Evangelische Perspektiven für ein legislatives Schutzkonzept bei der Regulierung der Suizidassistenz

Stellungnahme zu einer Anfrage des Bundesgesundheitsministers zur Regulierung der Suizidassistenz im Anschluss an das Urteil des Bundesverfassungsgerichts zu § 217 StGB

Der Bundesgesundheitsminister hat mit Schreiben vom 15. April 2020 die beiden großen Kirchen, andere Institutionen und Organisationen sowie Einzelpersonen um ihre „Vorstellungen und Vorschläge zu wesentlichen Eckpunkten einer möglichen Neuregelung der Suizidassistenz“ gebeten. Er verweist dabei ausdrücklich auf den engen Rahmen, den das BVerfG dem Gesetzgeber in seinem Urteil vom 26. Februar 2020 gelassen hat. Denn das Urteil stellt fest, dass „jede regulatorische Einschränkung der assistierten Selbsttötung sicherstellen [muss], dass sie dem verfassungsrechtlich geschützten Recht des Einzelnen, aufgrund freier Entscheidung mit der Unterstützung Dritter aus dem Leben zu scheiden, auch faktisch hinreichenden Raum zur Entfaltung und Umsetzung belässt.“ (Rn 341) Damit hat das BVerfG das Selbstbestimmungsrecht des Einzelnen den kollektiven Rechten auf Schutz des Lebens vorgeordnet und es zum Maßstab jeglicher legislativen Regelungen gemacht.

 

Für die Evangelische Kirche in Deutschland ergibt sich das Selbstbestimmungsrecht aus dem Glauben, dass Gott jeden Menschen einzigartig geschaffen und mit einer unverlierbaren Würde ausgestattet hat. Das evangelische Verständnis zeichnet die Selbstbestimmung aber in die Beziehungen ein, in denen der Mensch steht: zu Gott, der ihn ins Leben gerufen hat, und zu den Mitmenschen, in deren Gemeinschaft er sein Leben führt. Beide Beziehungen ermöglichen und begrenzen die Freiheit des eigenen Lebens. Daraus ergeben sich die Leitlinien für den Umgang mit dem Suizid: Das Gebot, menschliches Leben, fremdes und das eigene, zu schützen, gilt umfassend. Gleichzeitig gehört es nach Überzeugung der Evangelischen Kirche in Deutschland zum christlichen Glauben, darauf zu vertrauen, dass Gott sich auch dessen annimmt, der an seinem eigenen Leben und an seinem Glauben verzweifelt und für sich nur noch die Möglichkeit sieht, sein Leben zu beenden. Die Gewissensentscheidung des Einzelnen angesichts äußerster Not ist menschlicher Beurteilung entzogen und verdient Mitgefühl und Respekt. Auch der Mensch, der so entscheidet, steht nach christlicher Überzeugung unter der Verheißung der Erlösung durch den gekreuzigten und auferstandenen Herrn. Die Gewissens­entscheidung des Einzelnen bleibt gleichwohl ein Grenzfall. Die Not und das Leid anderer, die zu solch einer Entscheidung führen, können Christinnen und Christen nicht kalt lassen. Sie müssen sich immer fragen lassen, ob sie sich genügend dafür eingesetzt haben, durch konkrete Unterstützung ihren Mitmenschen die Hoffnung vermittelt zu haben, die der Glaube verheißt.  Deshalb treten die Kirchen – z.B. durch die Bereitstellung palliativer Versorgung, Seelsorge, Beratung und die Arbeit der Hospize – dafür ein, alles dem Menschen Mögliche zu tun, dass der Grenzfall vermieden werden kann, bei dem aufgrund von Erkrankung oder einer anderen Notsituation vermeintlich  kein anderer Ausweg als die Selbsttötung bleibt. Aus diesem Grund setzen sich die Kirchen entschieden dafür ein, kein gesellschaftliches Klima entstehen zu lassen, in dem der Suizid als eine normale Weise, das Leben zu beenden, empfunden wird.

 

Auch wenn alles daran zu setzen ist, auch in den schwierigsten Lebenssituationen ein würdiges Leben möglich zu machen, so dürfen Menschen bei Grenzfällen, in denen sie nach sorgfältiger Überlegung für sich keinen anderen Ausweg als die Selbsttötung sehen, nicht allein gelassen werden. Dabei kommt der Ärzteschaft eine besondere Verantwortung zu. Wer Menschen nicht auf der Basis geschäftsmäßiger Sterbehilfe, sondern aus einer konkreten Gewissensentscheidung heraus in einer solchen Lebenssituation begleitet und dabei die rechtlich vorgegebenen prozeduralen Schritte einhält, muss sich darauf verlassen können, dafür nicht straf- oder berufsrechtlich belangt zu werden. Mit dem BVerfG betonen wir aber auch, dass es keine Verpflichtung auf eine Beihilfe zum Suizid geben kann, weder rechtlicher noch moralischer Art.

 

Organisierte Sterbehilfe hingegen birgt in den Augen der Kirchen die Gefahr, dass es zu einer Verschiebung hin zu einer Normalisierung des Suizids kommt. Auch das BVerfG würdigt die Gefahren, die aus einer solchen gesellschaftlichen Entwicklung entstehen können, ausdrücklich: „Auch die Einschätzung des Gesetzgebers, dass geschäftsmäßige Suizidhilfe zu einer ‚gesellschaftlichen Normalisierung‘ der Suizidhilfe führen und sich der assistierte Suizid als normale Form der Lebensbeendigung insbesondere für alte und kranke Menschen etablieren könnte, die geeignet sei, autonomiegefährdende soziale Pressionen auszuüben, ist nachvollziehbar“ (Rn 250). Das BVerfG räumt des Weiteren sogar ein: „Die Anerkennung des Rechts auf selbstbestimmtes Sterben versagt dem Gesetzgeber nicht, allgemeine Suizidprävention zu betreiben und insbesondere krankheitsbedingten Selbsttötungswünschen durch den Ausbau und die Stärkung palliativmedizinischer Behandlungsangebote entgegenzuwirken. Der Staat genügt seiner Schutzpflicht für ein Leben in Autonomie gerade nicht allein dadurch, dass er Angriffe unterbindet, die diesem von anderen Menschen drohen. Er muss auch denjenigen Gefahren für die Autonomie und das Leben entgegentreten, die in den gegenwärtigen und absehbaren realen Lebensverhältnissen begründet liegen und eine Entscheidung des Einzelnen für die Selbsttötung und gegen das Leben beeinflussen können (vgl. BVerfG 88, 203 <258> für das ungeborene Leben).“ (Rn 276) Allerdings bewertet das BVerfG in diesem Urteil die Selbstbestimmung des Einzelnen so hoch, dass diese allgemeinen Schutzpflichten des Staates in seiner weiteren Gedankenführung in der Urteilsbegründung und in seinen Vorgaben für den Rahmen des Gesetzgebers zu einer Neuregelung faktisch keine Rolle mehr spielen.

 

Vor diesem Hintergrund unterstützt die Evangelische Kirche in Deutschland die Initiative des Bundesgesundheitsministers für ein legislatives Schutzkonzept des Lebens im Kontext des assistierten Suizids, weil sie im Falle einer einseitigen Schwerpunktsetzung auf das Selbstbestimmungsrecht befürchtet, dass die Kultur, Leben zu schützen, gerade gegenüber dem verletzlichen und verlöschenden Leben Schaden nehmen könnte.

 

Zweierlei muss aus Sicht der Evangelischen Kirche in Deutschland bei einer anstehenden Gesetzgebung vermieden werden: Es darf erstens nicht geschehen, dass Menschen sich aufgrund von körperlichen oder psychischen Erkrankungen, Behinderungen oder wegen als verzweifelt empfundener Situationen das Leben nehmen. Dem ist mit allen Möglichkeiten der Suizidprävention zu begegnen. Zweitens muss unbedingt vermieden werden, dass eine Entscheidung für einen Suizid nicht mehr eine eigene, individuell verantwortete Gewissensentscheidung des Suizidanten ist, sondern sich als Anpassung an eine empfundene oder sozial vermittelte Normalität darstellt. Folgende Anforderungen halten wir für notwendig, um den Schutz des Lebens sicherzustellen:

 

(1) Zu einem präventiven Schutzkonzept gehört die Sorge um ein entsprechendes gesellschaftliches Klima. Dieser Bereich stellt die größte und umfassendste Aufgabe dar. Auch sehen wir die Gefahr, dass gerade aus der Summe von zahlreichen Einzelentscheidungen – mögen sie im Einzelfall auch jeweils mit nachvollziehbaren Gründen getroffen werden – eine solche Verschiebung des gesellschaftlichen Klimas entsteht, auf dessen Grundlage dann eine individuelle Entscheidung eben kaum mehr als selbstbestimmte Entscheidung möglich ist. Beispiele anderer Länder zeigen, dass es in der Folge zu einer gesellschaftlichen Akzeptanz der aktiven Sterbehilfe kommen kann. In diesem Bereich ist in unseren Augen eine besondere Aufklärungsarbeit notwendig, für die sich die Evangelische Kirche in Deutschland mit den ihr zur Verfügung stehenden Mitteln auch selbst in die Pflicht nehmen lässt. Dabei ist deutlich: Den Ausgangspunkt muss eine Selbstbestimmung in verantworteter Freiheit bilden. Denn nach christlichem Verständnis stellt Freiheit keine beziehungslose Willkür dar, sondern versteht sich als Antwort auf Gottes Ansprache. Dementsprechend vollzieht sich Selbstbestimmung immer innerhalb eines vorgegebenen Rahmens. Auf den Bereich des gesellschaftlichen Zusammenlebens übertragen bedeutet das: Jede Selbstbestimmung beruht auf einer gewichtigen Voraussetzung und hat Folgen für andere. Sie bedarf als Fundament eines gemein­schaftlich getragenen und für alle deutlich wahrnehmbaren Konsenses: Es darf kein sozialer Druck entstehen, sich für einen Suizid entscheiden zu müssen. Dementsprechend kann eine (assistierte) Selbsttötung in ausweglos erscheinender Lage immer nur einen Grenzfall darstellen. Das Ziel eines legislativen Schutzkonzeptes muss es daher sein, das Bewusstsein dafür wachzuhalten, dass das gesellschaftliche Klima immer die Einschätzung des eigenen Lebens mit prägt und wie schmal daher die Grenze sein kann zwischen einer eigenen Entscheidung und einer Entscheidung, die zwar vom Einzelnen getroffen wird, die aber vorrangig eine Reaktion auf eine gesellschaftliche Einschätzung darstellt. Das bedeutet weder, den Einzelnen nur als Produkt der gesellschaftlichen Verhältnisse zu betrachten, noch ihn dort bevormunden zu wollen, wo er am verletzlichsten ist. Doch es bedeutet, für die notwendige Balance von Schutz des Lebens und Selbstbestimmung sensibel zu bleiben.

 

(2) Ein besonderes Augenmerk ist auf die vom BVerfG ausdrücklich hervorgehobene Pflicht des Staates zur umfassenden Suizidprävention zu richten. Diese Aufgabe ist anspruchsvoll und weitreichend. Zur Suizidprävention gehört wegen der ganz unterschiedlichen Lebens­situationen, aus denen heraus ein Suizidwunsch entstehen kann, ein breit gefächertes Beratungsangebot, das auch bekannt sein muss. Ferner gehört dazu ein breit ausgebautes Angebot an Hospizen und palliativmedizinischer Betreuung, gerade im ambulanten Bereich. Da die Evangelische Kirche in Deutschland mit ihrer Diakonie auch sehr stark im Bereich der stationären wie ambulanten Krankenpflege engagiert ist, halten wir Verbesserungen der Pflegekonzepte Schwerkranker und Hoch­betagter als Teil eines legislativen Schutzkonzeptes für erforderlich. Dazu zählt, dass familiale Pflege, etwa durch die Erweiterung entsprechender Freistellungsmöglichkeiten, aber auch durch die Förderung von Mehrgenerationenhäusern und alternativen Wohnformen, intensiver ermöglicht und unterstützt werden sollte.

 

(3) Es kann nicht die Aufgabe des Gesetzgebers sein, einen Kriterienkatalog aufzustellen, der Krankheitsszenarien und mentale oder andere Voraus­setzungen definiert, über die die Ernsthaftigkeit und Dauerhaftigkeit des Wunsches nach Suizid festzu­stellen wäre. Eine solche Vorgehensweise müsste unweigerlich dazu führen, dass staat­licher­seits festgelegt würde, welche Szenarien einen (assistierten) Suizid recht­fertigen und welche nicht. Es erscheint aber aus unserer Sicht notwendig, mithilfe eines noch näher zu bestimmenden Verfahrens sicherzustellen, dass der Wunsch nach Selbsttötung nicht aufgrund einer durch Druck oder Erwartungshaltung beeinflussten oder aufgrund einer akuten Verzweiflung oder psychischen Erkrankung herbeigeführten Entscheidung entsteht. Ein solches Verfahren sollte auf multiprofessionelle Kompetenzen zurückgreifen, auch wenn den Ärztinnen und Ärzten hier eine besondere Verantwortung zukommt, etwa beim Ausschluss einer akuten depressiven Störung. Über ein solches auf den Einzelfall bezogenes Verfahren hinaus gehört es aber in jedem Falle ganz wesentlich zum Umgang mit Suizidwünschen, gesellschaftliche Einflüsse ebenso wie Beeinflussungen im familialen Nahbereich im Auge zu behalten. Die Sorge, eine übergroße Belastung für die Solidargemeinschaft und auch für die Familie zu sein, kann nämlich wesentlich dazu beitragen, dass der Wunsch nach Suizid aufkommt. Gegebenenfalls müssten über das bereits Vorhandene hinaus finanzielle und organisatorische Hilfen zur Verfügung gestellt werden, um das zu verhindern. Zusätzlich gehört zu den prozeduralen Sicherungen, die ethische Schulung von Ärztinnen und Ärzten zu intensivieren. Nach unserer Einschätzung ist die Aus- und Weiterbildung im Bereich klinischer Ethik nach wie vor verbesserungsfähig – das gilt im Übrigen auch für das kirchliche Engagement im Kontext von Spiritual Care.

 

 

Hannover, den 12. Juni 2020