„Heilsame Unterbrechung Passion 2025“ Französische Friedrichstadtkirche, Berlin am 26. März 2025
Prälatin Anne Gidion, Bevollmächtigte des Rates der EKD bei der Bundesrepublik Deutschland und der Europäischen Union

Prälatin Anne Gidion, Bevollmächtigte des Rates der EKD bei der Bundesrepublik Deutschland und der Europäischen Union.
Lk 9,57-62
Und als sie auf dem Wege waren, sprach einer seiner Jünger zu Jesus: Ich will dir folgen, wohin du gehst.
Und Jesus sprach zu ihm: Die Füchse haben Gruben und die Vögel unter dem Himmel haben Nester; aber der Menschensohn hat nichts, wo er sein Haupt hinlege.
Und er sprach zu einem andern Jünger: Folge mir nach!
Der aber sprach: Herr, erlaube mir, dass ich zuvor hingehe und meinen Vater begrabe.
Jesus aber sprach zu ihm: Lass die Toten ihre Toten begraben; du aber geh hin und verkündige das Reich Gottes!
Und ein anderer Jünger sprach: Herr, ich will dir nachfolgen; aber erlaube mir zuvor, dass ich Abschied nehme von denen, die in meinem Hause sind.
Jesus aber sprach zu ihm: Wer die Hand an den Pflug legt und sieht zurück, der ist nicht geschickt für das Reich Gottes.
Im Tross von Jesus unterwegs sein, das bedeutet: wenig schlafen, unregelmäßig essen, ständig will jemand geheilt werden oder der Wichtigste sein oder seine Interessen durchsetzen. Ständig stehen diese Leute am Straßenrand und wollen ihn anfassen und Selfies machen und irgendwie ANTEIL haben an ihm. Als wäre das einfach, zum Innercircle zu gehören. Zu Jesus zu gehören, ist offensichtlich eine Zumutung. Kühn eigentlich, dass die Kirche sich auf ihn gründet.
Ich glaube, die meisten von uns sind eher Nebenfiguren der Heilsgeschichte. Haben mehr als Nester und Gruben zum Schlafen, haben ein oder mehrere Zuhause.
Die Mitarbeitenden der Stadtmission hier allerdings haben tagtäglich mit Menschen zu tun, die das nicht haben – kein Haus und kein Bett. Viel zu viele Menschen gibt es, die keine Wohnung haben und kein Bett, die in Gruben schlafen und auf Pappkartons, weil sie durch alle Netze gefallen sind. Oder einmal falsch abgebogen – und dann wieder und wieder.
Aber die Mehrzahl in diesem Land hat mindestens ein Bett und ein Dach über dem Kopf und fallen damit eigentlich schon aus für die Nachfolge von Jesus.
Ja, kühn, dass die Kirche sich auf ihn bezieht. Denn wir begraben unsere Toten, das ist doch selbstverständlich! Für manche von Ihnen ist dieser traurige Anlass noch ganz frisch. Es ist Kernaufgabe der christlichen Kirche, Menschen würdig zu bestatten, Sterbende und Trauernde zu begleiten. Wir pflegen Friedhöfe, damit Menschen Gegebenheit haben, die Gräber ihrer Angehörigen und Freunde zu besuchen. Es ist unsere Aufgabe, Menschen beim Abschied aus dem Leben nicht allein zu lassen. Anfang und Ende des Lebens – absolute kirchliche Kernaufgabe. Nicht bei Jesus.
Und: ja! selbstverständlich sehen wir zurück! Wir erinnern uns, woher wir kamen, wir erinnern uns daran, was hinter uns liegt, wir erinnern uns daran, wie wir wurden, was wir sind. Biographiearbeit, Erinnerungen teilen – in die Tiefe gehen. Nicht nur: Meine größeren Erfolge und wie es dazu kommen konnte. Leben mit der Vergangenheit – als Kirche, als Deutschland, als Familie – als Partei. Jubiläen und Geburtstage feiern, Jahre zählen, Rückschau, keine Identität ohne „Weißt Du noch?“. All das braucht es. All das tröstet und trägt. Vertrauen wächst zwischen Menschen beim Wunden verbinden, beim Narben zeigen – beim Zurückschauen.
Das hier ist die Heilsame Unterbrechung. Und es sind keine gewöhnlichen Zeiten; Die Texte dieser Tage haben wirklich Unterbrechungspotential.
Wer die Hand an den Pflug legt, der ist nicht gemacht für das Reich Gottes – das ist schon hart genug. Aber zum Textraum dieser Woche (nach dem Sonntag Oculi) gehört noch ein anderer, noch wilderer aus dem Buch des Propheten Jeremia.
Der Prophet ruft Gott zu:
Jeremia 20, 7-9a (9b-11)
Herr, du hast mich überredet und ich habe mich überreden lassen. Du bist mir zu stark gewesen und hast gewonnen; aber ich bin darüber zum Spott geworden täglich, und jedermann verlacht mich. Denn so oft ich rede, muss ich schreien; »Frevel und Gewalt!« muss ich rufen. Denn des Herrn Wort ist mir zu Hohn und Spott geworden täglich. Da dachte ich: Ich will seiner nicht mehr gedenken und nicht mehr in seinem Namen predigen. Aber es ward in meinem Herzen wie ein brennendes Feuer, (verschlossen in meinen Gebeinen. Ich mühte mich, es zu ertragen, aber konnte es nicht.
Denn ich höre, wie viele heimlich reden: »Schrecken ist um und um!« »Verklagt ihn!« »Wir wollen ihn verklagen!« Alle meine Freunde und Gesellen lauern, ob ich nicht falle: »Vielleicht lässt er sich überlisten, dass wir ihm beikommen können und uns an ihm rächen.« Aber der Herr ist bei mir wie ein starker Held, darum werden meine Verfolger fallen und nicht gewinnen. Sie müssen ganz zuschanden werden, weil es ihnen nicht gelingt. Ewig wird ihre Schande sein und nie vergessen werden.)
Du hast mich überredet. Du hast mich überwunden. Du hast mich verführt und betrogen. Mich dazu gebracht, mich einzulassen. Und eigentlich kann ich nicht mehr. Aber Du hast mich überwältigt. So spricht der Prophet Jeremia mit Gott. Prophetensein, das ist Nachfolge pur. Kein Nest, keine Grube, kein Pflug. Propheten sind die Leute, die sich Entschieden haben. Teils anstrengend im Nahbereich. Weil sie so gewiss sind. Und so dicht dran an Gott. Wahrlich keine Nebenfiguren der Heilsgeschichte.
Aber Jeremia ist ein angeschossener Prophet. Er strauchelt. Und weiß nicht mehr, was richtig ist. Warum solche Verse mitten in der Passion? Und was kann heilsam sein an einer solchen Prophetenunterbrechung – mitten in Zeiten, in denen sowieso gerade alles so anstrengend ist?
Vielleicht dies: Jeremia schreit Gott an und weiß tief drinnen, Gott hält das aus. Jeremia darf das, weil er in der Tiefe so auf Gott bezogen ist. Und weil ihn das hält und trägt, letztlich. In Jeremia selbst ringt Jeremia mit Gott und verliert. Und indem Gott gewinnt, gewinnt Jeremia auch.
Dietrich Bonhoeffer hat über diese Verse gepredigt, 1934 in seiner Gemeinde im englischen Sydenham. 27 war er damals. Er schreibt: „Dieser Weg führt mitten in die tiefste menschliche Schwachheit hinein. Ein verlachter, für Verrückterklärter, aber für Ruhe und Frieden der Menschen äußerst gefährlicher Narr, das ist dieser Jeremias, eben weil er Gott nicht mehr loswerden kann. Phantast, Sturkopf, Friedensstörer, Volksfeind hat man ihn gescholten, hat man zu allen Zeiten bis heute die gescholten, die von Gott besessen und gefasst waren, denen Gott zu stark geworden war. Wie gern hätte Jeremias anders geredet. Wie gern hätte er mit den anderen „Friede und Heil“ geschrien, wo doch Unfriede und Unheil war. Wie gern hätte er geschwiegen, den anderen Recht gegeben – aber er konnte einfach nicht, es lag wie ein Zwang, wie ein Druck auf ihm, es war, als säße ihm einer im Nacken und triebe ihn von einer Wahrheit zur anderen, von einem Leiden zum anderen. Und Jeremias war von unserem Fleisch und Blut, er war ein Mensch wie wir. Er leidet unter den dauernden Erniedrigungen, er erträgt die Lüge nicht, er bricht in dieses Gebet aus: „HERR, du hast mich überredet und ich habe mich überreden lassen. Du bist mir zu stark gewesen und hast gewonnen.“
Ja, wer mag schon Propheten. Vielleicht bleiben wir lieber Nebenfiguren der Heilsgeschichte, mit Sicherheitsabstand zu Gott. Die Hand fest am Pflug.
Vielleicht aber auch nicht. Gerade jetzt nicht, wo die Kirche kleiner wird, unbekannter die Worte, fremder die Klänge für viele. Vielleicht ist gerade jetzt Christsein nichts für Nebenbei.
Heilsame Unterbrechung in der Oculi Woche – es kann ganz schön hin und her reißen, dieses Christsein – zwischen Himmel und Erde, Kompromiss und Radikalität, Prophetie und Sehnsucht nach Ruhe. Zwischen Gewissheit und Ratlosigkeit. Darauf weisen die Okuli Texte deutlich hin. Aber durch diese harten Zeilen schimmert etwas hindurch, schimmert Gott hindurch in ganzer Kraft und Hingabe. Dieser Gott, der Mensch geworden ist wie wir – damit wir nicht werden müssen wie er. Damit wir uns nicht für allmächtig halten müssen.
Noch einmal Bonhoeffer: „Von Gott nicht mehr loskommen können, das ist die dauernde Beunruhigung jedes christlichen Lebens. Wer sich einmal auf ihn einließ, wer sich einmal überreden ließ, der kommt nicht mehr los. … Er kann nicht mehr los und nun muss er hindurch – mit Gott – es komme, was da wolle. … Von Gott nicht mehr loskommen, das bedeutet viel Angst, viel Verzagtheit, viel Trübsal, aber bedeutet doch auch im Guten und im Bösen nie mehr gottlos, nie mehr Gott los sein können.“ Nicht mehr ohne Gott. Also: Mit Gott.
Wenn das keine heilsame Unterbrechung ist.
Amen.