Überall diese Kirchtürme!
Bei der Evangelisch-Lutherischen Chinesischen Gemeinde in München
Es gibt ein chinesisches Schriftzeichen für den Begriff „Religion“, das sieht aus wie ein Boot mit Menschen darin. Ein Boot mit Menschen! Wie im neuen Testament. Wenn er über die christliche Geschichte in China reden kann, schimmern Sam Tjons Augen und er wird ganz eifrig, der sonst eher ruhige, knabenhafte Mann mit der wachen Stimme. Christentum und China, das passt für ihn zusammen, seit im Mittelalter die ersten Missionare ins chinesische Reich kamen. Kluge Menschen, und China hatte Platz für sie, für viele Weltanschauungen, für Glaube. Bis zur Kulturrevolution in den Sechzigern. Im Moment sind sehr viele Chinesen vor allem kleine Rädchen in einem großen Getriebe.
Sam Tjon ist anders. Er ist in Deutschland aufgewachsen. Er ist Christ, weil seine Eltern Christen sind. Der Glaube und Sam? „Lasst uns nicht lieben mit Wort und Zunge, sondern mit Tat und Wahrheit“, zitiert er. Deshalb hat er mit seinen Eltern und Bekannten diese Kirchengemeinde aufgebaut, hat eine Pfarrerin gefunden. Er will den Neuankömmlingen dabei helfen, Sinn zu finden. Deutschland aus chinesischer Sicht ist faszinierend: Die Menschen arbeiten, haben Zeit, es geht ihnen gut, sie reden frei, das Land ist gerecht – und überall diese Kirchtürme! „Chinesen sehen da einen Zusammenhang“, sagt Sam Tjon. In China lernen die Menschen zu leisten und zu besitzen. Aber innendrin bleibt eine Leere. Das, was die Deutschen erfüllt, das wollen sie auch. Also suchen sie in der Kirche – und entdecken das Christentum.
Ein gutes Echo für morgen säen
München, Sonntag, die breite Industriestraße im Stadtteil Neuperlach ist leer. Die Lätarekirche grenzt daran wie eine rotgeziegelte Insel. Die Evangelisch-Lutherisch Chinesische Gemeinde trifft sich im Gemeinderaum. Im Eingang wuseln winzige Kinder um Sams Frau Winnie herum, die mit ihnen mit sonniger Ruhe schäkert, nebenan werden Stühle gerückt, Klavierspiel. Das Team um Pfarrerin Waiching Mühlhaus betet in kleiner Runde für das Gelingen des Gottesdienstes. Aus der Küche ziehen Grünteeschwaden. Die Besucher kommen früh und bringen zugedeckte Platten mit, unter denen es nach sämtlichen Gewürzen duftet. Die meisten sind erst ein paar Jahre in Deutschland. In München wohnen viele Chinesen, es gibt mehrere Gemeinden. Die Neuperlacher besteht lose seit sieben Jahren. Dann hat Sam Tjon begonnen zu organisieren und vor drei Jahren ist die Pfarrerin dazu gekommen, seitdem wächst die Mitgliederliste rasant, über 200 Namen stehen schon darauf.
Da kommt Chen Dih, hellgestreiftes Hemd, hohe Stirn und zwinkert hinter der Brille. „Das Jetzt ist das Echo der Vergangenheit, aber heute können wir schon ein gutes Echo für morgen säen“, sagt er. Er ist Taiwanese, ein freier Chinese, wie er sagt. In Deutschland ist er seit 40 Jahren, Christ seit ein paar Monaten. Er hat lange gesucht. Zuletzt nach der Vergangenheit, sie hat einen Text und Melodie: „Jesus liebt dich.“ Das hat ihm seine verstorbene Mutter immer vorgesungen. Seine ganze Familie ist protestantisch, nur er, er macht es sich eben nicht leicht. Er hat es bei den Buddhisten versucht, aber die sind abweisend. Im Grunde muss man alles selbst verstehen. In der Lätarekirche hat er endlich das Lied gehört. Und ist geblieben. „Im Christentum darf man nicht abweisend sein“, sagt er. „Man muss offen sein, man lernt in der Diskussion mit Menschen.“ Das sei nicht immer einfach. Chen Dih macht es sich eben nicht einfach.
Nach dem Begrüßungslied hat das Klavier seinen Dienst getan, der Gottesdienst wird mit Karaoke bestritten, verträumte, hingebungsvolle Lieder, der Text wird per Beamer an die Wand geworfen, die Melodien sind nicht einfach, alle geben sich redlich Mühe: „Es gibt einen Gott, wir haben keine Sorgen“, singen sie, und: „Deine Liebe ändert sich nie.“ Dann predigt Waiching Mühlhaus. Dreißig Minuten. Kurz für eine chinesische Predigt. „Aber Chinesen haben keinen Religionsunterricht in der Schule“, erklärt sie später lächelnd. Philosophie, Predigten seien in China nicht erlaubt oder stark zensiert, sagt Mühlhaus später. Den Menschen fehle geistige Nahrung. „Wir geben ihnen zu essen!“
Mühlhaus ist eine winzige Frau, aber nun wirkt sie doppelt so groß. Beim Sprechen wiegt sie hin und her, spannt zwischen ihren Händen unsichtbare Fäden, spinnt Dialoge und schlüpft dabei mal in die eine, mal in die andere Rolle. Sie spricht Mandarin, Hochchinesisch. Sam Tjon dolmetscht alles.
Mühlhaus sagt: „Stell dir vor, du bist ein Haus, Gott möchte nicht dich, sondern dein Haus. Er geht hindurch und klopft es ab. Die Rohre sind verstopft, sagt er. Was beschwerst du dich? Er will einen stabilen Grundriss, denn er will daraus einen Palast machen, denn er will darin wohnen – in deinem Herzen. Bist du bereit? Wenn wir Gottes Anweisungen folgen, haben wir keine Probleme mehr im Herzen“, sagt sie. Chen notiert mit.
Generation beziehungsunfähig? In China stimmt das.
Mühlhaus spricht über Leistungsdruck, über hoch gesteckte Ziele und Versagensängste. „Aber wenn man sagt, „Ich mache das“, wird es schwer“, sagt sie. „Wir müssen Gott finden, nur so wird unser Leben vernünftig.“ Sie spricht über die Kirchengemeinde, die kein Kaffeekränzchen sei. Sie sagt: „Es geht darum, gemeinsam die Wahrheit zu finden und sich selbst nicht in dem Mittelpunkt zu stellen.“
In der letzten Reihe steht Lei mit ihrem Sohn und ihrer Tochter und sieht dabei aus wie eine Studentin. Sie stellt sich als Sabrina vor, ist 37, lacht dabei und wirkt noch jünger. Den Namen hat sie sich für Deutschland ausgesucht. Sie war neugierig am Anfang, hat eine Freundin begleitet und schaut sich das mit dem Glauben an. Seit sechs Jahren schon und mittlerweile mit ihrem Mann – der auch Chinese ist. Die Gemeinde macht ihr Mut. „Es ist die Einkind-Politik“, sagt sie. „Wir haben immer alles von allen bekommen. Das ist schwierig in einer Beziehung.“ Generation beziehungsunfähig? In China stimmt das. Ihr Mann und sie haben lange gehadert. Bis sie an einer deutschen Kirche vorbeikamen und zum ersten Mal einen Satz der komplizierten deutschen Bibelsprache verstanden: „Morgen wirst du heiraten, Tochter von Jerusalem, egal ob du froh oder traurig bist.“ Da haben sie verstanden.
Es gibt chinesische Snacks vom Buffet: Grünteekuchen, Bohnenbrownies, Hähnchenschenkel. Einmal im Monat kochen alle gemeinsam, jeder bringt ein Rezept mit, das ist gut, plötzlich fällt es leicht, miteinander ins Gespräch zu kommen. Jedes Jahr machen sie gemeinsam Ausflüge in die neue Heimat. Die deutschen Missionare in China waren klug, sie haben sich integriert, waren wissbegierig und wurden deshalb gut aufgenommen. In Deutschland strahlt Sabrina, Lei, über ihren europäischen Namen. Zu Beginn ihres Germanistikstudiums an der Universität in China ist sie mit dem Finger über eine lange Liste gefahren, von Namen zu Namen. Ihre Kinder will sie später in die deutsche Kirche schicken, damit sie keine Schwierigkeiten haben, sich heimisch zu fühlen. Sams Eltern haben ihm gleich einen englischen Namen gegeben und Winnie, seine Frau, hat sich nach Winnie Puh benannt. Den mag sie gerne.
Sabine Oberpriller (für evangelisch.de)
Gemeinden anderer Sprache und Herkunft in Deutschland