Anonyme Kritik ist vernichtend

Der Vorsitzende des Rates der EKD, Heinrich Bedford-Strohm, über ehrliche und identifizierbare Kommunikation in einer offenen Gesellschaft

Gerüchte sind ein heimtückisches Gift. Sie verbreiten sich unkontrolliert. Und die Betroffenen haben kaum eine Chance dagegen, weil sie nicht wissen, wer alles die Falschinformationen erhalten hat. Und von wem sie stammen. Und das Schlimmste ist: Selbst wenn sie mit Fakten widerlegt sind, bleibt etwas hängen.

Heinrich Bedford-Strohm

Vor vielen Jahren erzählte mir jemand von einer außer­ehelichen Liebesbeziehung einer prominenten Person. Die Geschichte gipfelte in einer pikanten Ohrfeigen-Szene zwischen den Eheleuten. „Ich weiß es von einer hundertprozentigen Quelle“, so wurde mir versichert. Als ich dem Betroffenen davon erzähle, seufzt er und erklärt, warum diese über ihn verbreitete Geschichte gar nicht wahr sein kann.

Ich habe das nie vergessen. Was mich daran am meisten entsetzt, ist die tiefe Gewissheit, mit der mir der Mensch, dem ich keinerlei Böswilligkeit unterstelle, diese Falsch­information erzählt hat. Und auch der Seufzer des Be­troffenen klingt bei mir nach. Welche schlaflosen Nächte mag ihm dieser Rufmord bereitet haben, dem er hilflos ausgeliefert war? Jede öffentliche Stellungnahme dazu hätte die Sache verschlimmert und erst richtig Aufmerksamkeit und gesteigertes Interesse für sein Privatleben erzeugt.

Die lawinenartige Macht der Gerüchte

Als sich diese Geschichte zugetragen hat, gab es noch keine sozialen Netzwerke. Schon damals war die Multi­plikation des Gerüchts schlimm. Heute verbreiten sich Gerüchte rasend schnell über die sozialen Medien im Netz. Sie bekommen lawinenartig Macht und Zer­störungskraft.

Falschinformationen sind zum gezielt eingesetzten ­Mittel der politischen Auseinandersetzung geworden. Rechte Gruppen verbreiten etwa erfundene Geschichten über Flüchtlinge, um ihre fremdenfeindliche Agenda zu untermauern. Wahlkämpfe werden von fremden Staaten beeinflusst. Fake News haben eine Entwicklung in Gang gesetzt, in der es immer schwieriger wird, zwischen Nachrichten und Gerüchten zu unterscheiden. Gut, dass es ­Qualitätsjournalismus gibt, bei dem man auf verlässliche Information vertrauen kann.

Der größte Förderer des Gerüchts ist die Anonymität. Wer Gerüchte über einen Menschen streut oder nährt, tut das aus der Deckung – aus Feigheit oder aus Kalkül. ­Natürlich kann es auch gute Gründe geben, aus der ­Deckung heraus zu handeln – etwa aus Angst, dass der ­andere am längeren Hebel sitzt und in der offenen Konfrontation die Vernichtung droht. Um solchen Situationen – etwa wenn es um sexuelle Belästigung geht – zu begegnen, gibt es die sinnvolle Einrichtung einer Ombuds­-
person. Die muss aber dann auch tatsächlich dafür sorgen, dass die Vorwürfe ­geklärt werden. Denn ungeklärte Vorwürfe können vernichten.

Verantwortung übernehmen für das, was man sagt

Für das einstehen, was wir sagen: Im persönlichen wie im gesellschaftlichen Leben ist das die Grundlage für ein gutes Zusammenleben. Eine offene Gesellschaft ist auf ehrliche und identifizierbare Kommunikation ange­wiesen. Denn sie lebt vom Diskurs, in dem Argumente ausgetauscht werden. Sie lebt davon, dass Menschen, die sich am Diskurs beteiligen, auch Verantwortung für das übernehmen, was sie sagen. Jesus fragt einmal seine Jünger: „Wer, sagen die Leute, dass ich sei?“ Als die Jünger ihm berichten, will er wissen: „Ihr aber, wer, sagt ihr, dass ich sei?“ (Markus 8,27).

Beziehen wir Position und stehen wir dazu. Wahr­haftigkeit und Mut sind die beste Antwort auf die Fake News unserer Tage.

Heinrich Bedford-Strohm (für chrismon)