Gestaltung und Kritik
2. Begegnungsfelder
1. Religion
Die Erwartung des Absterbens der Religion hat sich als Illusion erwiesen. Religion als Verhalten des endlichen Menschen zum transzendenten Grund seiner Existenz ist eine elementare Dimension jeder Kultur. Auch der christliche Glaube manifestiert sich unweigerlich in der Form menschlicher Religion, auch wenn sich das Christentum von seinen Ursprüngen her stets als selbstreflexive und selbstkritische Religion verstanden hat. Der Protestantismus, der sich in besonderer Weise den religionskritischen Potentialen der biblischen Tradition verpflichtet weiß, steht heute vor der Aufgabe, eine angemessene Balance zwischen Pflege und Kritik religiöser Ausdrucksformen zu finden.
(1.1.) In unserer vermeintlich aufgeklärten und säkularisierten Gesellschaft geht die institutionelle Schwächung der Kirchen und der Verlust des Deutungsmonopols des Christentums keineswegs mit einem Desinteresse an Religion und religiöser Erfahrung einher. Parallel zur fortschreitenden Entkirchlichung und zum Rückgang kirchlicher Glaubenspraxis nimmt die Präsenz religiöser Phänomene im Alltag zu. Diese "Alltagsreligion" weist nicht nur Spuren der explizit christlichen Religion auf; in ihr finden sich verstärkt Phänomene säkularen Religionsersatzes und diffuser, vagabundierender Religiosität.
In seiner Funktion als ersatzreligiöse Sinnstiftung hat der Sport an Bedeutung gewonnen. Der Körper wird zur Quelle von Grenzerfahrungen, das Stadion zur Kultstätte, und die Fangemeinde erlebt sich in tiefer Kommunion. Voller religiöser Botschaften ist auch die Werbung. Sie verwendet nicht nur religiöse Zeichen; sie macht Heilsversprechen, die das Bedürfnis nach Sinndeutung aufgreifen. Da steht beispielsweise ein Mann fragend am Abgrund: "Woher komme ich? Wohin gehe ich? Und warum weiß mein Auto die Antwort?" In Kunst und Kulturindustrie sind ebenfalls religiöse Züge erkennbar. Menschen pilgern zu Ausstellungen; Konzertsäle, Theater und Museen gewinnen eine sakrale Aura. Musicals handeln von der Sehnsucht nach Lebenssinn ("Cats", "Starlight Express") oder greifen biblische Stoffe auf ("Joseph").
Zum andern ist die religiöse Landschaft in den letzten Jahren zunehmend geprägt von diffuser Religiosität und von Alltagssynkretismen, die je nach individueller Bedürfnislage zusammengesetzt werden. Religion wird als Dimension nichtentfremdeter Selbsterfahrung und als Möglichkeit der Wiederherstellung des Einklangs mit der Natur entdeckt. Auf dem Esoterik-Markt findet sich eine breite Palette von Angeboten: von Astrologie, Wahrsagen und Tarot über Vodoo, Magie und Geistheilen bis hin zu fernöstlichen Meditationspraktiken und religiös verbrämten Therapien.
(1.2.) Dieser kurze Blick auf alltagsreligiöse Phänomene provoziert die Frage: Was ist Religion? Eine Definition des Religionsbegriffs, die nicht nur die unterschiedlichen Hochreligionen, sondern auch die vielfältigen neu-, halb- und ersatzreligiösen Phänomene umfaßt, ist schwierig. Vielleicht kann man aber von folgender Überlegung ausgehen: "Religion ist das, was uns unbedingt angeht" (P. Tillich). Religion ist das Verhalten des endlichen Menschen zum transzendenten Grund seiner Existenz. Als religiös bezeichnen wir Erfahrungen und Überzeugungen von letztgültiger lebensbestimmender Relevanz. Religion manifestiert sich in symbolischer Deutung und ritueller Darstellung. Unter den verschiedenen Funktionen von Religion seien drei hervorgehoben:
Religiöse Deutungen ermöglichen es, eine Beziehung zur Unverfügbarkeit menschlichen Lebens aufzubauen. Religion antwortet auf Kontingenzerfahrungen: Ihr Stoff ist das unvorstellbare Glück, die unausweichliche Schuld, die schockierende Gewalt, der plötzliche Tod, das sinnlose Leid.
Religiöse Symbole, Riten, Feste usw. haben eine soziale Integrationsfunktion, sie sind bedeutsam für den gesellschaftlichen Zusammenhalt und die Legitimation bzw. Rechtfertigung bestehender Gemeinschaftsformen.
Religiöse Erfahrung ist Transzendenzerfahrung, sie übersteigt die Grenze des Profanen zum Heiligen. Im Kontakt mit dem Heiligen wird die vorhandene Wirklichkeit ekstatisch überschritten, die alltägliche Langeweile durchbrochen.
Dabei läßt sich Religion von Ersatzreligion dadurch unterscheiden, daß sie erstens mehrere solcher Funktionen zugleich erfüllt und daß sie zweitens den Gegensatz zwischen Transzendenz und Immanenz, Heiligem und Profanem nicht aufhebt, sondern vermittelt.
(1.3.) Religion im umschriebenen Sinn ist eine Dimension jeder Kultur. Die teils christlich, teils antichristlich motivierte Prognose, wir gingen einem religionslosen Zeitalter entgegen, hat sich nicht erfüllt. Dennoch behält der Vorbehalt gegenüber einer einfachen Gleichsetzung von christlichem Glauben und Religion ein unaufgebbares Recht:
Erstens deshalb, weil Religion lediglich ein Allgemeinbegriff ist. Gerade in einer kulturell-pluralen Gesellschaft wird erfahrbar: "Die" Religion gibt es nicht. Mit ihr verhält es sich ähnlich wie mit der Sprache: Es gibt sie nur im Plural. Die Sprache kann niemand sprechen, man kann sich in ihr auch nicht verständigen. Die Religion kann man nicht leben und sich nicht mit ihr streiten. Unter Bedingungen eines wachsenden religiösen Pluralismus tendiert der Religionsbegriff zur Inhaltslosigkeit, jedenfalls leitet er zunehmend zu einer neutralen Beobachterperspektive an. Es können unter diesem Titel nur möglichst allgemeine, allen religiösen Phänomenen gemeinsame Merkmale in den Blick kommen, nicht der Wahrheitsanspruch einer bestimmten Religion.
Zum andern hat der biblisch inspirierte Gottesglaube immer die Zweideutigkeiten der Religion aufgedeckt; sie kann unterdrücken und befreien, zerstören und heilen. Die prophetische Kultkritik, die von Jesus betonte Unterordnung der Religionsgesetze unter ihren humanen Zweck, die Unterbrechung der zyklischen Zeiterfahrung in Jesu Verkündigung des nahen Reiches Gottes, die urchristliche Deutung des Gekreuzigten als Selbsthingabe Gottes und als endgültige Aufhebung des sakralen Opfermechanismus - dies sind nur einige zentrale Motive biblischer "Gegen-Religion", die zum christlichen Selbstverständnis gehören. Die neuzeitliche Religionskritik hatte nicht darin Unrecht, daß sie unter anderen auch diese Motive gegen die herrschende bürgerlich-christliche Kultur zur Geltung gebracht hat. Im Irrtum befand sie sich dort, wo sie glaubte, es seien Verhältnisse herstellbar, in denen es der Religion als Kultur des Verhaltens zum Unverfügbaren nicht mehr bedarf.
(1.4.) Christlicher Glaube ist die bestimmte, durch Jesus von Nazareth eröffnete und durch seinen Geist gewirkte Beziehung zu Gott. Selbstverständlich bedarf auch dieser Glaube des religiösen Ausdrucks, der festlichen Darstellung und der kulturellen Form. Die Neuentdeckung der liturgischen und rituellen Ausdrucksformen des Glaubens in den evangelischen Kirchen ist wichtig. In den Kirchen arbeiten daran insbesondere Frauen und möchten damit dem als kopflastig erlebten Christentum seine Erfahrbarkeit zurückgeben. Der Protestantismus unterscheidet allerdings mit besonderem Nachdruck jede Form der Gotteserfahrung und alle Praktiken der Gottesverehrung (inclusive seiner eigenen) von Gott selbst. In besonderer Weise hat das protestantisch geprägte Christentum die "gegen-religiösen" Potentiale der biblischen Tradition in sich aufgenommen; es steht von daher im Wandel der gesellschaftlichen und kulturellen Bedingungen vor der unabschließbaren Aufgabe, die richtige Balance zwischen Pflege und Kritik, Gestaltung und Begrenzung religiöser Ausdrucksformen zu finden.
(1.4.1.) Auf der individuellen Ebene scheint mit dem Bedürfnis nach vertiefter Selbsterfahrung ein Zentralproblem moderner Religiosität angesprochen zu sein. Der christliche Glaube kennt durchaus das Motiv der innerlichen Erfahrbarkeit Gottes, der uns sogar näher kommt als wir uns selbst. Das Christentum deutet diese erfahrbare Nähe Gottes als Wirken seines Geistes in uns. Es weiß, daß der Geist Gottes und Jesu Christi "weht, wo er will". Niemand kann über ihn verfügen; er ist kein institutioneller Besitz, sondern wirkt weit über das verfaßte Christentum hinaus. Spiritualität, Selbsterfahrung als Erfahrung des Geistes hat es immer auch außerhalb der Kirchen gegeben. Es war der neuzeitliche Protestantismus, der ein Verständnis von Religiosität entwickelt hat, das die Frage nach Gott mit der rückhaltlosen Thematisierung von Selbst und Individualität verbindet. Heute erscheinen gerade religiös sensiblen Menschen Psychotechniken, fernöstliche Meditationsformen und Esoterik attraktiv, weil sie in den Kirchen keine Orte geistlicher Selbsterfahrung mehr sehen. Viele wollen sich damit keineswegs vom Christentum verabschieden; die selbsterfundene "Bastelreligion" läßt sich aber besser auf die eigenen, individuellen Lebensbedürfnisse zuschneiden. Die Kirche schreibt dem Geist sein Wirken nicht vor, unterscheidet aber die Geister. Oft genug führt die Zuwendung zur neureligiösen Szene in massiven Aberglauben, destruktive Weltverneinung, blinde Gefolgschaft und psychische Abhängigkeit. Der Protestantismus hat sicherlich Anlaß, sich stärker für die reichen Traditionen genuin christlicher Spiritualität zu öffnen; solange er seinem reformatorischen Ursprung und seinem neuzeitlichen Profil treu bleibt, wird er aber immer die Lebensform eines aufgeklärten, nüchternen und reflektierten Glaubens verkörpern.
(1.4.2.) Als Religion ist das Christentum faktisch wohl am nachhaltigsten durch die biographiebezogenen Rituale wie Taufe, Konfirmation, Trauung, Bestattung, aber auch durch den jahreszyklischen Festkalender mit der Lebenswelt der Menschen verwoben. Weit über die ihnen eng verbundenen Menschen hinaus sind die Kirchen mit Erwartungen an Religion konfrontiert, die sich in erster Linie an das kirchliche Ritenangebot richten. Die rituelle Inszenierung von Übergängen, Krisen und Zäsuren im individuellen wie im gesellschaftlichen Leben ist eine unabweisbare Aufgabe der Religion; das Ritual kanalisiert die Emotionen, stabilisiert eine verläßliche Ordnung, bekräftigt den Zusammenhalt der Gruppe. Die Kirche geht mit den kulturreligiösen Funktionserwartungen an eine symbolkräftige Ritualpraxis verantwortlich um, indem sie zweierlei berücksichtigt. Zum einen dient sie im Medium des Rituals den Menschen in ihrer Geschöpflichkeit; im Verständnis des christlichen Glaubens ist das Ritual in seiner ordnungsstiftenden Bedeutung selbst eine gute Schöpfergabe Gottes. Zum andern aber ist die Leistungskraft des Rituals begrenzt, erfüllt es doch seine sozialpsychologische Stabilisierungsfunktion reflexionslos, schon durch seinen bloßen Vollzug. Deshalb kann das Ritual als solches die Instabilitäten und Krisen, auf die es antwortet, nur beruhigen, aber nicht bearbeiten oder aufklären. Die Kirche weiß, daß Rituale notwendig, aber alles andere als ausreichend sind; sie geht davon aus, daß rituelle Vollzüge erst dann wirklich den Menschen und der Gesellschaft dienen, wenn sie verbunden sind mit dem deutenden Wort des Evangeliums, mit der klärenden Kraft der Sprache und mit dem Angebot des begleitenden Gesprächs.
(1.4.3.) Religiöse Symbole gewinnen zivilreligiösen Charakter, wenn sie sich auf die Befestigung und Erneuerung der Legitimationsgrundlagen einer politischen Ordnung beziehen. Auch und gerade im Rahmen einer institutionellen Unabhängigkeit von Kirche(n) und Staat ist die Bedeutung von Religion für Begründung und Zusammenhalt des staatlichen Gemeinwesens nicht verschwunden. Als Zivilreligion werden diejenigen religösen Elemente der politischen Kultur bezeichnet, die - relativ unabhängig von den verfaßten Kirchen - wichtige Integrations- und Legitimationsfunktionen für die politische Ordnung erbringen. Dem Gebot der religiös-weltanschaulichen Neutralität des Staates und den zunehmenden kulturellen Pluralisierungsprozessen entsprechend müssen solche zivilreligiösen Bestände allerdings auf einen inhaltlich dünnen Minimalkonsens beschränkt bleiben: Sie reduzieren sich hierzulande vor allem auf die (deutungsoffene, nicht nur christlich zu interpretierende) Nennung Gottes als letzter Verantwortungsinstanz in Verfassungspräambeln und auf seine Anrufung anläßlich bestimmter öffentlich relevanter Handlungen (religiöse Eidesformel etc.). Aber auch der politische "Festkalender", die nationale Gedenkkultur oder die kollektive Begehung von herausgehobenen, für das gesamte Gemeinwesen bedeutsamen Ereignissen sind mit der Vergegenwärtigung kollektiv geteilter Wertüberzeugungen verbunden, die oft auf religiöse Inhalte und Ausdrucksformen zurückgreift. Die zivilreligiöse Symbolik kann, wenn sie auf das gesellschaftliche Wirken konkreter Kirchen und Religionsgemeinschaften bezogen bleibt, das Bewußtsein wachhalten, daß der freiheitliche Verfassungsstaat von Voraussetzungen lebt, die er selbst nicht hervorbringen kann. Der freiheitsverträgliche Charakter der Zivilreligion geht aber verloren, wenn der Staat selbst als ihr Produzent auftritt oder die Nation eine religiöse Überhöhung erfährt. Deshalb ist wichtig: Die neuere protestantische politische Ethik betrachtet Menschenwürde, universelle Menschenrechte und demokratische Partizipation als moralische Rechtfertigungsbasis jedes partikularstaatlichen Gemeinwesens. Nur insoweit sie damit verträglich sind, können die zivilreligiösen Elemente der politischen Kultur seitens der evangelischen Kirche gestützt werden.
(1.4.4.) Gegenüber anderen Religionen vertritt das Christentum ein Ethos der aktiven Toleranz, das widerstreitende religiöse Überzeugungen nicht relativiert, sondern in ihrer Widersprüchlichkeit anerkennt. Die Differenz, ja Gegensätzlichkeit der in den verschiedenen Religionen gemachten Gotteserfahrungen deutet der christliche Glaube als Ausdruck der Verborgenheit Gottes. Christen erfahren diese Verborgenheit Gottes als Anfechtung ihrer Glaubensgewißheit; um so mehr sind sie jedoch darauf bedacht, den eigenen Glauben zu bezeugen und im Dialog über konkurrierende Wahrheitsansprüche zu bewähren. Die protestantische Unterscheidung des christlichen Glaubens von seinem unverfügbaren Grund bedeutet, daß fremde Glaubensweisen nicht (und sei es versteckt) für das christliche Gottesverständnis vereinnahmt werden dürfen, und daß es Gott selbst zu überlassen ist, was sich aus der Begegnung der christlichen Botschaft mit anderen Religionen ergibt. Deshalb verbinden die evangelischen Kirchen das Bekenntnis zu Jesus Christus mit der Achtung fremder Glaubensüberzeugungen und treten für eine Rechtsordnung ein, die schon von ihrem Selbstverständnis her die Freiheit der Religionsausübung aller im Rahmen der für alle geltenden Gesetze ermöglicht.
2. Gedenkkultur
In der jüdisch-christlichen Tradition ist das Erinnern und die generationenüberspannende Weitergabe geschichtlicher Erfahrungen für die individuelle wie kollektive Identitätsbildung zentral. Die Frage nach der Identität der Deutschen und dem Rang der nationalsozialistischen Gewaltverbrechen für ihr kulturelles Gedächtnis steht heute neu auf der Tagesordnung. Eine christliche Kultur des Gedenkens geht in diesem Zusammenhang von der erinnernden Solidarität mit den Opfern aus. Ziel solchen Erinnerns muß sein, daß sich Vergleichbares niemals wiederholt; seine Grenzen liegen dort, wo die Taten im Gedenken verschwinden, oder wo routinisiertes Erinnern in kollektives Verdrängen umschlägt.
(2.1.) Zu den Grundelementen der jüdisch-christlichen Tradition gehört die Kultur des Gedenkens. Die Weitergabe geschichtlicher Erfahrungen von einer Generation zu anderen hat eine Schlüsselbedeutung für die Ausbildung individueller wie gemeinschaftlicher Identität. Die Pflicht der Älteren, den Jüngeren die Erfahrungen des Volkes mit seinem Gott zu erklären, ist grundlegend für die Weitergabe des Glaubens im Volk Israel (vgl. 5. Mose 6,20ff). Die Aufgabe des Gedenkens findet auch Eingang in den Dekalog, in die Summierung der alttestamentlichen Weisung in der Gestalt der zehn Gebote: "Gedenke des Sabbattages, daß du ihn heiligest." (2. Mose 20,8). Die Erinnerung an das Ruhen Gottes von seinen Werken wird zur Anleitung für die Gestaltung von Kultur. An vielen Stellen beschreibt das Alte Testament rituelle Gestaltungsformen des Gedenkens; die Feste des Jahreslaufs erhalten durchweg neben ihren jahreszeitlichen Bezügen Begründungen aus der Geschichte Israels.
Das Neue Testament setzt diese Kultur des Gedenkens voraus. Im christlichen Gottesdienst wird sie an zentraler Stelle verankert; das Abendmahl wird als Erinnerungsmahl gefeiert: "Solches tut zu meinem Gedächtnis" (1. Kor 11,24ff. und Lk 22,19). Christi Tod wird als Erlösungstat Gottes den Menschen zugute verstanden; die Vergegenwärtigung dieses Todes wird deshalb zum Mittelpunkt des Gottesdienstes. Dadurch rücken aber auch menschliches Leiden und Sterben in den Deutungshorizont dieses einen Todes; und die zugesagte Erlösung wird zum Angelpunkt für das Verständnis gelingenden Lebens - eines Lebens nämlich, das nicht mehr den Mächten der Sünde und des Todes unterworfen ist. So entfaltet sich eine ganze Kultur des Lebens aus der Weisung: "Solches tut zu meinem Gedächtnis".
(2.2.) Alle Kulturen kennen Formen, in denen Geschichte erinnert und insbesondere der Toten gedacht wird. Doch im Judentum wie im Christentum nehmen sie auf dem geschilderten Hintergrund eine besonders ausgeprägte Gestalt an. Von der jüdischen Kultur des Gedenkens an die Verstorbenen legen die jüdischen Friedhöfe Zeugnis ab; sie sind deshalb so zahlreich erhalten, weil jede Grabstätte für unabsehbare Zeit belegt ist und deshalb nicht erneut belegt werden darf. Das ist ein unüberbietbares Zeichen für die Achtung der menschlichen Person in ihrer Individualität. Die christliche Bestattungskultur knüpft daran an, ohne jedoch in gleicher Unbeugsamkeit die Forderung aufrecht zu erhalten, daß eine Grabstätte für alle Zeiten unantastbar sei. Besondere Formen des Gedenkens ziehen in der frühen Christenheit insbesondere die Grabstätten der Märtyrer auf sich. Aus dem Gedenken erwächst eine Stärkung im Glauben und eine Ermutigung zum Leben. In der Entwicklung der Kirchenbauten, der Klosteranlagen und damit auch im Wachsen der Städte kommt dem Gedenken eine Schlüsselrolle zu.
Gerade weil es dabei - beispielsweise in manchen Formen der Heiligenverehrung oder des Reliquienkults - zu rituellen Erstarrungen und volksreligiös geprägtem Aberglauben kommt, trägt der reformatorische Aufbruch einen Impuls zur Erneuerung geschichtlichen Erinnerns in sich. In der Kritik von verselbständigten Gedenkritualen und von Traditionen, die mit eigenständiger Autorität auftreten, soll der Ursprung des Glaubens anhand seiner allein maßgeblichen Quellen, nämlich der heiligen Schrift, neu freigelegt werden. Traditionskritik wird zu einer Voraussetzung geschichtlichen Gedenkens. Dieser kritische Ansatz hat auch den Protestantismus nicht vor Verkrustungen und Tendenzen zu rückwärtsgewandter Erinnerungspflege bewahrt. Doch die protestantische Verbindung von geschichtlichem Gedenken und Traditionskritik hat sich immer wieder als fruchtbar und weiterführend erwiesen.
(2.3.) In Deutschland wurden Ereignisse, die für die kollektive Identität von herausragender Bedeutung waren, immer auch durch die Kirchen mitgestaltet. Ihre Interpretationskompetenz und Gestaltungskraft wird bis heute in Anspruch genommen. Beispielsweise wären die Versuche des weltanschaulich neutral gewordenen Staates der Weimarer Republik, durch einen besonderen Volkstrauertag sowie durch die Errichtung lokaler oder nationaler Gedenkstätten an die Toten des Ersten Weltkriegs zu erinnern, ohne die Aufnahme von christlicher Gedenkkultur gar nicht vorstellbar gewesen. Bis zum heutigen Tage nicht zur Ruhe gekommen ist die Frage, wie der Opfer des Zweiten Weltkrieges und insbesondere der nationalsozialistischen Gewaltverbrechen zu gedenken ist.
Ein frühes Zeugnis für solches Gedenken ist die Stuttgarter Schulderklärung des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland vom 18./19. Oktober 1945. Obwohl sie bekannte Sprachformen verwendet, ist sie in der Kirchengeschichte ohne Vorbild. Und obwohl man aus späterer Sicht deutlichere Konkretionen in der Benennung der Schuld erwarten könnte, vollzog sich mit dieser Erklärung trotz der Allgemeinheit ihrer Aussagen ein Durchbruch. "Durch uns ist unendliches Leid über viele Völker und Länder gebracht worden" - diese Aussage eröffnete überhaupt erst die Möglichkeit zu neuen Verbindungen über die Grenzen der Feindschaft und die Gräber des Krieges hinweg. Insofern ist in der Stuttgarter Schulderklärung von 1945 ein wichtiger Beitrag zum Entstehen einer politischen Kultur für die neu sich bildende Demokratie zu sehen.
Die unmittelbar nach Kriegsende beginnende Auseinandersetzung über den Umgang mit der Vergangenheit wurde durch protestantische Stimmen maßgeblich mitgeprägt. Die christlichen Beiträge zum deutschen Widerstand traten nun in den Blick. Der Begriff der "Bewältigung der Vergangenheit", der auf Erich Müller-Gangloff zurückgeht, bildete zunächst einen produktiven Anstoß, auch wenn er sich auf lange Frist als problematisch erwies. Die junge Generation wurde durch die Aktion Sühnezeichen, die Lothar Kreyssig 1957 ins Leben rief, in konkrete Erinnerungsarbeit einbezogen. Die Pflege von Gräbern und Gedenkstätten, die praktische Hilfe für Überlebende, der kulturelle Austausch über Grenzen hinweg gaben dem Erinnern einen konkreten Inhalt und erwiesen sich zugleich als Anstoß für verantwortliches Handeln in der eigenen Gegenwart. Wie das Aufarbeiten der Vergangenheit und die Suche nach Wegen der Versöhnung im Blick auf die Zukunft zusammengehören, wurde durch die Ostdenkschrift der EKD von 1965 am Beispiel des deutsch-polnischen Verhältnisses verdeutlicht. Der darin vorgezeichneten Grundlinie ist die EKD seitdem treu geblieben, wie zuletzt die gemeinsame Ausarbeitung mit der Evangelischen Kirche der Böhmischen Brüder zum deutsch-tschechischen Verhältnis belegt, der auch die Vereinigung Evangelischer Freikirchen zugestimmt hat
(2.4.) Mit der Überwindung der Spaltung Deutschlands stellt sich die Frage nach der Identität der Deutschen neu. Dabei geht es vor allem darum, welche geschichtlichen Vorgänge im kulturellen Gedächtnis der Deutschen einen festen Ort haben müssen und wie das öffentliche Gedenken an sie zu gestalten ist. Beispielhaft ist diese Frage im Blick auf die Pläne für ein zentrales Holocaust-Mahnmal erörtert worden. Auch die Schwierigkeiten haben sich daran exemplarisch gezeigt. Sie beziehen sich zum einen auf den Gegenstand des Erinnerns - sind es die Gewalttaten gegen das europäische Judentum oder die nationalsozialistischen Gewaltverbrechen insgesamt? -; zum anderen beziehen sie sich auf die Frage, was ein Mahnmal zu leisten vermag und wie es gestaltet werden kann. Untergründig geht es zugleich um die Frage, ob es ein Übermaß des Erinnerns gibt, das in sein eigenes Gegenteil, nämlich in kollektives Verdrängen umschlägt. Die Frage nach der Gedenkkultur in Deutschland bündelt sich derzeit in diesen Fragen.
Eine christliche Kultur des Gedenkens geht von der erinnernden Solidarität mit den Opfern aus. Daß sich Vergleichbares niemals wiederholt, ist das ausdrücklich mit solchem Erinnern verbundene Ziel. Die Bewahrung der Zeugnisse für die geschehenen Verbrechen und die anschauliche Vergegenwärtigung des Geschehenen an den Orten dieser Verbrechen haben deshalb höchste Prioriät. An die Gedenkstätten des Terrors, der von Deutschland aus geplant und ausgeübt wurde, muß man deshalb zuerst denken, wenn man fragt, was hier für das Erinnern getan werden kann. In dem Land, in dem der Versuch unternommen wurde, alle Spuren jüdischen Lebens zu beseitigen, kommt ferner der Pflege der Friedhöfe, der Synagogen und der architektonischen Zeugnisse jüdischer Kultur besondere Bedeutung zu. Die Achtung vor den Toten und die Scham über die Gewalttaten kommen auch in Gedenktafeln und Mahnmalen zum Ausdruck. Wie dieses Gedenken in einem herausgehobenen nationalen Mahnmal Gestalt gewinnen kann, ist bislang ungeklärt. Deutlich ist freilich, daß die Gefahr eines monumentalen Abschlusses des Gedenkens abgewendet werden muß. Die Taten dürfen nicht im Gedenken verschwinden. Nur im Bewußtsein dieser Gefahr kann nach möglichen künstlerischen Gestaltungsformen gesucht werden.
3. Kunst
Kunst und Religiosität gehören eng zusammen. Beide drücken auf ihre Weise aus, was uns unbedingt angeht; in der Moderne erweist sich ihre Nähe darin, daß sie in unterschiedlicher Form an die individuelle Erfahrung gebunden sind. Gerade moderne Kunst und christlicher Glaube kommen darin überein, daß sie eingespielte Selbstverständnisse in Frage stellen und das Alltagsbewußtsein aufstören. Im Verhältnis zur kirchlich verfaßten Religion ist allerdings die Autonomie der modernen Kunst ein beständiger Anlaß für Spannungen und Konflikte. Zur Überwindung des Unverständnisses auf beiden Seiten sind unverkrampfte Dialogbemühungen erforderlich.
(3.1.) Eine der auffälligsten Erscheinungen der Gegenwartskultur besteht in dem immer noch wachsenden Interesse vieler Menschen an Kunst, zumal an der bildenden Kunst. Große Ausstellungen ziehen nun schon seit etwa zwei Jahrzehnten Hunderttausende in ihren Bann. Nicht zufällig ist von Museen als den "Tempeln der Kunst" und "bürgerlichen Heiligtümern" die Rede. Es scheint, als hätten Kirche und Museum ihre Rollen vertauscht: Die alten Kathedralen werden von Touristen als museale Zeuginnen der Vergangenheit besichtigt; die neuen Galerien und Kunsthallen setzen neuzeitliche Pilgerströme in Bewegung und werden besucht als Orte der Andacht, in denen Erbauung flanierenderweise geschieht. Architektur, Arrangement und Aura der neuen Museen stehen im selben Gegensatz zur Alltagswelt wie das Heilige zum Profanen. Das Arrangement der Räume prägt Rituale des Eintretens (Garderobe und Foyer) und Verlassens (Museumsshop und Café), des respektvollen Verhaltens in den Schauräumen, die in vielem an die religiös-kirchliche Vorlage erinnern. Gegenüber der traditionellen Funktion des Museums als Stätte des Sammelns und Bewahrens von Exponaten wollen die (post)modernen Kunstmuseen einen Mehrwert darstellen. In einer durch Rationalität entzauberten Welt kommen sie dem Wunsch nach Wiederverzauberung und Ästhetisierung des Lebens entgegen; anstelle der Kirchen präsentieren sie sich als Orte gesteigerter und verdichteter Realität.
(3.2.) Kunst und Religion gehören ursprünglich eng zusammen. Beide drücken auf ihre Weise aus, was uns unbedingt angeht, die existentielle Betroffenheit durch eine letztgültige Wirklichkeit. Beide benötigen Symbole als Zeichen, die im Anschaulichen das Unanschauliche darstellen. Die Geschichte von Kunst und Religion ist Beleg für ihre Nähe. In der vormodernen Gesellschaft war die Verbindung von Kunst und Religiosität, Kunst und Kult, Kunst und Kirche unübersehbar und mit Händen zu greifen. Tanz und Bewegung, Literatur in Lyrik und Epik, bildende Kunst in Plastik und Malerei und vor allem Musik standen für sehr lange Zeiten - das ganze Mittelalter hindurch - im Dienst der Religion, d.h. des katholischen Glaubens. Die Künste sahen ihre Aufgabe in der Aneignung und Interpretation der christlichen Überlieferung; erst mit Renaissance, Reformation und Aufklärung setzte ihre Verselbständigung gegenüber der offiziellen Religion ein. Der Protestantismus hat stilbildend vor allem auf die Musik, aber kaum auf die bildende Kunst gewirkt. Die Kirchenmusik kann in der evangelischen Kirche auf eine bedeutende, ungebrochene Traditionslinie zurückgreifen; zu anderen künstlerischen Bereichen jedoch - wie den bildenden und den Körper-Künsten - hat der Protestantismus über lange Zeiten eine wachsende Distanz aufgebaut. Die sich autonomisierende Kunst und die autonomen Künstler galten im ausgehenden 19. Jahrhundert in puritanischen Kreisen geradezu als Inbegriff weltlicher Gefahren, ja der Verführung durch das Böse und "Babylon". Die Geschichte der Mißachtung künstlerischer Projekte und des Unverständnisses für ihren religiösen Gehalt ließe sich anhand peinlicher Beispiele bis in die Gegenwart verlängern.
(3.3.) Kirche und Kunst sind heute ausdifferenziert als eigenständige Systeme darstellenden Handelns. Im Themenkatalog moderner Kunst ist die christliche Überlieferung ein Strukturelement neben anderen. Daß sich die Kunst seit Beginn der Moderne zunehmend weniger als Magd der Kirche und als Instrument der Selbstauslegung christlicher Tradition versteht, rechtfertigt aber keineswegs die Behauptung vom endgültigen Auseinandertreten von Kunst und Religion. Sie erweist sich vielmehr als ein ideologisch besetztes Vorurteil. Das gilt für die restaurative These, die den Verlust der (religiösen) Mitte in der Kunst beklagt, aber auch für die "progressive" Variante, die das Ende und die Bedeutungslosigkeit der Religion für die Kunst der Moderne proklamiert. Denn die Autonomie gegenüber verfaßter Religion und Kirche bedeutet, daß die moderne Kunst die Freiheit gewonnen hat, selbst Ausdrucksgestalt des Schönen, des Erhabenen und so auch des Heiligen zu sein - allerdings in einem nicht mehr kirchlich normierten und normierbaren Sinn. Der religiösen Dimension moderner Kunst wird man nicht gewahr, indem man nach überlieferten christlichen Motiven oder Vorstellungskomplexen sucht. Das objektive symbolische Repertoire der tradierten Religion erscheint gebrochen durch die schöpferische Subjektivität der Künstlerinnen und Künstler, die alte Symbole umformen und neue Mythen schaffen. Unter den Bedingungen der Moderne erweist sich die Nähe von Kunst und Religion darin, daß sie in unterschiedlicher Form an die individuelle Erfahrung gebunden sind und auf sie verweisen: Das Werk wird zum Kunstwerk erst im Prozeß ästhetischer Erfahrung; ebenso finden bloßes Offenbarungswissen und kirchliche Lehre so lange keine Plausibilität und Akzeptanz, wie sie nicht das Selbstverständnis von Individuen besser erschließen. Reflektiert Religion das Bewußtsein der Endlichkeit des menschlichen Selbst im Verhältnis zu Gott, zum Grund seiner Existenz, so geht es in der Kunst um die Erfahrung des (zweck)freien Zusammenspiels von Selbst und Welt. Deshalb benötigen Religion und Glaube die Sprache der Kunst (Ton, Gebärde, Form, Farbe); und deshalb kann ein Kunstwerk auch dann Religion zur Sprache bringen, wenn es dem überlieferten Christentum und der institutionalisierten Kirche radikal opponiert.
(3.4.) Oft wird in den Werken, in den Bildern unmittelbar Orientierung und Sinnerfahrung gesucht. Gerade moderne Kunst hat aber an Sicherheiten wenig zu bieten und schützt nicht vor Irrtümern. Ihre Modernität erweist sich in der Destabilisierung und Verunsicherung, in Kritik, ja Zerstörung überkommener Muster. Nur weil das moderne Subjekt seine Irritationen und seine Möglichkeiten gerade in modernen Kunstwerken spiegeln kann, werden sie im Gegensatz zur Intention vieler Künstlerinnen und Künstler zu "Tröstern", indem sie bestätigen, was der Rezipient immer schon weiß und erfahren hat. Im Bedürfnis nach Trost angesichts der Unverfügbarkeiten der individuellen und der kollektiven Zukunft, im Wunsch nach Kompensation für die Entfremdungserfahrungen des Alltags könnte ein Hauptmotiv des neuen Masseninteresses an Kunst liegen. In der Kunst wird wie in der Religion sinngebende Vergewisserung statt Provokation, Lebensbewältigung statt Steigerung von Kontingenz gesucht. Weder die zeitgenössische Kunst noch das genuine Christentum erschöpfen sich jedoch darin, solche konventionellen religiösen Erwartungen zu erfüllen. Moderne Kunst und christliche Botschaft stellen eingespielte Selbstverständnisse in Frage. Das von ihnen jeweils intendierte neue Zusammenspiel von Selbst und Welt bzw. Selbst und Gott kommt nur zustande, wenn die funktionalen Regelkreise durchbrochen, wenn das Alltagsbewußtsein aufgestört und über sich selbst hinausgetrieben wird. Kunst muß beides sein, sinnlich-bildhafter Ausdruck und dessen kritische Überschreitung zugleich. Und christlicher Glaube lebt von der Erfahrung, daß - dem jüdischen Bilderverbot gemäß (vgl. 2.Mose 20,4f) - alle Gottesbilder zerbrechen und dennoch ihren endgültigen und einzigen Ausdruck in einem Bild finden: im Bild des inkarnierten, fleischgewordenen Gottes am Kreuz. Das Kreuz Jesu Christi ist ein Bild der Bildlosigkeit, ein Bild der Bildkritik. Darin besteht wohl der tiefste und faszinierendste Konvergenzpunkt von genuinem Christentum und moderner Kunst.
(3.5.) Die evangelischen Kirchen haben Anlaß, sich ohne Berührungsängste für den Dialog mit moderner Kunst zu öffnen. Ein wesentlicher Ansatzpunkt dafür ist die Wiederentdeckung des Kirchenraums. Er bietet die unersetzbare Chance, die Ausdrucksgestalten der Kunst mit religiöser Erfahrung in Verbindung zu bringen. Sensibilität für die ästhetischen Qualitäten des Kirchenraums ebenso wie für die liturgische Gestaltung des Gottesdienstes einschließlich der Sprachgestalt der Predigt ist dafür eine (leider keineswegs selbstverständliche) Voraussetzung. Gegenwärtig werden insbesondere Innenstadtkirchen als Orte der Kunst, von Ausstellungen, Lesungen, Konzerten etc. entdeckt und zugänglich gemacht. Trotz vieler Schwierigkeiten, das gemeindliche Ghetto aufzubrechen, zeigt sich darin eine Tendenz vom Konflikt zum Dialog. Vielleicht wird sie dadurch gefördert, daß unter "postmodernen" Bedingungen ehemals scharfe Trennungen und Distanzierungen zugunsten neuer Annäherungen und Mischungen an Bedeutung verlieren. Konfliktfrei kann und wird dieser Dialog dennoch nicht sein. Die Zeit einseitiger Dienstverhältnisse ist vorbei. Kunst läßt sich nicht mehr kirchlich einbinden, auch und zumal dann nicht, wenn sie sich explizit mit religiösen Themen beschäftigt.
4. Jugendkultur
Jugendliche kommen mit religiösen Sinnangeboten und religiöser Praxis vor allem durch Fernsehen, Film und Musik in Berührung. Die in der Jugendkultur mannigfach anzutreffenden (ersatz-)religiösen Symbole, Werte und Orientierungen müssen von der Kirche thematisiert werden. Viele Jugendliche sind (wie auch Erwachsene) für Manipulationen der Werbeindustrie und Konsumdruck empfänglich; sie bedürfen der Hilfe zur Selbstfindung. Nicht nur das jugenspezifische Veranstaltungsprogramm, auch das reguläre Angebot in den Kirchengemeinden sollte für Jugendliche ansprechender gestaltet werden.
(4.1.) Folgt man der 17. Shell-Jugend-Studie "Jugend '97", so haben über 50 % der Jugendlichen wenig oder sehr wenig Vertrauen zur Institution Kirche. Neben vielen anderen Faktoren dürfte für dieses Ergebnis auch die mangelnde Präsenz der Kirche im Alltagsleben Jugendlicher verantwortlich sein. Die Kirche wird überwiegend als Institution der Erwachsenen und das Christentum im Gewand der Vergangenheit erlebt. Dabei fehlt es im Protestantismus nicht an zahlreichen Versuchen, auch diejenigen Jugendlichen zu erreichen, die nicht von Kindesbeinen an mit Kirche und Glauben vertraut sind. Außerhalb des Alltags und der Ortsgemeinde sind z.B. die Kirchentage oder die ökumenischen Taizé-Begegnungen zu nennen. Aber auch in der kirchlichen Jugendarbeit besteht zum Teil eine große Innovationsbereitschaft. Für Jugendgottesdienste gibt es viele Gestaltungskonzepte; besonders im musikalischen Bereich werden immer wieder neue Formen mit Erfolg erprobt, wie z. B. Ten Sing und Gospel-Chöre. Bei Jugendlichen ist jedoch die Entkoppelung von individueller Religiosität und kirchlicher Religion besonders stark. Viele der heutigen Jugendlichen sind Medien- und Konsumkinder, wichtige Bestandteile ihrer Kultur sind Musik, Mode, Sport, Kino, Medien, Computer, Kneipen und eigene Sprachformen.
(4.2.) Durch ihre Freizeitkultur werden Jugendliche im Alltag allerdings stärker mit Religion, Kirche und Glaube konfrontiert, als ihnen selbst bewußt ist. Oft genug sehen sie in Kinofilmen oder Fernsehserien kirchliche Trauungen, bei Beerdigungen ist meist noch der Pfarrer dabei. In der Werbung begegnet man nicht selten seinem persönlichen Schutzengel, der einem den Abschluß einer Versicherung nahelegt, falls er gerade nicht zur Stelle sein sollte. In Fußballstadien oder bei Popkonzerten versammeln sich "Fans" ("Fan" leitet sich vom lateinischen "fanum" - das Heiligtum ab; zugleich klingt der "fanaticus", der Verrückte an), um ihren Stars zuzujubeln und sie nach ganz bestimmten "Liturgien" zu verehren. In der Popkultur werden Schlagerstars von ihren "Gemeinden" als "Meister" oder "Kreuzritter der Zärtlichkeit" verehrt, die "uns alle lieb haben". Natürlich gehen nicht nur Jugendliche zum Fußball, ins Kino oder sehen fern. Aber im Gegensatz zur Mehrheit der Erwachsenen sind sie in ihrer Werteorientierung weniger festgelegt und nehmen neue Impulse und Zeitströmungen aufgrund ihrer noch mangelnden sozialen Anerkennung offener und schneller auf.
(4.3.) Die Texte der Popmusik der letzten dreißig Jahre - von den Songs der Beatles über Musicals mit biblischen Stoffen bis hin zu boy- and girlgroups - sind eine Fundgrube der Volksreligiosität. Die religiöse Dimension der Texte ist vielen Jugendlichen eine Orientierungshilfe. Welche Rolle z.B. die Frage nach einem Leben nach dem Tod für Jugendliche spielt, zeigt u.a. Celine Dions Titanic-Hit "My heart will go on". Einmal ist Gott ein Unbekannter wie in Bon Jovis "Keep the faith", dann erscheint er als einer von uns, der mit uns zusammen im Bus sitzt, wie in Joan Osbornes "One of us". In CD-Heften findet man Thanks-Listen mit Verweisen auf die Bibel oder den Dank an Gott und Jesus. Das religiöse Image der Stars bietet Identifikationsmöglichkeiten, auch wenn es oft nur unter Marketing-Gesichtspunkten eingesetzt wird.
(4.4.) Auch die gegenwärtigen neuen Kontaktversuche zwischen Kirche und Jugendkultur beziehen sich vor allem auf die Musikszene. Dabei sind RAP und Techno unterschiedliche Ausdrucksformen jugendlichen Lebensgefühls mit zum Teil gegensätzlichen weltanschaulichen Hintergründen. In der RAP-Musik steht eine klare, sprachlich zu kommunizierende Botschaft im Mittelpunkt; sie folgt dem Pulsschlag und bleibt im Einklang mit dem körpereigenen Rhythmus. Realistisch und selbstbewußt wendet sich der RAP sozialkritischen Fragen wie z.B. Gewalt, Rassismus und Intoleranz zu. Ein anderes, innerkirchlich stark umstrittenes Begegnungsfeld zwischen Kirche und Jugendkultur sind dagegen Rave-Veranstaltungen. Im Techno wirken Musik (bzw. elektronische Soundeffekte) und Tanz wie eine Ekstase- und Trancetechnik; deshalb gehören für manche Techno und "Ecstasy" zusammen. Die Party vermittelt das Gefühl, einer großen, alle Grenzen überschreitenden Familie anzugehören, aber die Grundwerte "love, peace and unity" bleiben weitgehend unbestimmt. Raves sind eher unpolitische kollektive Inszenierungen, die es ermöglichen, auf Zeit den Alltag mit seinen festen Rollen zu transzendieren, den Körper aus seinen gewohnten Bahnen zu bringen und im folgenlosen "hier und jetzt" den lustvollen Ausstieg in eine Gegenwelt zu erproben. In der Begegnung mit der Techno-Kultur wird die Kirche mindestens in diesen Punkten Anfragen an die impliziten religiösen Voraussetzungen und die ethischen Selbstbindungen der Rave-Bewegung richten müssen.
(4.5.) Immer wieder kommen religiöse Symbole, Fragen und Botschaften z.B. in Musikvideos und Werbung verpackt daher. Schenkt man der Werbeindustrie Glauben, so lassen sich die Probleme des Alltags mit dem Kauf eines Artikels lösen, wenigstens aber mindern oder vergessen. Für die Lebensprobleme in der Pubertät werden dann seelsorgerlicher Beistand, Freunde und Familie scheinbar überflüssig, da es ja Clearasil, Levis-Jeans und die Bravo gibt. Welchen Weg man zwischen Anpassung und Individualität, zwischen Schein und Sein geht, bleibt letztlich den einzelnen überlassen, die dabei dem Anpassungsdruck ihres sozialen Umfelds und den manipulativen Wirkungen der Werbung ausgesetzt sind. In ihrer sozialen Anerkennung sind Jugendliche stark von den gängigen Schönheitsidealen und der neuesten Markenkleidung abhängig. Die Kirche hat hier die Aufgabe, Jugendliche in ihrer Identitätsbildung zu unterstützen. Sie kann im Unterricht und in der offenen Jugendarbeit Angebote bereitstellen, in denen man sich selbst "ausprobieren" kann: etwa in bezug auf Aussehen, Kleidung oder Musik. Das veränderte Medienverhalten sollte auch Konsequenzen für die kirchliche Arbeit mit Jugendlichen haben, so sind beispielsweise Werbespots für die Kirche nach wie vor eine Seltenheit. Eine Herausforderung für die Kirche wären neue Formen der Öffentlichkeitsarbeit, Jugendliche könnten durchaus an den kirchlichen Internet-Angeboten beteiligt werden oder eine eigene zeitgemäße kirchliche Jugendzeitung herausgeben.
(4.6.) Die religiösen Gefühle, Motive, Werte und Orientierungen, die in der Jugendkultur anzutreffen sind, dürfen nicht kommerziellen Anbietern überlassen werden. Der Kirche fällt eine Schutzverpflichtung gegenüber den einzelnen religiös suchenden Menschen und hier besonders den Kindern und Jugendlichen zu. Ihr kann sie nur nachkommen, wenn sie sich als offenes Haus organisiert. Sie wird dabei akzeptieren müssen, daß die private und individuelle Religiosität der Menschen mit der kirchlichen Religion nur eine mehr oder weniger große Schnittmenge gemeinsam hat. Dabei genügt es nicht, junge Menschen durch speziell auf sie zugeschnittene Sonderveranstaltungen anzusprechen, auch das reguläre Angebot muß für Jugendliche interessanter und zeitgemäßer gestaltet werden.
5. Bildung und Wissenschaft
Der Protestantismus hat sich von Anfang an als Bildungsbewegung verstanden. Sein Bildungsauftrag ist weder auf bestimmte Themen noch auf bestimmte Lebensphasen begrenzt. Er zielt auf die Förderung von Urteils- und Kommunikationsfähigkeit und nicht bloß auf die Vermittlung religiösen Spezialwissens. Er kann sich nicht in der Mitwirkung innerhalb der staatlichen Bildungseinrichtungen erschöpfen, sondern schließt Bildungsaktivitäten der Ortsgemeinden ebenso ein wie profilierte Bildungseinrichtungen in kirchlicher Trägerschaft. Insbesondere in den Wissenschaftsinstitutionen ist es heute erforderlich, den Stellenwert des Orientierungswissens gegenüber dem reinen Verfügungswissen zu stärken. Christliche Theologie hat deshalb an der Universität nicht nur einen historisch begründeten, sondern auch einen aktuell notwendigen Ort.
(5.1.) Weil niemand Christ werden kann, ohne von Jesus Christus gehört zu haben, ist das Christentum von seinen Anfängen an, wie auch die anderen "Buchreligionen", bildungsinteressiert. Das "Buch" der Christenheit, Bibel genannt, ist für sie das Zeugnis der Geschichte Gottes mit den Menschen. Sie muß gelesen, verstanden und ausgelegt werden. Zwar haben die Reformatoren aufs neue darauf hingewiesen, daß der christliche Glaube aus bloßen Kenntnissen weder entsteht noch besteht, sondern sich der lebendigen Stimme des Evangeliums verdankt, die die Herzen für Gottes richtendes und aufrichtendes Wort öffnet. Gleichwohl haben sie die Stadträte zur Gründung von Bürgerschulen aufgefordert, Universitäten reformiert und die Pfarrer auf Lebensführung und Lehre hin visitiert. Denn zwar ersetzt Bildung den Glauben nicht und der Glaube, das gelebte Vertrauen auf Gottes Gnade, ist gewiß nicht vom Bildungsgrad abhängig. Aber umgekehrt ersetzt auch der Glaube die Bildung nicht. Luthers Bibelübersetzung war auch ein emanzipatorischer Akt, der die Kluft zwischen religiösen Fachleuten und religiösen Laien überwinden sollte. Jeder Christ sollte selbst die Urkunde des christlichen Glaubens lesen und Rechenschaft geben können über den Grund seines Glaubens.
(5.2.) "Wir sind dazu geboren, uns im Gespräch einander mitzuteilen", hat Melanchthon gesagt, denn "die Menschen sollen einander über Gott und die ethischen Pflichten unterrichten". Beides ist nämlich weder angeboren noch selbstevident. Orientierungswissen muß vermittelt und erworben werden. Und er hat eindringlich vor den Folgen unwissender Religion gewarnt, denn ohne Bildung wird auch das Evangelium verdunkelt, es drohen Fanatismus und Fundamentalismus. Bildung nennt Melanchthon eruditio, zu deutsch "Entrohung", das Gegenteil also zur Verrohung, die immer dann droht, wenn Menschen weder sich verständlich machen noch andere verstehen können oder wollen. Insofern ist Bildung auch ein Gebot der Nächstenliebe. Die kirchliche Bildungsverantwortung zielt deshalb nicht nur auf die Vermittlung eines religiösen Spezialwissens, sondern immer auch auf die Förderung von Urteilsfähigkeit und Kommunikationsfähigkeit. Sie ist weder auf ein Spezialgebiet noch auf einen Lebensabschnitt eingegrenzt.
(5.3.) In Deutschland steht das Schulwesen unter der Aufsicht des föderal strukturierten Staates. Das heißt aber gerade nicht, daß dem Staat die Alleinzuständigkeit für die Schulen zukommt. Neben staatlichen Schulen sind auch private Schulen möglich, und die staatliche Aufsicht hat dafür zu sorgen, daß beide denselben Standards genügen und dieselben Chancen haben. Privatschulen dürfen nicht geschlossene Privatveranstaltungen sein, sie sind Initiativen der Gesellschaft und insofern ebenfalls "öffentliche" Schulen. Die christlichen Kirchen begrüßen diese Regelung, weil sie Schulen in kirchlicher Trägerschaft ermöglicht, die solchen Eltern und Kindern, die das wünschen, eine Bildung eröffnet, in der die christlichen Traditionen gründlicher bekanntgemacht werden können, als das in einer Schule staatlicher Trägerschaft vertretbar ist. Denn es sind die in ihrem Fachgebiet oder Beruf hochkompetenten und zugleich theologisch urteilsfähigen Gemeindeglieder, von denen der spezifisch protestantische Beitrag zum öffentlichen Leben erwartet wird. Die Kirche begrüßt diese Regelung aber auch deshalb, weil sie berücksichtigt, daß der Staat die Gesellschaft nicht zu dirigieren, sondern lediglich deren Aktivitäten zu regulieren hat. Für das Leben an den Schulen jedweder Trägerschaft muß deshalb die Kooperation von Lehrerschaft, Schülerschaft, Elternschaft und Vertretern lokaler Institutionen gewährleistet sein. Für ein über die staatliche Schulaufsicht hinausgehendes staatliches Schulmonopol hat die DDR ein abschreckendes Beispiel gegeben, nämlich das einer Ideologisierung und Beschneidung der Bildungsgehalte.
(5.4.) Bildung ist mehr als Ausbildung, denn jeder Mensch ist nach christlichem Verständnis mehr als ein nützliches Glied der Gesellschaft, für das sich allemal ein ebenso nützliches Ersatzglied finden ließe. Die Schule muß selbstverständlich auch auf eine Berufsausbildung vorbereiten und dabei die Anforderungen des Berufslebens, also auch ökonomische Erfordernisse berücksichtigen. Darin kann sich ihr Auftrag aber nicht erschöpfen. Schulen müssen ein Ort des sozialen Lernens sein sowie die Bildung von Individualität und Personalität fördern. Sie dürfen nicht nur anwendbares Wissen vermitteln, sondern müssen auch die Fähigkeit zur Urteilsbildung fördern und Orientierungswissen vermitteln. Eine wertneutrale Bildung wäre ein Widerspruch in sich.
(5.5.) Die Bildungsverantwortung der Kirche für den Religionsunterricht ist in institutioneller Hinsicht durchaus als ein exemplarischer Beitrag zur Schulentwicklung im Sinn des Konzepts der öffentlichen Schule in der pluralistischen Gesellschaft zu verstehen. (Vgl. dazu: Identität und Verständigung. Standort und Perspektiven des Religionsunterrichtes in der Pluralität. Eine Denkschrift der Evangelischen Kirche in Deutschland, Gütersloh 1994) Um seiner Religionsneutralität willen kann und darf der Staat die Verantwortung für die Inhalte des Religionsunterrichts nicht selbst übernehmen; er muß vielmehr - wie es das Grundgesetz (Art. 7, 3) vorsieht - ermöglichen, daß dieser Unterricht gemäß den Grundsätzen der Religionsgemeinschaften erteilt wird, soweit diese den staatlichen Zulassungskriterien genügen. Der evangelische Religionsunterricht wird deshalb von Lehrkräften erteilt, die eine kirchliche Befugnis (vocatio) besitzen; er ist aber grundsätzlich für alle Schülerinnen und Schüler - unabhängig von ihrer Konfessionszugehörigkeit - offen. Besonders dringlich erscheint es, neben christlichem und jüdischem auch islamischen Religionsunterricht zu ermöglichen; in letzterem Fall erwies es sich allerdings bisher als schwierig, den Anforderungen zu genügen, die an den Religionsunterricht als ordentliches Lehrfach zu stellen sind. Für Schülerinnen und Schüler, die keines der an einer Schule vorgesehenen Angebote an Religionsunterricht wahrnehmen, kann und sollte der Staat ein in seiner Verantwortung erteiltes gleichberechtigtes Fach im Bereich der Wertorientierung ("Ethik" oder "Praktische Philosophie" mit religionskundlichen Elementen) einrichten. Im Rahmen eines solchen Lern- bzw. Wahlpflichtbereichs sollten projektförmige Kooperationen vorgesehen werden.
(5.6.) Wir leben in einer wesentlich durch die Wissenschaften geprägten Kultur. Dabei dominieren diejenigen Wissenschaften, die technisch und sozial anwendbares Wissen produzieren, das unsere Handlungsmöglichkeiten erweitert und so zugleich unsere Lebensbedingungen verändert. Dieses Wissen kann Verfügungswissen genannt werden. Es ist ein Kennzeichen solchen Wissens, daß es nur vorläufige Geltung beansprucht, denn es unterliegt jederzeit der Kritik und Revision, es wird durch das effektivere Wissen mit umfassenderer und besserer Anwendbarkeit überholt. Außerdem vergrößert die Erweiterung solchen Wissens immer auch den Bereich des Nichtwissens, indem es, zumal hinsichtlich der Rückwirkungen seiner Anwendungen, offene Fragen erzeugt.
Als weniger wichtig gilt solches Wissen, das gar nicht auf technische Anwendbarkeit ausgerichtet ist, sondern der Bemühung entstammt, uns und unsere Welt besser und angemessen zu verstehen. Dieses Wissen kann man als Orientierungswissen bezeichnen. Hierher gehören alle Wissensbemühungen, die sich der Frage stellen: "Was ist der Mensch?" Gegen solche Fragen wird heute oft eingewendet, daß sie den Kriterien der Wissenschaftlichkeit nicht genügen; aber offensichtlich sind sie unentbehrlich. Menschliche Handlungsziele, Normen und Werte müssen auf anderem Wege gewonnen werden als Verfügungswissen. Sie lassen sich weder errechnen noch experimentell erheben. Da Menschen nur einmal leben, können sie mit ihrer eigenen Lebensführung nur sehr begrenzt experimentieren und jedenfalls nie alle Möglichkeiten ausprobieren, um die beste zu wählen. Lebensorientierung muß auf anderen Wegen gewonnen werden. Die ethische Dimension liegt nicht im Bereich des Verfügungswissens. Aber sie meldet sich immer dringlicher zu Wort. Deshalb wächst heute das Interesse an angewandter Ethik, Medizinethik, Wirtschaftsethik usw.
Am Beispiel der Gentechnologie zeigt sich besonders deutlich, daß (natur-) wissenschaftliche Forschung ethische Fragen aufwirft, die sie selbst nicht beantworten kann. Nicht alles, was machbar ist, kann und darf auch gemacht werden. So schwierig und strittig die Grenzziehung auch sein mag, so wenig läßt sie sich umgehen. Die notwendige Freiheit der Forschung gerät an ihre Grenze, wenn die Anwendung ihrer Ergebnisse dazu führt, grundlegende Bedingungen der menschlichen Freiheit aufzuheben und das Wesen des Menschen selbst zu gefährden. Deshalb sind hier ja auch durch Gesetze Grenzen gezogen. Eingreifende Experimente an Menschen sind grundsätzlich verboten. Der aktuelle Streitfall ist die sich eröffnende Möglichkeit des Klonens von Menschen.
(5.7.) Nachdem sich die Konzeption einer geschlossenen "wissenschaftlichen Weltanschauung", wie sie noch vom Marxismus-Leninismus vertreten wurde, als undurchführbar erwiesen hat, muß das Verhältnis zwischen Religion und christlichem Glauben einerseits und Wissenschaft andererseits nicht mehr als kontradiktorisch begriffen werden. Es ist aber deswegen keineswegs harmonisch. Zwar kann die Aussage auf allgemeine Zustimmung rechnen, daß Verfügungswissen kein Orientierungswissen erzeugen kann. Aber weiter geht der Konsens nicht. Denn dann stehen trotzdem noch viele konkurrierende Wege offen, die allerdings heute zumeist mehr praktiziert als diskutiert, mehr erlebt als bewußt verantwortet gelebt werden. Hier dürfen die Christen und die Kirchen das, was sie trägt und bewegt, nicht verschweigen. Sie sollten den Streit um die Frage, was der Mensch ist und was ihn tragen und halten kann, der in Beliebigkeit zu versanden droht, anfachen, zumal dort, wo das Wesen des Menschen, seine Freiheit, Würde und Verantwortungsfähigkeit bedroht werden.
(5.8.) Nicht nur außerhalb, auch innerhalb der Kirchen wird des öfteren die Frage nach dem Wissenschaftscharakter der Theologie aufgeworfen. Damit verbindet sich die Frage, ob sie ihren legitimen Ort an staatlichen Universitäten besitzt. Richtig ist: Wenn es gelebten christlichen Glauben, verfaßte Kirchen und ein öffentliches Interesse am Christentum nicht gäbe, existierte auch dieses Fach in der jetzigen Form nicht. Seine Themen würden sich auf andere Disziplinen wie Altphilologie, Geschichte, Religionswissenschaft, Philosophie etc. verteilen. Richtig ist ebenso: Zur Ausbildung von Pfarrerinnen und Pfarrern könnten die Kirchen auch eigene Institute unterhalten. Gegenüber einer staatlich instrumentalisierten und ideologisierten "Wissenschaft" - wie unter dem Nationalsozialismus und in der DDR - wäre dies sogar geboten. Das ist aber nicht der Normalfall. Nach protestantischem Verständnis kann die Orientierungskraft des Christentums nicht durch autoritative Wahrheitsansprüche gesichert werden, sondern setzt die kritisch-reflexive Interpretation und Aneignung der Tradition voraus. In diesem Sinn bejahen die evangelischen Kirchen die Existenz freier theologischer Forschung und Lehre. Indem der Staat für die Ausbildung der Geistlichen sowie der Religionslehrerinnen und Religionslehrer wissenschaftliche Standards garantiert, beugt er religiösem Fundamentalismus und Irrationalismus wirksam vor. In einer über ihre christlichen Herkunftsbedingungen aufgeklärten Gesellschaft gehört es über bloße Ausbildungszwecke hinaus zum Kulturauftrag des Staates, zu gewährleisten, daß an den Universitäten Theologie als Wissenschaft vom Christentum sachgemäß betrieben werden kann. "Sachgemäß" bedeutet im Fall der Theologie wie jeder Wissenschaft: Sie ist wissenschaftlich in dem Sinne, daß sie der Wahrheit verpflichtet ist, über ihre Voraussetzungen, Methoden und Grenzen Rechenschaft gibt, ihre Ergebnisse diskutierbar (also auch ablehnbar) macht und ihre Arbeit im Kontakt mit den jeweiligen Nachbarwissenschaften betreibt. "Sachgemäß" bedeutet aber auch: Als Gegenstand wissenschaftlicher Bemühung kann das Christentum (wie jede andere Hochreligion) nicht lediglich aus einer neutralen Beobachterperspektive thematisiert werden, die die Wahrheitsfrage ausklammert. In Anbetracht der Zahl der in Deutschland lebenden Muslime ist auch die Einrichtung von Lehrstühlen für islamische Theologie wünschenswert.
6. Medien
Solange die Kulturformen der Rede, der Schrift und des Abbildens die Unverfügbarkeit Gottes wahren, kommt prinzipiell jede von ihnen als Medium christlich-religiöser Kommunikation in Betracht. Die protestantische Auszeichnung des "Wortes" bleibt aber von Bedeutung, weil sie der Gegenseitigkeit menschlicher Kommunikation adäquater ist als die Fixierung auf die Schrift oder das Überwältigtwerden durch Bilder. Die modernen Massenmedien und die neuesten Kummunikationstechniken sind nicht nur in ihren sozialen Folgen ethisch ambivalent. Sie prägen auch das Selbst- und Weltverständnis in seiner religiösen Dimension.
(6.1.) Trotz anhaltender, immer wieder aufbrechender Kontroversen und unterschiedlicher konfessioneller Akzente hat das Christentum ein ausgewogenes Verhältnis der Kommunikationsmedien "Wort", "Schrift" und "Bild" hervorgebracht. Diese Kulturleistung geht auf den Grund der christlichen Religion zurück: sie konnte offenbar im Wirkungsbereich eines Glaubens gelingen, der Jesus, den Ausleger der Tora als das gestaltgewordene Wort des bildlosen Gottes verehrt. Der christliche Glaube konnte somit von seinem Zentrum her die jüdische Orientierung an der Schrift mit der platonischen Auszeichnung des Wortes (logos) bzw. des Gesprächs verbinden; darüber hinaus konnte das Christentum in dem Maße Zugang zur Welt der Bilder finden, in dem es die Gottebenbildlichkeit Christi und der Menschen von allen artifiziellen Abbildern zu unterscheiden lernte. Die Reformation betonte zwar das gesprochene Wort als dasjenige Medium des Heilsgeschehens, das der Unverfügbarkeit Gottes am deutlichsten entspricht. Zur Verbreitung und Veröffentlichung der neu entdeckten evangelischen Botschaft benutzte sie aber ohne Zögern das durch die Drucktechnik hervorgebrachte, damals modernste Massenmedium. Dieser geläuterte Pragmatismus bei der Indienstnahme der medientechnischen Entwicklung ist von grundsätzlicher Bedeutung: Solange die menschlichen Kulturformen der Rede, der Schrift und des (Ab-)Bildens die Unverfügbarkeit Gottes wahren, kommt prinzipiell jede von ihnen als Medium christlich-religiöser Kommunikation in Frage. Festzuhalten bleibt aber: Für das Christentum erfüllt sich die authentische religiöse Mitteilung, und damit auch der Grundsinn jeder humanen Kommunikation, in der Primärerfahrung der unmittelbaren Interaktion zwischen leibhaft Anwesenden. Und die vom Protestantismus akzentuierte Bedeutung des Wortes hat jedenfalls indirekt eine Kultur der Rede und des Gesprächs gefördert, die der Gegenseitigkeit menschlicher Kommunikation besser entspricht als die Fixierung auf eine formale Schriftautorität oder das Überwältigtwerden durch Bilder.
(6.2.) Menschliche Kommunikation ist auf Kopräsenz und Gegenseitigkeit der Wahrnehmung angelegt. Mediale Kommunikation dagegen ersetzt - auch dort, wo sie neuerdings "interaktiv" wird - die direkte personale Interaktion durch indirekte, technisch vermittelte Bedeutungsübertragung. Die Entwicklung in den traditionellen elektronischen Medien ist durch eine rasante Vermehrung des Angebots bestimmt; neue Kommunikationsmittel, die bisher getrennte Informations- und Kommunikationstechniken multimedial verknüpfen, und vollends das Internet werden wohl gesellschaftliche Veränderungen nach sich ziehen, die seit der Erfindung Gutenbergs ohne Beispiel sind. Die Folgen dieser Entwicklungen sind schwer kalkulierbar. Befürchtungen und Hoffnungen, Risiken und Chancen stehen einander gegenüber. Die Vervielfältigung der Fernsehprogramme durch private Anbieter bringt einen Zugewinn an Informations-, Unterhaltungs- und Auswahlmöglichkeiten; doch Vielzahl ist notwendigerweise nicht identisch mit qualitativer Vielfalt, das Diktat des Kommerzes sorgt für inhaltliche Nivellierung und senkt das Anspruchsniveau. Die neuen Kommunikationstechniken bieten attraktive Nutzungschancen, nicht zuletzt in Bildung und Wissenschaft; sie vergrößern aber das vorhandene Kompetenzgefälle und bringen ein neues Analphabetentum hervor. Die Computerisierung der Privathaushalte erlaubt es, die strikte Trennung zwischen beruflicher und häuslicher Sphäre aufzulockern; zugleich werden dadurch die Sozialkontakte am Arbeitsplatz reduziert und die Wahrnehmung kollektiver Arbeitnehmerinteressen geschwächt. Die global vernetzten Kommunikationsmedien konstituieren eine Weltöffentlichkeit, die Menschenrechtsverletzungen an entlegensten Orten der Erde skandalisieren kann; zugleich ist das Internet dank seiner Schnelligkeit, Anonymität und mangelnden Kontrollierbarkeit auch eine gefährliche Waffe gegen Humanität, Menschenwürde und eine integre Privatsphäre. Die Folgewirkungen der neuen Kommunikationstechniken sind - wie die jeder Technik - ambivalent und erfordern die Anstrengung einer menschendienlichen und sozialverträglichen Gestaltung. ( Vgl. dazu : Chancen und Risiken der Mediengesellschaft. Gemeinsame Erklärung der Deutschen Bischofskonferenz und des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland, Bonn/Hannover 1997 (Gemeinsame Texte 10).
(6.3.) Die Medien haben heute eine Schlüsselfunktion für die Realitätswahrnehmung gewonnen und prägen unser Selbst- und Weltverständnis nachhaltig. In den konventionellen elektronischen Medien geschieht dies noch überwiegend durch die kommunizierten Inhalte selbst. Durch die Digitalisierung ist die Verschmelzung der Inhalte (Geschichten, Bilder, Töne) mit der Technologie möglich geworden. Durch die Computervernetzung entsteht eine Kommunikationssphäre, die sich gegenüber dem Alltagserleben durch qualitativ andere Formen der Erfahrung von Raum, Zeit und Identität auszeichnet. Die Propheten des "Cyberspace" verkünden bereits den religiösen Charakter der im world wide web möglichen Kommunikationsformen. Die strukturellen Analogien zur religiösen Erfahrung sind in der Tat unübersehbar: Der Raum, in dem sich die Netzbeziehungen abspielen, ist virtuell, ortlos, utopisch; eine körperlose Welt des Geistes, die allen materiellen Schranken enthoben scheint. Im globalen Netz verschmelzen die Zeitzonen, irgendwo ist immer jemand "online", die elektronische Reise evoziert das Vergessen der Zeit, ermöglicht die Erfahrung eines ewigen Jetzt. Die Kommunikatoren können ihre Identität nach Belieben wechseln und neu entwerfen; das Ablegen des alten und Anlegen des neuen Menschen, wie es dem Glauben an Christus verheißen ist (Eph 4,22ff), scheint machbar. Kraft seiner jüdischen Wurzeln hat sich der christliche Glaube von Anfang an mit dualistischen Heilsvorstellungen auseinandergesetzt, die Erlösung als Befreiung der Seele von Körperlichkeit und Leiblichkeit auffaßten. Gegenüber den neognostischen Phantasien des Computerzeitalters enthält das Christentum auch heute ein kulturelles Widerstandspotential, das die Endlichkeit leibgebundener Realität ernstnimmt und zur Auseinandersetzung mit Geburt und Tod, Leiden und Schmerz als Grunddaten der conditio humana anleitet.
(6.4.) Die Dominanz der Medien kann auf seiten ihrer Nutzer, insbesondere der Kinder und Jugendlichen, zum Verlust von realem Erleben und authentischen Erfahrungen führen. Der wachsende Konsum virtuell inszenierter Welten beeinträchtigt Realitätsbezug und Wirklichkeitswahrnehmung. Wenn die menschliche Lebenswirklichkeit, insbesondere Leid- und Konflikterfahrungen zum Gegenstand bloßer Unterhaltung werden, fällt es schwer, zwischen Fiktion und Realität zu unterscheiden. Ein angemessenes Bild von sich selbst und der Welt ist nur auf der Grundlage realer Sozialkontakte und personaler Interaktion zu entwickeln. Die Abhängigkeit von den Angeboten der Massenmedien und die einseitige Nutzung technischer Kommunikationsformen kann die Ausbildung einer eigenen Identität und den Erwerb von kommunikativer Kompetenz verhindern. Daraus ergeben sich wichtige Aufgaben für die Medienpädagogik. Sie sollte Einsicht in die Chancen, Möglichkeiten und Gefahren alter und neuer Medien vermitteln, zu eigenständigem Denken und Handeln motivieren und dazu befähigen, Orte innerhalb und außerhalb der Medien zu entdecken, an denen menschliche Kommunikation möglich ist. Stärkung der Medienkompetenz bedeutet, die herkömmlichen Kulturtechniken Sprechen, Lesen, Schreiben, Rechnen usw. durch die Fertigkeit zu ergänzen, Fernsehen und Computer nicht nur zu benutzen, sondern zu beherrschen, d.h. selbstgesetzten Zwecken unterzuordnen.
(6.5.) Die Massenmedien formen die öffentliche Meinung und bestimmen die gesellschaftliche Tagesordnung. Der seit der Aufklärung etablierte Begriff der Öffentlichkeit hat ursprünglich einen auf das Allgemeine, das gemeinsame Bewußtsein und Wollen der Bürgerinnen und Bürger gerichteten Gehalt. Mit ihm verbindet sich die Idee einer durch ungezwungene Meinungs- und Willensbildung herbeigeführten Regelung der alle betreffenden Angelegenheiten. Das Aufkommen der Presse und der korrespondierenden Kommunikationsfreiheiten hat dieses normativ anspruchsvolle Konzept von Öffentlichkeit und kritischer Publizität hervorgebracht; mit der Veränderung der Kommunikationstechniken ist jedoch ein tiefgreifender Formwandel der Öffentlichkeit verbunden. Das mediale Öffentlichkeitssystem ist zu einem eigenen Teilbereich der Gesellschaft geworden, der allen anderen sozialen und kulturellen Bereichen einen Spiegel der Selbstbeobachtung vorhält. Dabei haben allerdings die Massenmedien die Leitorientierung "Aufklärung" weitgehend durch "Aufmerksamkeit" ersetzt. Seitdem die öffentlich-rechtlichen Sendeanstalten ihre Monopolstellung eingebüßt haben, verstärkt sich dieser Trend nachhaltig. Kommuniziert wird, was die Aufmerksamkeit des Publikums erregen kann und insofern eine Chance hat, öffentliches Interesse zu finden. Der Neuigkeits- und Konfliktwert der Information, die Prominenz der Sprecher, der Sensationsgehalt der Bilder, der Symbolwert der Inszenierung rangieren vor Relevanz und Sachlichkeit der Themen. Die Vervielfältigung der Kanäle erweitert nicht das Forum des gesellschaftlichen Diskurses, sondern fördert die Aufspaltung des Publikums und die Tendenz zu Spartenprogrammen. Die evangelische Kirche setzt sich für eine Medienordnung ein, die in der Lage ist, unterschiedliche gesellschaftliche Gruppen und Überzeugungen zu integrieren, und die das Angebot von Vollprogrammen zur Information, Meinungsbildung, Unterhaltung und Erbauung gewährleistet. Die Kirche sieht ihre Aufgabe jedoch zugleich darin, auf die blinden Flecken des massenmedialen Spiegels der Gesellschaft hinzuweisen, Aufmerksamkeit für die Themen zu erzeugen, die in ihm keinen Platz haben, und so das Augenmerk auf marginalisierte einzelne oder Gruppen zu richten. Mit ihren Bildungsstätten, Akademien und Kirchentagen, aber auch den vielen Gemeinden und Gruppen vor Ort bieten die Kirchen Raum für freie Beratung und argumentativen Streit, für gemeinsinngeleitete Initiativen und wertorientierte Verständigung. Gegenüber der massenmedial vermachteten Öffentlichkeit sind sie Teil einer zivilgesellschaftlichen Alternative.
(6.6.) Dennoch bleiben die Massenmedien wichtige Orte der Information und Diskussion, der Machtkontrolle und Kritik. Sie können dazu beitragen, daß Menschen Verantwortung für sich und andere übernehmen und an gesellschaftlichen Entscheidungsprozessen mitwirken. Sie können auch zur Solidarität mit denen motivieren, die Hilfe brauchen. Die Kirche beteiligt sich deshalb an der qualifizierten Aus- und Fortbildung von Journalistinnen und Journalisten. Ebenso benötigen die Selbstkontrolle der Medienschaffenden und der kontinuierliche berufsethische Dialog öffentliche Unterstützung und Aufmerksamkeit. Auch die Medien und die ihnen zugesicherte Freiheit finden ihre Grenze an der Würde der menschlichen Person. Gerade unter den Bedingungen der modernen Massenkommunikation ist es dringlich, die Unterscheidung zwischen Öffentlichem und Privatem zu respektieren. Das Recht auf Information darf nicht zu einer totalen Enttabuisierung des gesellschaftlichen Lebens führen. Wo Menschenleben unmittelbar bedroht sind, müssen Informationsrecht und -pflicht gegebenenfalls zurückstehen. Zunehmende Gewaltverherrlichung und eine vor allem Frauen und Kinder verachtende Pornographie sind mit dem christlichen Menschenbild unvereinbar. Die Möglichkeit der digitalen Bildherstellung und -veränderung erhöht die Anforderungen an die Wahrhaftigkeit und "Objektivität" der Berichterstattung. Die öffentliche Verspottung christlicher Überzeugungen und Traditionen dient dem Gemeinwesen nicht; wer nach Instituten der Wertevermittlung ruft, darf nicht gleichzeitig Institutionen beschädigen, die sich darum bemühen.
(6.7.) In der Mediengesellschaft verstehen sich die Kirchen als kritische Gegen-Öffentlichkeitlichkeit und als Anwälte für Menschenwürde und verantwortete Freiheit. Gleichzeitig sind jedoch die Massenmedien auch für die Kirche selbst ein wichtiges Instrument der Binnen- und Außenkommunikation. Die Kommunikation des Evangeliums gilt allen Menschen: sie schließt jede selbstgewählte Nischenexistenz aus. Ihrem Auftrag, das Evangelium publik zu machen, kommt die Kirche in Wort, Ton und Bild nach. Die Kirche bejaht die Chancen, die ihr die Medien zur authentischen Selbstdarstellung in Information und Verkündigung bieten. Um am gesamtgesellschaftlichen Diskurs teilnehmen zu können, braucht der Protestantismus aber ebenso eine eigenständige, professionelle Publizistik, die nicht nur verständlich und ansprechend über Christentum und kirchliches Leben informiert, sondern auch die religiöse und ethische Dimension gesellschaftlicher, politischer und kultureller Entwicklungen thematisiert. Die evangelische Kirche ist eine Kirche der Freiheit, nicht der Beliebigkeit. Die protestantische Offenheit für andere Glaubens- und Lebenseinstellungen, die Fähigkeit zu Toleranz und Selbstkritik beruhen auf einer begründeten eigenen Überzeugung. Meinungsbildend können Christen durch und in den Medien nur wirken, wenn sie ihre eigenen Beiträge dialogfähig, aber unverwechselbar einbringen
7. Sport und Spiel
Der Sport gehört zu denjenigen menschlichen Aktivitäten, die ihrer Natur nach zweckfrei und Teil der menschlichen Muße sein sollten. Er ist eine elementare Form, in der Menschen sich selbst als leibseelische Einheit erfahren und zugleich einander in Kooperation und Konkurrenz begegnen können. Bejaht werden kann die Kultur des Sports so lange, wie seine Grenzen beachtet werden und er sich nicht zum Kult des Körpers, des Siegens und der Gewalt verkehrt.
(7.1.) Eine der Wurzeln des Sports ist im Kult zu sehen. Spätwirkungen dieser kultischen Herkunft lassen sich bis in heutige Sportveranstaltungen verfolgen. Die Verbindung einer ersatzreligiösen Funktion mit einem hohen Maß an Kommerzialisierung macht die Zwiespältigkeit mancher sportlicher Großveranstaltungen aus. Doch der Sport enthält zugleich eine Kraft in sich, die seinen Deformationen trotzt. Er ist Teil des kulturellen Lebens der einzelnen, und er ist ein unaufgebbarer Teil gesellschaftlicher Kultur im ganzen. Sportliche Betätigung ist eine elementare Form, in welcher der Mensch für sich selbst, für seinen Körper, seinen Geist und seinen Charakter etwas Gutes tun kann. Im Sport begegnet der Mensch auf eine besondere Weise sich selbst in seiner Leiblichkeit; der sportliche Wettkampf ist zugleich eine besonders intensive Form der Begegnung mit anderen. Sportliche Wettkämpfe mobilisieren die Kräfte und die Einsatzbereitschaft bis zum äußersten; bei den Zuschauern können sie eine Beteiligung auslösen, die in der ganzen Spannweite zwischen Vergnügen und Empörung, zwischen Enttäuschung und Triumph kaum eine Parallele kennt.
(7.2.) Der Sport gehört zu denjenigen menschlichen Aktivitäten, die ihrem Wesen nach zweckfreies Spiel sind. Dies verbindet den Sport beispielsweise mit der Musik. Zwar sind sie für manche auch Mittel des Broterwerbs, aber ihrer Natur nach sind sie zweckfreies Spiel, Teil menschlicher Muße. Arbeit und Muße gehören, wie die biblische Urgeschichte unterstreicht, miteinander zum menschlichen Leben. Daß sie in der Balance bleiben, ist eine besonders wichtige Aufgabe menschlicher Lebensführung. Wer nur arbeitet, führt ebenso ein unvollständiges, ja beschädigtes Leben wie derjenige, der sich nur der Muße und dem Spiel hingibt. Zu dieser Balance beizutragen ist der Sinn allen Spielens. Es ist auch die Aufgabe des Sports. In ihm verknüpft sich ein Bündel von Intentionen, die auf eine ganzheitliche Erfahrung menschlichen Lebens gerichtet sind:
Sport hat eine naturale Dimension. Er ist eine Handlungsform, in der Menschen dem eigenen Körper begegnen; er vollzieht sich in aller Regel als ein Bewegungshandeln in Raum und Zeit. In Gesundheit und körperlicher Unversehrtheit hat dieses Bewegungshandeln einen wichtigen Maßstab und ein wichtiges Ziel.
Sport hat eine personale Dimension. Er dient der Entfaltung der persönlichen Würde, er ist Ausdruck menschlicher Kreativität und Gestaltungskraft. Im Sport begegnet der Mensch sich selbst in der Einheit von Körper, Seele und Geist.
Sport hat schließlich eine soziale Dimension. Im Sport begegnen Menschen einander. Das Zusammenspiel ist für ihn ebenso wichtig wie der Wettkampf. Kooperation und Konkurrenz gehören in ihm zusammen.
(7.3.) Der Sport, der in diesen drei Dimensionen in den Dienst menschlicher Würde zu treten vermag, kann diese Würde auch bedrohen und gefährden. Das geschieht, wenn die kulturelle Gestaltung des Sports mißlingt und er zum Kult verkehrt wird.
So kann die naturale Dimension des Sports in einen Kult des Körpers verkehrt werden. Die Steigerung der körperlichen Leistungsfähigkeit gilt dann als höchster Wert. Wie sich am Beispiel des Doping und des gesundheitsgefährdenden Sports vor allem in Kindheit und Jugend zeigt, kann das zur dauerhaften Schädigung des eigenen Körpers führen. Die personale Dimension des Sports kann in einen Kult des Siegens verkehrt werden. In ihm zählt nur noch die Überlegenheit über den andern. Der Sieg gilt als allein seligmachend; die Rangliste wird zur Bibel. Die soziale Dimension des Sports schließlich kann in einen Kult der Gewalt verkehrt werden. In exzessiven Formen des Sporttreibens wird Gewalt gegen den eigenen Körper ausgeübt; in manchen Mannschaftssportarten verstärken sich die Angriffe auf die körperliche Integrität des Gegners. Im Zusammenhang mit solchen Entwicklungen entlädt sich Gewalt während des Spiels auf den Rängen oder vor und nach dem Wettkampf auf den Straßen. Sport als Beispiel für zweckfreies Spiel wird dann zum Anlaß brutaler Gewalt.
Wenn die Kultur des Sports bewahrt werden soll, dann muß solchen kultischen Verzerrungen entgegengetreten werden. Darin liegt die entscheidende sportpolitische Verantwortung der Gegenwart. Darin liegt zugleich einer der wichtigen Gründe dafür, die Verbindung zwischen Sport und Kirche zu stärken und weiterzuentwickeln. Bewahrt werden kann die Kultur des Sports nur, so lange die Grenzen des Sports beachtet werden. In einem Wort Jesu heißt es: Was nützt es einem Menschen, wenn er die ganze Welt gewinnt, dabei aber sich selbst verliert und Schaden nimmt? (Mt 16,26) Gerade im Blick auf den Sport kann es lebenswichtig sein, das, was Menschen selbst leisten und gewinnen können, von dem zu unterscheiden, was nur Gott ihnen schenken kann.
8. Alltag und Sonntag
Der Wechsel von Arbeit und Ruhe gehört zum geschöpflichen Leben des Menschen. Die Unterbrechung des Alltags durch den christlichen Sonntag macht deutlich, daß der Mensch nicht das ist, was er aus sich macht. Mit ihrem Einsatz für den Schutz des Sonntags treten die Kirchen für ein unverzichtbares Element humaner Sozialkultur ein; denn im Unterschied zur wachsenden Freizeit während der Arbeitswoche ist die freie Zeit des Sonntags gemeinsame Zeit. Entscheidend ist aber letztlich nicht, was die Kirchen politisch fordern, sondern wie Christen und Gemeinden selbst mit dem Sonntag umgehen.
(8.1.) Die Unterscheidung von Alltag und Festtag ist in allen Kulturen und Religionen verbreitet. Seit Kaiser Konstantin im Jahr 321 den Sonntag zum staatlichen Feiertag erklärte, gilt er als eine klassische Institution christlicher Kultur. Sonntage und Feiertage genießen in Deutschland den Schutz der Verfassung. "Der Sonntag und die staatlich anerkannten Feiertage bleiben als Tage der Arbeitsruhe und der seelischen Erhebung gesetzlich geschützt." (Art. 140 GG i.V.m. Art. 139 WRV) Diese Garantie durch Gesetz und Verfassung hat wesentlich dazu beigetragen, daß sich die überlieferte Sonntags- und Feiertagskultur festigen und entfalten konnte: Die große Mehrheit der Erwerbstätigen braucht an den Sonn- und Feiertagen nicht zu arbeiten. Das Programmangebot in Theater, Kino und Fernsehen ist - wenigstens etwas - "erhebender" als sonst. Die Speisekarte zu Hause oder im Lokal ist festlicher als am Alltag. Es gibt gemeinsame freie Zeit, die der Begegnung und dem Zusammensein in Familie, Freundeskreis und Nachbarschaft zugutekommt. Der Gottesdienst hat am Sonntag einen festen Platz.
(8.2.) Seit geraumer Zeit ist die kulturelle Institution des Sonntags einer Erosion ausgesetzt. Verschiedene Entwicklungen tragen dazu bei:
Im Zuge der Pluralisierung und Individualisierung der Lebensstile verlieren viele Konventionen an Bindungskraft, so auch der Sonntag. Es gab und gibt Sonntagskonventionen, die wie eine Zwangsjacke wirken; ihnen gegenüber bedeuten Pluralisierung und Individualisierung einen Zugewinn an persönlicher Gestaltungsfreiheit und sind nicht von vornherein negativ zu beurteilen.
Gravierender ist die Tatsache, daß die Unterbrechung des Alltags durch die Sonn- und Feiertage zunehmend als ökonomischer Nachteil wahrgenommen wird. Es gibt einen starken, ökonomisch motivierten Trend zu stärkerer Flexibilisierung der Arbeitszeit. Dabei ist fraglich, ob das Argument des Wettbewerbsnachteils in allen Fällen zutrifft und ob die globale Wettbewerbswirtschaft mit ihren tendenziell unbegrenzten Anforderungen an die Flexibilität der Erwerbstätigen nicht gerade jene individuelle Stabilität, Entscheidungskraft und Sicherheit untergräbt, die sie voraussetzt. Jedenfalls rechtfertigt die Verbesserung der Wettbewerbsfähigkeit nicht jeden Preis. Hinzu kommt, daß für weite Kreise der Bevölkerung der Sonntag noch bequemer werden soll (Beispiel "Sonntagsbrötchen"), dies aber auf Kosten der gemeinsam geteilten Zeit von Mitmenschen geschieht. Aber der Mensch lebt nicht vom Brot allein. Die entscheidende Frage lautet, wie eine Gesellschaft leben möchte und was den Menschen der Sonntag bedeutet.
Der Sonntag ist deshalb am stärksten dadurch gefährdet, daß immer mehr Menschen mit ihm nichts Rechtes anzufangen wissen; die Ausweitung der gewerblichen Angebote füllt eine Zeit, die ansonsten als leer empfunden wird. Der über Jahrhunderte selbstverständliche Bestand des Sonntags hat dazu geführt, daß die Fähigkeit erheblich geschwunden ist, über den religiösen und sozialen Sinn dieser Institution Rechenschaft zu geben.
(8.3.) Der Wechsel von Arbeit und Ruhe, der Rhythmus von Tätigsein und Feiern gehört zum geschöpflichen Leben des Menschen; er ist - so könnte man sagen - ebenso ernst zu nehmen wie die Pflege der leiblichen Gesundheit. Dies ist ein Grundmotiv der christlichen Feiertagskultur, das die Christenheit mit dem Judentum verbindet. Im 3. bzw. (je nach Zählung) 4. Gebot des Dekalogs heißt es: "Gedenke des Sabbattages, daß du ihn heiligst. Sechs Tage sollst du arbeiten und alle deine Werke tun. Aber am siebenten Tage ist der Sabbat des Herrn, deines Gottes. Da sollst du keine Arbeit tun, auch nicht dein Sohn, deine Tochter, dein Knecht, deine Magd, dein Vieh, auch nicht dein Fremdling, der in deiner Stadt lebt" (2. Mose 20,8ff). Es geht dabei nicht nur um das Heilighalten des Wortes Gottes oder die Heiligung des Lebens im allgemeinen, sondern um die Heiligung eines bestimmten Tages. Heiligen heißt: absondern, von den gewöhnlichen Dingen unterscheiden, herausheben. Der Dekalog verankert das Gebot der Feiertagsheiligung im Schöpfungshandeln Gottes selbst: "Denn in sechs Tagen hat der Herr Himmel und Erde gemacht und das Meer und alles, was darinnen ist, und ruhte am siebenten Tage. Darum segnete der Herr den Sabbattag und heiligte ihn" (2. Mose 20,11, vgl. 1. Mose 2,2). Nicht die Steigerung des Arbeitseinsatzes, nicht die Verdoppelung der Kräfte vollenden das Werk, sondern die Ruhe von der Arbeit. Das ist für den Menschen Zumutung und Trost zugleich: die Zumutung, daß er den Erfolg seiner Arbeit nicht in Händen hat und gewährleisten kann, aber auch der Trost, daß ihm nicht mehr abverlangt wird, als menschenmöglich ist.
(8.4.) Die Christenheit gedenkt mit der Feier des Sonntags des Tages der Auferstehung Jesu Christi. Schon die Begründung der Sabbatheiligungsgebots durch den Gedanken der Ruhe des Schöpfers von seinem Werk hat eine eschatologische Dimension, das heißt, sie ist auf die zukünftige Bestimmung der Welt und der Menschheit bezogen: Alle Arbeit auf Erden geht dem ewigen Sabbat Gottes entgegen, der irdische Feiertag ist sein Abbild. Der christliche Sonntag erinnert an die neue Schöpfung, die in Jesus Christus schon Gegenwart ist, aber als vollendete noch aussteht. Die Welt und das Leben der Menschen gehen auf die große Ruhe Gottes zu, mit der alle Mühe und Arbeit, alles Versagen und Scheitern zu einem Ende kommen. "Es ist also noch eine Ruhe vorhanden für das Volk Gottes. Denn wer zu Gottes Ruhe gekommen ist, der ruht auch von seinen Werken so wie Gott von den seinen" (Hebr 4,9f). Der Sonntag dient nicht nur dem geschöpflichen Leben durch die Ermöglichung leiblicher und seelischer Rekreation; er ist Ausdruck des christlichen Grundverständnisses vom Menschen, das besagt: Der Mensch ist nicht das, was er aus sich macht und machen kann. Die Unterbrechung des Alltags durch den Sonntag befreit den Menschen aus der Fixierung auf seine Arbeit und seine Leistungen.
(8.5.) Der Sonntag ist im christlichen Verständnis ein Symbol des Reichs der Freiheit gegenüber dem Reich der Notwendigkeit. Nun hat allerdings die wirtschaftliche, technische und soziale Entwicklung der Industriegesellschaft in den letzten 150 Jahren die Arbeitszeit drastisch verkürzt und den Umfang der Freizeit dementsprechend ausgeweitet. Tarifliche Arbeitszeitverkürzungen ersetzen jedoch den Sonntag als kulturelle Institution nicht, denn Arbeit, die durch den Sonntag heilsam unterbrochen werden soll, erschöpft sich nicht in Erwerbsarbeit. Vor allem aber unterscheidet sich die freie Zeit des Sonntags von der Freizeit während der Arbeitswoche dadurch, daß sie gemeinsame Zeit ist. Die Flexibilisierung der Arbeitszeit führt dazu, daß bei sinkender Wochenarbeitszeit dennoch weniger gemeinsame freie Zeit zur Verfügung steht. Um so wichtiger ist die gemeinsame Zeit des Sonntags. Sie bedarf institutioneller Gewährleistung. Wenn sich die Kirchen bei Politikern, Unternehmern und Gewerkschaften für verläßliche Regelungen zum Schutz des Sonntags einsetzen, so nicht aus Eigeninteresse, sondern weil sie damit für ein unverzichtbares Element humaner Sozialkultur eintreten.
(8.6.) Kirchen und Christen stehen vor der Aufgabe, den christlichen und deshalb humanen Sinn des Sonntags verständlich zu machen und ihm neue Attraktivität zu verleihen. Ausschlaggebend ist dabei nicht das, was sie zum Schutz des Sonntags politisch fordern; entscheidend ist, wie sie selbst mit ihm umgehen. Die Sonntagskultur - oder eben: -unkultur - im Erscheinungsbild von Gemeinden und Familien sowie der Lebensführung des einzelnen spricht eine deutliche Sprache. In diesem Zusammenhang kommt der Feier des öffentlichen Gottesdienstes eine besondere Bedeutung zu. Der Sonntag wird zwar nicht erst und allein durch den Gottesdienst zum Sonntag; vielmehr kennt die Christenheit das Feiern von Gottesdiensten an jedem Tag der Woche. Die Feier des Gottesdienstes und die Teilnahme an ihm begründen nicht die Heiligung des Sonntags, aber sie bezeugen seinen Sinn. Indem Christen sich zum Gottesdienst versammeln, demonstrieren sie, daß die Unterscheidung des Sonntags vom Alltag dem Leben dient. Die Feier des Gottesdienstes muß das Markenzeichen für die christliche Deutung und Gestaltung des Sonntags sein.