Grußwort anlässlich einer Buchvorstellung in der Gedenkstätte Dachau

Dr. Irmgard Schwaetzer, Präses der Synode der EKD

Sehr geehrte Damen und Herren, liebe Schwestern und Brüder,

Denken und Erinnern … sind die menschliche Art und Weise, Wurzeln zu schlagen, den eigenen Platz in der Welt … einzunehmen“ schrieb Hannah Arendt einmal.[1] Wenn wir uns erinnern, lernen wir, wer wir sind, indem wir begreifen, wo wir herkommen. Im Guten, wie im Schlechten. Seit 1996 gibt es den Gedenktag für die Opfer des Nationalsozialismus am 27. Januar, dem Datum der Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz durch sowjetische Soldaten im Jahr 1945. Den Anstoß dafür gab der damalige Bundespräsident Roman Herzog, der vor fast genau zwei Jahren [10.1.17] verstorben ist.

Die Ansprache, die er 1996 im Deutschen Bundestag gehalten hat, ist heute noch lesenswert. Herzog sagte damals: „Wir wollen nicht das Entsetzen konservieren … Dieses Gedenken ist [auch] nicht als ein in die Zukunft wirkendes Schuldbekenntnis gemeint. Schuld ist immer höchstpersönlich … sie vererbt sich nicht. Aber die künftige Verantwortung der Deutschen für das ‚Nie wieder!‘ ist besonders groß, weil sich früher viele Deutsche schuldig gemacht haben … Es ist vor allem unser Interesse, aus der Erinnerung zu lernen. Die Erinnerung gibt uns Kraft, weil sie Irrwege vermeiden hilft“.[2] Darum geht es auch heute: um Formen des Erinnerns, die in die Zukunft wirken indem sie Perspektiven eröffnen, Orientierung vermitteln und Verantwortung stärken.

Die Aktualität solcher Sätze ist offensichtlich, wenn gegenwärtig das Gedenken an die nationalsozialistischen Verbrechen geradezu verunglimpft wird und die auf einzigartige Weise menschenverachtenden Untaten dieser Zeit relativiert werden. Es ist kein Zufall, wenn Wiedererstarken nationalistischer und populistischer Parolen und die zunehmende Verweigerung des Gedenkens und der Erinnerung an die dunkelste Epoche deutscher Geschichte Hand in Hand gehen.

Wir erleben, dass Geschichte zu verblassen droht, wo sie nicht mehr Teil des eigenen Erlebens wird. Mit der Erinnerung wird die Verantwortung für die Folgen dieser Geschichte abgestreift. So droht mit der zeitlichen auch die innere Distanz immer größer zu werden.

Die Stimme der Zeitzeugen verstummt. Welchen Verlust das bedeutet, wissen alle, die noch Persönlichkeiten wie den vor zwei Jahren verstorbenen Menschenfreund und Maler Max Mannheimer persönlich erlebt haben, der 1944/45 für einige Zeit im KZ Dachau inhaftiert war und hier als Überlebender der Schoah als Präsident der Lagergemeinschaft und Vizepräsident des Internationalen Dachaukomitees wirkte. Es sind nur noch wenige, die aus eigenem Erleben zu uns sprechen und so dazu beitragen, dass Erinnerung lebendig bleibt. Ernst Grube im Kuratorium der Versöhnungskirche gehört zu ihnen.

Es sind heute fast ausschließlich Zeugen der zweiten Generation, die die Verbrechen der NS-Zeit als Kinder und Heranwachsende erlebt haben und durch das Schicksal der Väter und Mütter mit betroffen waren. Aber auch ihre Stimme wird leiser. Wir wissen, dass die Zeitzeugengespräche, wie wir sie heute mit dem Sohn von Martin Niemöller erleben dürfen, gezählt sind. Das macht sie umso wertvoller und besonders.

Im Übergang zur dritten, vierten und fünften Generation wird das Gedenken und Erinnern immer mehr zu einer Aufgabe, die aktiv gestaltet werden muss und besonderer Mühen bedarf. Weil es um Erinnerung geht, die weitergegeben werden sollen, ist Gedenken eine Bildungsaufgabe. Historische Forschung macht Vergangenheit zugänglich; in der generationsübergreifenden Bildungsarbeit wird sie bewahrt und im öffentlichen Gedenken vergewissernd immer wieder neu angeeignet.

Die KZ-Gedenkstätte Dachau und die Versöhnungskirche sind ein Ort, an dem genau dies geschieht: Aufarbeitung durch Forschung; Weitergabe durch Bildung und Vergewisserung durch öffentliches Gedenken.

Roman Herzog sprach von der historischen Schuld der Deutschen und der daraus erwachsenden Zukunftsverantwortung. Das schließt auch die Kirchen mit ein – gerade in Deutschland und hier in Dachau. Denn die Verstrickung der Kirchen in die nationalsozialistischen Verbrechen gehört auch zu unserer Vergangenheit als Evangelische Kirche in Deutschland und nimmt uns in die Pflicht dafür Sorge zu tragen, dass sich diese Verbrechen niemals wiederholen. Es geht um ein Gedenken als gemeinsame Aufgabe und Verantwortung, das aber die Trennung von Staat und Kirche nicht aufhebt und Verantwortlichkeiten nicht verwischt. Die evangelische Versöhnungskirche gemeinsam mit den katholischen, orthodoxen und jüdischen Erinnerungsorten auf dem Gelände der KZ-Gedenkstätte als einer staatlichen Einrichtung bildet das in gewisser Weise zeichenhaft ab, auch wenn das Gedenken auf jüdischer Seite natürlich ein anderes ist als das Gedenken der Kirchen.

Am Verhältnis der Evangelischen Kirche zu den Konzentrationslagern in der Zeit des Nationalsozialismus lassen sich dabei exemplarisch die Folgen eines problematischen Verhältnisses der Kirchen zum Staat ablesen. Rebecca Scherf hat die vielschichtigen Ambivalenzen dieses Verhältnisses in ihrer Dissertation, die heute vorgestellt wird, auf beeindruckende Weise aufgearbeitet. Sie rekonstruiert das Verhältnis der Kirchen zu den Konzentrationslagern und die unterschiedlichen Deutungsmuster in den Kirchenleitungen, bei Deutschen Christen, in der Bekennenden Kirche aber auch innerhalb der Lagergemeinschaft unter den inhaftierten Geistlichen. Am Beispiel der Lagerseelsorge bis 1937 beschreibt sie, wie die Kirche auch an und auf der Seite des nationalsozialistischen Staates stand und sich bis hinein in die KZs als dessen loyalen Partner verstand. Oder wie es ein Frankfurter Pfarrer der Bekennenden Kirche in einem Brief an die Kirchenleitung ausdrückte: „Wir wollen doch mit Hitler das neue Deutschland bauen und nicht gegen ihn“ (zit. S. 110). Sie stellt dar, wie die Inhaftierung von Geistlichen und das Hinausdrängen der Seelsorger aus dem KZ die Kirche nach anfänglichem Protest in eine Passivität versetzte, die bis zum Kriegsende andauerte. Und sie deutet diese Verunsicherung als „Folge eines theologischen Verständnisses von Staat und Kirche, das die evangelische Kirche während der NS-Zeit nicht überwinden konnte, was eine wesentliche Voraussetzung dafür gewesen wäre, die politischen Vorgänge objektiv begreifen und bewerten zu können“ (240).

Für die Aufarbeitung unserer eigenen Geschichte als Evangelische Kirche ist die Bedeutung einer solchen Forschungsarbeit kaum zu überschätzen, auch wenn wir nach der Verantwortung der Kirche für Gesellschaft und Staat heute fragen. Dabei zeigt die Arbeit von Rebecca Scherf zugleich wie eng Forschung, Bildungsarbeit und öffentliches Gedenken miteinander verwoben und auf einander bezogen sind. Frau Scherf hat in ihrer Arbeit auf die grundlegende Bedeutung des von Björn Mensing gemeinsam mit Sabine Gerhardus herausgegebenen Buches „Namen statt Nummern“ hingewiesen, das eng verbunden ist mit dem Gedächtnisbuchprojekt der Versöhnungskirche, bei dem unter anderem Schülerinnen und Schüler  biographische Gedächtnisblätter von Häftlingen des Dachauer KZs erstellen. Das ist nur eines von vielen Projekten der Versöhnungskirche, das Forschen, Gedenken und Bildungsarbeit auf vorbildliche Weise verbindet und einen substantiellen Beitrag für eine lebendige Erinnerungsarbeit leistet. Erinnerungsarbeit ist dabei immer auch Versöhnungs- und Friedensarbeit, und sie geschieht hier im Horizont christlichen Glaubens. So übernimmt Kirche nicht nur öffentliche Verantwortung, sondern sie ist zugleich ganz bei sich selbst, bzw. bei der Sache des Evangeliums.

Die Evangelische Kirche in Deutschland ist außerordentlich dankbar dafür – und auch ein wenig stolz (wenn dies zu sagen hier einmal erlaubt ist) – dass die Arbeit in Dachau in der Trägerschaft der EKD und in enger Zusammenarbeit mit der Evangelischen Landeskirche in Bayern nun schon über viele Jahrzehnte hinweg einen wichtigen Beitrag für eine lebendige Erinnerungsarbeit und Gedenkkultur leistet. Ich möchte an dieser Stelle die Gelegenheit nutzen, Pfarrer Dr. Mensing und Diakon Schulz herzlich zu danken für ihr langjähriges Engagement gemeinsam mit einem großen Team an Mitarbeitern, viele davon ehrenamtlich oder als freiwillige Helfer von Aktion Sühnezeichen Friedensdienste. Die eingangs erwähnten Herausforderungen machen auch die weiter bestehende ja sogar gewachsene Dringlichkeit dieser Arbeit deutlich und ich wünschen Ihnen allen – den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern an der Versöhnungskirche aber auch allen Freunden und Unterstützern dieser Arbeit dazu Gottes Segen.

Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.


[1] H. Arendt, Über das Böse. Eine Vorlesung zu Fragen der Ethik. München: 122017, S. 85.

[2] http://www.bundespraesident.de/SharedDocs/Reden/DE/Roman-Herzog/Reden/1996/01/19960119_Rede.html