Predigt im ZDF-Gottesdienst zum Ewigkeitssonntag am 22. November 2020 aus der Johanniskirche in Erbach
Landesbischof Heinrich Bedford-Strohm, Ratsvorsitzender der Evangelischen Kirche in Deutschland
Liebe Gemeinde,
„Gott wird abwischen alle Tränen von ihren Augen, und der Tod wird nicht mehr sein, noch Leid noch Geschrei noch Schmerz wird mehr sein“. Es ist eine große Vision, die der Seher Johannes uns hier vor Augen malt. Sie stammt aus dem Buch der Offenbarung, dem letzten Buch der Bibel, das so etwas ist wie ein Schaufenster in die Ewigkeit. Es ist ein Blick auf eine Welt jenseits der Zeit auf das, was kommt und was irgendwann die ganze Welt durchstrahlt. Ich ersehne diese Welt, in der alles Leid, alle Verzweiflung, aller sinnloser Tod, endlich überwunden ist.
Und deswegen treffen mich die Worte des Johannes ins Herz.
Sie erreichen meine Seele.
Sie sind für mich Wegweiser in diesen Pandemie-Zeiten.
Wir kennen die Tränen in diesen Tagen. Tränen der Trauer von denen, die einen lieben Menschen verloren haben. Tränen der Verzweiflung, weil sie ihn wegen der Kontaktbeschränkungen in der kostbaren
letzten Lebenszeit nicht so begleiten konnten wie sie es sich gewünscht hätten. Tränen des Zorns, dass kein Begräbnis möglich war, in dem alle Freunde und Verwandte Abschied nehmen konnten. Und vielleicht sind es auch Tränen der Trauer über das, was wir anderen schuldig geblieben sind und was andere uns schuldig geblieben sind.
Manche unter uns kennen die Tränen in diesen Tagen sehr persönlich. Vermissen die Lieben, deren irdisches Leben zu Ende gegangen ist und die einfach überall fehlen. Ringen darum, wie sie weiterleben können, ohne dass sie körperlich bei ihnen sind, versuchen zu spüren, wie sie auf andere Weise nahe sind. Sehnen sich danach, dass sie getröstet werden, dass die Wunden heilen, dass sich Neues öffnet.
Keiner von uns kennt das Leben, in das unsere Verstorbenen eingehen. Keine Wissenschaft der Welt kann untersuchen, was nach dem Tod kommt. Und Nachrichtenkameras sind dort auch nicht aufgebaut. Wir können nur vertrauen. Wir können uns nur Bilder machen von diesem ewigen Reich, das die biblischen Texte beschreiben. Wir dürfen uns aber auch Bilder machen. Das Bild, das der Seher Johannes uns mit auf den Weg gibt, ist ein starkes Bild. So handelt Gott. „Er wird abwischen alle Tränen von ihren Augen, und der Tod wird nicht mehr sein. Es gibt kein Leid noch Geschrei noch Schmerz; denn das Erste ist vergangen. Und der auf dem Thron saß, spricht: Siehe, ich mache alles neu!“
Der Tod macht alles anders. Ein Mensch, der mir lieb gewesen ist, ist nicht mehr da. So vieles erinnert mich täglich an ihn. Immer wieder ist so ein Gefühl da, er könnte jetzt gleich um die Ecke kommen. Aber er kommt nicht um die Ecke. Ich vermisse ihn. Und muss mein Leben neu ordnen. Sein Tod macht alles anders.
Und nun spricht Gott: Siehe, ich mache alles neu. Der Raum und Zeit öffnet dafür, dass in mir etwas neu werden kann. Ich lerne die Leere auszuhalten. In die Trauer mischt sich, anfangs zaghaft, dann immer mehr, Dankbarkeit für das, was war. Ich kann das in Gottes Hand legen, was unvollendet geblieben ist. Was auf Vergebung wartet. Und ich spüre diese Vergebung. Ich spüre, wie die Liebe bleibt und ich neu werde. Wie eine Freude in mir aufzukeimen beginnt, die die Trauer nicht wegdrückt, sondern in sich aufnimmt. Es ist eine Himmelsfreude. „Freut euch, dass eure Namen im Himmel geschrieben sind!“ So sagt Jesus einmal zu seinen Jüngern (Lk 10,20). In dem Himmel, in den unsere Namen geschrieben sind, sind wir mit unseren Lieben vereint.
Konkretion in der Kirche: Verbindung zwischen Lebenden und Toten: der Himmel
Prinzessin Marianne von Oranien-Nassau, die diese Johanneskirche gestiftet hat, ließ hier am Altar unter der Kirche ein Grabmal für ihren Sohn bauen, der im Alter von 12 Jahren an Scharlach gestorben war. Später ist über dem Grabmal ein Himmel gemalt worden mit kleinen Sternen. Die Sterne drücken es aus: Unsere Namen sind in den Himmel geschrieben, die Namen der Lebenden und der Toten. Das Band, das uns vereint, ist die Liebe. „Ich bin gewiß – sagt der Apostel Paulus – „daß weder Tod noch Leben, weder Engel noch Mächte noch Gewalten, weder Gegenwärtiges noch Zukünftiges, weder Hohes noch Tiefes noch eine andere Kreatur uns scheiden kann von der Liebe Gottes, die in Christus Jesus ist, unserem Herrn.“
Blick in die Zukunft: Neu werden für uns, die wir in der Pandemie leben und nicht von einem Todesfall betroffen sind.
Was heißt das Neuwerden für uns alle, die wir in diesen Tagen verunsichert sind, die wir jeden Morgen darauf warten, welche Infektionszahlen heute gemeldet werden, ob es Licht am Horizont gibt, ob wir wenigstens Weihnachten wieder zusammen sein können?
Wir haben in diesem Pandemie-Jahr erlebt, wie das Alte weggebrochen ist, wie ein ganzes Lebensgefühl ins Wanken geraten ist. Wir haben erfahren, wie verletzlich wir sind. Dass wir nicht die Kontrolle über alles haben. Dass wir mit unseren materiellen und technischen Möglichkeiten nicht alle Probleme lösen können. Vielleicht gibt es bald einen wirksamen Impfstoff gegen das Virus. Aber wir wissen es nicht. Wir können es nur hoffen.
Was ist es, was wirklich trägt? Woher kommt Kraft? Worauf können wir vertrauen?
„Ich bin das A und das O, der Anfang und das Ende. Ich will dem Durstigen geben von der Quelle des lebendigen Wassers umsonst.“ Die große Vision des Sehers Johannes gibt eine ebenso kühne wie faszinierende Antwort auf diese Frage. Gott ist der Herr in Zeit und Ewigkeit. Er ist das, was wir uns nicht vorstellen und mit Worten kaum fassen können. Er umspannt das Gestern, das Heute und das Morgen und den ganzen Kosmos. Er behütet und begleitet dich jeden Tag, in den guten und in den schweren Zeiten. Und er öffnet dir den Himmel, ob du lebst oder stirbst, denn dein Name ist in den Himmel geschrieben.
Die Worte öffnen den Horizont für das Neue schon jetzt. Das macht einen Unterschied in unserem Leben, Handeln und Denken.
In dem Trost, den wir einander spenden. In den lieben Worten, die wir einander sagen und die uns stärken. In dem Frieden und der Ruhe der Seele, die wir spüren, wenn wir im Gebet mit Gott im Gespräch sind und Antwort finden. In dem Psalm aus der Bibel, den wir mitsprechen und der uns von der Verzweiflung und der Klage mitnimmt hin zum Trost und zur Zuversicht. In unserem öffentlichen Engagement für Schwache und Verletzliche, deren Not in all den Diskussionen um die Pandemie in der öffentlichen Aufmerksamkeit unterzugehen droht. Ja, und auch in der Rücksicht, die wir zeigen, wenn wir die Corona-Regeln in unserem täglichen Leben zum Schutze anderer befolgen.
Es gibt Momente, die sind wie Vorboten des neuen Himmels und der neuen Erde, von denen der Seher Johannes spricht. Momente, in denen in einem ganzen Mix von Gefühlen von Trauer, Fassungslosigkeit, Schuld und Scham etwas aufblitzt von dem Neuwerden, von dem der Seher Johannes spricht.
Ich habe das selbst so erlebt, als ich mit Josef Schuster vom Zentralrat der Juden in Deutschland und mit Romani Rose vom Zentralrat der Sinti und Roma im August in Auschwitz war. Nachfahren der Täter und Nachfahren der Opfer gemeinsam an diesem Ort. Ich bin mit Herzklopfen angekommen. Und dann die Erfahrung der gemeinsamen Trauer, und das Gefühl einer tiefen Verbundenheit angesichts des Schreckens der Vergangenheit. In aller Brüchigkeit und Zaghaftigkeit habe ich das gespürt: Siehe ich mache alles neu. In allen Gefühlen der Trauer und auch der Scham war für mich etwas von der versöhnenden Liebe Gottes spürbar. So wenig die bleibende Wunde damit geschlossen ist.
Gott schenkt uns solche Momente, im Verstehen der eigenen Geschichte und ihren Konsequenzen für die Gegenwart, aber auch in unseren ganz persönlichen Beziehungen im eigenen Leben.
Lasst uns in diesen Tagen und Wochen die Augen, die Ohren und die Herzen offen halten für diese Momente, die zeigen: Du kannst mit Gott rechnen, vertraue darauf, dass er selbst im Unmöglichen Neues schaffen kann. Verlass dich darauf, dass Gott dir Kraft gibt, wenn Du sie brauchst. Du kannst sicher sein: Gott ist da. Und er wird immer bei dir sein. In Zeit und in Ewigkeit.
AMEN