Jahrestag der Befreiung vor 75 Jahren
Grußwort des Bevollmächtigten des Rates der EKD im Berliner Dom
Im Namen des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland grüße ich Sie, sehr geehrte Vertreterinnen und Vertreter des Zentralrats Deutscher Sinti und Roma, des Zentralrats der Juden in Deutschland, des Landesrates der Roma und Sinti Berlin-Brandenburg e.V. und Sie alle, die Sie sich zu diesem Jahrestag der Befreiung des Konzentrations- und Vernichtungslagers Auschwitz - Birkenau vor 75 Jahren hier in den Berliner Dom begeben haben.
Als evangelische Kirche wissen wir uns mitverantwortlich für den Aufstieg der Nationalsozialisten und tragen eine Mitschuld an deren monströsen Verbrechen, insbesondere an dem Völkermord an Juden sowie Roma und Sinti. Nicht nur haben zu viele Kirchenmänner und -frauen geschwiegen, sondern viel zu viele von ihnen haben das Regime unterstützt. Die evangelische Kirche bekennt sich zu der Kollaboration von Gemeindegliedern und Amtsträgern mit dem NS-Regime und stellt sich damit ihrer Mitverantwortung für diese Verbrechen. Auch nach dem 27. Januar 1945 hat es noch gedauert, bis sich die Kirche zu ihrer Schuld bekannte. Im Einzelnen aber und gerade gegenüber den Roma und den Sinti steht dieser Prozess noch ziemlich am Anfang.
Umso dankbarer sind wir, dass der Zentralrat Deutscher Sinti und Roma und der Landesrat der Sinti und Roma Berlin Brandenburg e.V. der Evangelischen Akademie zu Berlin und dem Berliner Dom vorgeschlagen haben, dieses gemeinsame Gedenkkonzert der „Sinti und Roma Philharmoniker“ und des „Synagogal Ensemble Berlin“ zu veranstalten. Zwischen den Menschen, die diesen Abend geplant haben, ist in kurzer Zeit Vertrauen gewachsen. Das ist nicht zuletzt dem Netzwerk Roma, Sinti und Kirchen zu verdanken, das erst seit zwei Jahren besteht. Wir empfinden dieses Vertrauen als großes Geschenk. Ein Geschenk ist auch dieser Abend für alle, die in den Dom gekommen sind und den Musikerinnen und Musikern zuhören. Für das gewachsene Vertrauen und für die erklingende Musik danken wir den Künstlerinnen und Künstlern und denen, die diese Veranstaltung vorbereitet haben. In beidem sehen wir auch ein Geschenk Gottes.
Wir alle wissen, dass Gedenken – in welcher Form auch immer es seinen Ausdruck findet – missbraucht werden kann, um die Gewissen zu beruhigen: Jetzt haben wir selbstkritisch zurückgeschaut und alles ist gut. Nein, das ist es nicht. Verantwortung zu übernehmen, bedeutet mehr als bloße Erinnerung, und sei sie auch noch so selbstkritisch. Verantwortung übernimmt nur, wer auch die Gegenwart und die Zukunft in den Blick nimmt und das Gebotene tut. Von dem im September vergangenen Jahres verstorbenen Schriftsteller und Soziologen György Konrád stammt der Ausdruck: „Erinnerung ist Aufruhr“. Aufruhr heißt, nicht zu schweigen, wenn vergangene Verbrechen vergessen zu werden drohen, und nicht wegzuschauen, wenn frühere Zivilisationsbrüche banalisiert werden. Aufruhr heißt, sich nicht daran zu gewöhnen, dass Antisemitismus und Antiziganismus wieder „gesellschaftsfähig“ werden. Aufruhr heißt, nicht hinzunehmen, dass Menschen andere Menschen als „nicht zugehörig“ abqualifizieren und nicht wegzusehen und nicht zu schweigen, wo Menschen mit Worten oder mit Fäusten angegriffen werden. Zu solchem Aufruhr verpflichtet uns unser christlicher Glaube, der in jedem Menschen das Ebenbild Gottes erkennt.