innovative Prozesse zur Bildung von Rechtsformen benötigt, die föderale Selbstbestimmungsrechte einräumen und unterhalb der Schwelle staatlicher Souveränität Autonomie gewährleisten.
7. Wie christlich soll Europa sein?
Vom Pluralismus in Europa und seiner Bejahung war bereits die Rede. Europa ist - und soll bleiben - ein Kontinent, in dem Angehörige christlicher Kirchen, Anhänger anderer Religionen und Menschen ohne religiöse Überzeugung nebeneinander, miteinander und in gegenseitiger Bereicherung leben. Die Bejahung des Pluralismus hat ihre Entsprechung in der Bejahung der Säkularisierung. Säkularisierung ist auf der Ebene der Kultur kein Gegenbegriff zum Christentum. Viele Errungenschaften des modernen Rechtsstaates sind säkularisierte Schätze der Kirche: die Hochschätzung der Freiheit des Gewissens, die Behauptung der Unverletzlichkeit der Würde der Person, die Selbstverpflichtung zum Schutz auch des beschädigten Menschenlebens, die allgemeine Schulpflicht und anderes mehr.
Die Bejahung von Pluralismus und Säkularisierung darf aber nicht verwechselt werden mit einer Gleichgültigkeit gegenüber der kulturellen und geistigen Prägung Europas. Nicht wenige Christen empfinden die Frage, wie christlich Europa sein solle, als völlig verfehlt. Sie sehen darin einen Rückfall in die Vorstellungen vom "christlichen Abendland". Darum geht es nicht. Es geht vielmehr um die Frage, welche Tradition für die europäische Kultur, etwa für das politische System, die Rechtsnormen, die Sozialordnung oder das Verhältnis von Männern und Frauen, prägend bleibt oder wird. Pluralismus bedeutet keineswegs, daß alles in gleicher Weise gültig und darum gleichgültig wird. Vielmehr lebt der Pluralismus selbst davon, daß Traditionen bestimmend sind, die den Pluralismus und die ihn tragende Toleranz wollen und ermöglichen. Der frühere Präsident der Europäischen Kommission, Jacques Delors, hat es so formuliert: "Europa muß eine Seele haben." Es ist eine falsch verstandene Großzügigkeit und Liberalität, wenn Christen meinen, alle Traditionen sollten in gleicher Weise kulturell prägend sein. Christen sollten vielmehr dafür eintreten, daß die europäische Kultur weiterhin vom Geist des Christentums, also zum Beispiel von der Achtung vor der Würde jedes einzelnen Menschen, vom Respekt vor der Gewissensentscheidung, von Nächstenliebe und Erbarmen, von der Suche nach sozialer Gerechtigkeit, geprägt bleibt. Ein politisches Gemeinwesen lebt kulturell von Voraussetzungen, die es durch politische und rechtliche Strukturen selbst nicht schaffen kann.
Das Stichwort von der multikulturellen Gesellschaft betrifft dasselbe Problem. Es ist unstrittig, daß in Europa und in allen einzelnen Ländern Europas heute viele Kulturen nebeneinander und miteinander leben und daß alles getan werden muß, um die Achtung voreinander zu fördern und den Blick für den Reichtum anderer Kulturen zu fördern. Der Gedanke der multikulturellen Gesellschaft darf aber nicht zu dem Fehlschluß führen, das Eintreten für das Vorherrschen einer bestimmten kulturellen Prägung sei ein verabscheuungswürdiger Kulturimperialismus. Es gibt Alternativen, die nicht einfach schiedlich-friedlich nebeneinanderstehen können, sondern zwischen denen eine Wahl getroffen werden muß.
8. Was sind die Chancen und die Gefährdungen von Christen und Kirchen bei der Gestaltung Europas?
Die Kirche ist ihrem Wesen nach supranational. Sie ist eine weltumspannende, die Grenzen der Völker übergreifende Gemeinschaft. Keine andere Bewegung verfügt auf der Ebene der Ideen und der äußeren Strukturen über so günstige Voraussetzungen, nationale Enge zu überwinden und das Denken in größeren Zusammenhänge zu fördern. Ihr Glaube selbst bewegt die Christen, Verantwortung für die Gemeinschaft der Menschen über nationale Grenzen hinweg zu übernehmen.
Wir wissen allerdings auch, daß Christen und Kirchen in der Vergangenheit wie in der Gegenwart hinter diesen ihren Möglichkeiten zurückgeblieben sind, ja ihren Auftrag verraten haben. Manche Kirchen sind eine derart enge Symbiose mit ihrem Volk eingegangen, daß sie selbst einen engen nationalistischen Blickwinkel eingenommen und die Gemeinschaft mit den Schwestern und Brüdern am weltweiten Leib Christi aufgegeben haben. Jede Kirche hat zwar ihren Ort im Leben ihres Volkes, wie jeder Christ seine eigene Identität gleichzeitig als Glied seiner Kirche und als Angehöriger seines Volkes gewinnt. Die Bindung an das Evangelium schließt aber zugleich die Aufgabe mit ein, über die Grenzen des eigenen Landes hinweg die Gemeinschaft mit anderen Kirchen zu suchen und zu pflegen und den Gefahren von Provinzialismus und Nationalismus entgegenzutreten.
In dieser Hinsicht sind in Europa insbesondere die Gespräche mit den orthodoxen Ostkirchen wichtig. In Osteuropa lebten sie weithin als Nationalkirchen, die die Kultur ihrer Länder stark geprägt haben und von ihr geprägt wurden. In den Jahren kommunistischer Unterdrückung war das offene, kritische Gespräch kaum möglich. Jetzt haben viele dieser Kirchen wieder freie Entfaltungsmöglichkeiten. Sie benötigen dringend unsere Solidarität und Hilfe, die auch darin besteht, einige brennende und in der Vergangenheit häufig übergangene Themen freimütig anzusprechen. Dazu gehört das Verhältnis von Kirche und Nation, aber auch der vermeintliche Proselytismus, nämlich die Abwerbung von Mitgliedern anderer christlicher Kirchen. Besitzansprüche auf angestammte konfessionelle Gebiete sollte es nicht mehr geben. Die Religionsfreiheit erlaubt es unterschiedlichen Konfessionen und Religionen, sich mit ihrer Botschaft an die Menschen zu wenden. Für christliche Kirchen muß allerdings gelten, aufeinander Rücksicht zu nehmen, Mission als gemeinsame Aufgabe anzustreben und sich an ökumenische Absprachen zu halten.
9. Welche Strukturen brauchen die Kirchen in Europa?
Die Kirchen verfügen in Europa durchaus über gemeinsame Strukturen und Organisationen. Dazu zählen im nichtkatholischen Bereich insbesondere die Konferenz Europäischer Kirchen, die Leuenberger Kirchengemeinschaft, die Europäische Ökumenische Kommission für Kirche und Gesellschaft und vielfältige Netzwerke gegenseitiger Hilfe.
Alle vorhandenen Strukturen und Organisationen können aber nicht darüber hinwegtäuschen, daß die Kirchen im Blick auf die Handlungsmöglichkeiten, über die sie verfügen, weit hinter Politik und Wirtschaft zurückhängen. Was im politischen Bereich als Souveränitätsverzicht der Staaten diskutiert wird, steht im kirchlichen Raum auch nicht andeutungsweise zur Debatte. Wer vergleicht, welche finanziellen Mittel die Kirchen in ihrem eigenen Bereich ausgeben, und welche finanziellen Mittel an die gemeinsamen Strukturen und Organisationen in Europa gehen, wird ein eklatantes Mißverhältnis erkennen. Ohne Zweifel muß die Kirche vor Ort der Schwerpunkt des kirchlichen Handelns und des Einsatzes finanzieller Mittel bleiben. Aber es ist auch deutlich, daß, wenn sich die politischen und wirtschaftlichen Strukturen ändern, die Kirchen im Blick auf ihre Arbeit nicht in den Strukturen der Vergangenheit verharren dürfen. Angesichts geringer werdender finanzieller Ressourcen in allen europäischen Kirchen und gleichzeitig steigender gemeinsamer Verantwortung auf europäischer Ebene müssen im Gespräch der Kirchen Lösungsmöglichkeiten gesucht und gefunden werden.
10. Was haben die Christen Europa zu sagen?
Karl Barth hatte vor fünfzig Jahren formuliert: Die christliche Verkündigung im heutigen Europa muß "sein und wieder werden ein freies, ein unabhängiges Wort - unabhängig von allen herrschenden Winden ... Die christliche Verkündigung kann ein solches freies Wort darum sprechen, weil ihr Anfang und Ausgangspunkt Gottes freie Gnade ist."
In seinem Vortrag bei der Europäischen Evangelischen Versammlung im März 1992 in Budapest hat einer der führenden deutschen Theologen der Gegenwart, Eberhard Jüngel, in seinem Vortrag "Das Evangelium und die evangelischen Kirchen Europas" diese Sätze seines Lehrers Karl Barth aufgenommen und die Linien ausgezogen. In vier Punkten führt er aus, was Christen heute Europa zu sagen haben, und mit diesen vier Punkten will ich schließen:
- Das Evangelium von der Rechtfertigung des Gottlosen befreit von der Lebenslüge, sich selbst produzieren zu müssen. Die penetranteste unter allen Lebenslügen ist die Selbsttäuschung, der Mensch sei nichts anderes als die Summe seiner Taten. Aber wo Leistung zum Sinn des Lebens zu werden droht, verliert das Leben seinen Sinn. Das Evangelium spricht jedem Menschen die Würde einer von Gott definitiv anerkannten Person zu, und das ist eine Würde, die durch keine menschliche Tat überboten und durch keine menschliche Untat zerstört werden kann.
- Das Evangelium befreit von der Lebenslüge, sich selbst erneuern zu können. Wer als Mensch den neuen Menschen schaffen will, muß den Menschen total in Anspruch nehmen und total dirigieren. Das ist der Ursprung der totalitären Systeme des 20. Jahrhunderts. Ist aber der, dem ich glaube, Gott selbst, dann bedeutet die schlechthinnige Abhängigkeit von ihm, daß ich wie Gott selbst ein freier Herr über alle Dinge werde. So wachsen Abhängigkeit von Gott und menschliche Freiheit in gleichem Maße.
- Aus dem Evangelium kommt eine Wahrheitsliebe mit politischen Folgen. Das Evangelium macht frei, der Wahrheit die Ehre zu geben, daß Gott allein anzubeten, im Staat hingegen nichts und niemand anzubeten ist.
- Das Evangelium führt zur Gewissensbildung, nicht zu moralischer Schuldfixierung. Die Kirche unterscheidet sich von allen Moralisten, die immer nur anklagen und den Angeklagten auf seine Schuld fixieren, dadurch, daß sie eine befreiende Wahrheit verkündet.