„Kirchenmusik gewinnt eine neue Chance“

Der EKD-Kulturbeauftragte Johann Hinrich Claussen spricht im Interview über den Beruf des Kantors, Lifestyle und Bereitschaft zur Veränderungen

Chor der Heilig-Kreuz-Kirche Berlin in Aktion

Kantor Matthias Schmelmer (r.) leitet den Chor der Heilig-Kreuz-Kirche Berlin.

Im protestantischen Vaterunser werden „die Kraft und die Herrlichkeit“ Gottes angesprochen. Wo und wie offenbaren sich diese Dimensionen im Gottesdienst für Sie persönlich? In der Musik Johann Sebastian Bachs? Oder in einer Predigt von Lutherischer Wortgewalt?

Johann Hinrich Claussen: Ehrlich gesagt, eher in der Musik Bachs. Es muss aber nicht immer kräftig und herrlich zugehen. Lieber sind mir fast die leisen Passagen und die Pausen. Das Wesentliche geschieht in den Momenten, in denen nichts passiert.

Lohnt es sich für angehende Berufsmusiker, eine Laufbahn als Kirchenmusiker anzustreben, speziell im evangelischen Bereich?

Claussen: Auf jeden Fall. Kantor zu sein ist eine wunderbare Aufgabe. Es verbindet vieles, was für viele Musiker sonst getrennt ist: das Pädagogische, das Künstlerische, das Einsame, das Gemeinschaftliche, mehrere Generationen. Und natürlich Musik und Glauben.

Das Pädagogische?

Claussen: Ein  Kantor ist immer auch Musiklehrer, so in der Arbeit mit Kindern, auch mit Gottesdienstgemeinden, die ja alle nicht aus Profis bestehen. Insofern leisten Kantoren einen wichtigen Beitrag zur Gesangs- und Musikkultur. Das ist eine oft stille, aber umso wichtigere Arbeit, die oft übersehen wird. Jedenfalls eine tolle Aufgabe!

In wieweit sind evangelische Kirchengemeinden ein attraktiver Arbeitgeber? Laut Kord Michaelis, Präsident der Konferenz der Landesmusikdirektoren, steht die Kirche nicht unbedingt im Ruf, ein Arbeitgeber der Zukunft zu sein.

Claussen: Eigentlich ein sehr guter Arbeitgeber im Vergleich mit Rahmenbedingungen, die man im säkularen Bereich lange suchen kann. Allerdings gibt es so viele unterschiedliche Stellen und manchmal schon prekäre Bedingungen. Hier liegt eine wichtige Zukunftsaufgabe unserer Kirche insgesamt – dafür zu sorgen, dass es auch in Zukunft auskömmliche und stabile Stellen für Kirchenmusiker geben wird.

Die Musikbranche – nicht zuletzt mit ihren neuen digitalen Techniken und Geschäftsfeldern – ist so breit und vielfältig, dass es für junge begabte Musiker attraktive Alternativen gibt. Muss Kirche sich folgerichtig mehr dem heutigen Lifestyle annähern, muss Theologie lebensnäher werden?

Claussen: Zum einen sollte sich Kirche ohne Scheu und Angst auf die Veränderungen einstellen, Musik zu hören und zu machen. Andererseits gewinnt die Kirchenmusik in einer Zeit, da sich Musik ins Digitale verflüchtigt, eine neue Chance. Diese tut sich auf, wenn reale Menschen an einem konkreten analogen Ort miteinander musizieren, gern auch mit einem Instrument wie der Orgel, die sich kaum ins Digitale übersetzen lässt. Kirchenmusik steht so für Gemeinschaftlichkeit oder auch Körperlichkeit, die ganz neu wichtig werden.

Im Gottesdienst kommen die Verkündigung durch das Wort und die Offenbarung durch die Musik zueinander, im Idealfall auf einer gemeinsamen Höhe von Botschaft und Rezeption. Tatsächlich aber werden Kirchenmusiker mit einer gewissen Hierarchie konfrontiert. Beobachten Sie eine Rangfolge zum Nachteil der Verkündigung durch die Musik?

Claussen: Eine professionelle Grundaufgabe von Pastoren und Kirchenmusikern besteht darin, bei aller Unterschiedlichkeit gut zusammenzuarbeiten. Es gehört zur Folklore evangelischer Kirchengemeinden, dass sich jeweils der eine vom anderen unterdrückt fühlt. Der Pastor hat vielleicht mehr Macht, aber der Kantor hat den Chor hinter sich. Und das kann zu unfruchtbaren Konflikten führen. Dabei ist das Zusammenspiel, wie ich aus eigener Erfahrung weiß, ein großes berufliches Glück.

Thies Gundlach, Vizepräsident des Kirchenamtes der EKD, hat im Interview mit evangelisch.de geäußert, sola sciptura müsse als „biblische Grundierung“ und als „Alleinstellungsmerkmal“ der Kirche im Zentrum bleiben. Müssen sich Kirchenmusiker nicht folgerichtig auf eine Rangordnung hinter dem Pfarrer einstellen? Oder, um es psychologisch zu formulieren, zwangsläufig zurückgesetzt fühlen?

Claussen: Ich kenne Thies Gundlach als Freund der Kirchenmusik. Insofern wird er nicht einer Hierarchisierung das Wort geredet haben. Grundsätzlich stehen alle, die in der Kirche Verantwortung tragen, vor der Herausforderung, viel kollegialer miteinander zu arbeiten und teamfähiger zu werden.

Sola scriptura zu unterstreichen ist eine Sache. Eine andere wäre es, Predigten  zu einem Erlebnis zumindest für die Gottesdienstbesucher zu machen. Gibt es für die Pfarrerinnen und Pfarrer genügend Unterstützung, die an sich und damit für ihre Gemeinde arbeiten wollen?

Claussen: Das reformatorische sola sollte heute um ein cum erweitert werden. Die biblische Botschaft, die heutige Lebenswirklichkeit, Ästhetik, Kunst und Musik – all dies sollte man viel mehr zusammenbringen. Dafür braucht es Fortbildung und kollegiale Foren. Noch wichtiger sind aber die persönliche Leidenschaft und die Unterstützung in den Gemeinden bei Experimenten.

In der Kirche sind Stimmen zu vernehmen, die nach einer neuen Sprache für das Reden von Gott suchen. Ist dies ein Ansatz, der Predigt im Gottesdienst Auftrieb zu vermitteln?

Claussen: Einerseits ist eine Sprachnot zu beobachten. Es gibt bei uns auch Formen erschöpfter Sprache, die wir sprechen. Andererseits  versuchen viele sehr ernsthaft, für den Glauben einen neuen Ausdruck zu finden, sprachlich oder musikalisch. Ich sehe interessante Entwicklungen in der Gegenwartslyrik bis hin zum poetry slam. Aufregend erscheinen mir auch Entwicklungen im Jazz, die im freien Improvisieren fußen. Wir sollten viel neugieriger schauen, was passiert.

Sie sind stark von Film und vom Theater geprägt, haben Veröffentlichungen über Kirchenbauten und Kirchenmusik vorgelegt. Insgesamt beste Voraussetzungen, um über Verkündigung und Offenbarung völlig neu zu denken. Ist es an der Zeit, vielleicht eine neue Ästhetik zu entwickeln? Erst einmal als Konzept?

Claussen: Ich bin kein großer Theoretiker. Interessanter als allgemeine Theorie erscheint mir, mehr Raum freizugeben, Neues auszuprobieren. Innovativ kann manchmal übrigens auch das Alte sein, das sich mit dem Modernen trifft. Stichwort Crossover. Noch wichtiger als eine neue Theorie ist mir, sich auf den jeweiligen Ort zu besinnen, sich an das jeweilige Milieu zu wenden. In Berlin sind die Verhältnisse anders als in Brandenburg, in Hamburg anders als in Dortmund. Ich plädiere für die Hinwendung zu kulturell sehr unterschiedlich geprägten und aktiven Menschen. Es gibt nicht mehr die Einheitskultur, sondern sehr unterschiedliche Lebenswelten, die alle ihr Recht haben.

Junge Menschen, im Prinzip die Gemeinde von morgen, bilden ihre Rezeptionsstandards durch TV, neuerdings in Streaming-Formaten, den Film, in wachsendem Maße durch Games. Sie sind von der sogenannten Eventkultur,  vielleicht noch vom Musical beeinflusst. Ganz sicher die meisten nicht vom Theater, vom klassischen Konzert und der Oper. Muss die Kirche in der Präsentation ihrer theologischen Botschaft hierauf eingehen?

Claussen: Auf jeden Fall, aber es muss auch passen, was man neu  macht. Zum Anlass, zum Raum, zur eigenen Person, zum eigenen Körper. Es hilft nicht, neuen Trends lediglich hinterher zu hetzen. Man muss vorher genau überlegen. Ein Games-Gottesdienst kann sehr schön sein, wenn man selbst begeisterter Gamer ist oder ihn gemeinsam mit Jugendlichen entwickelt und feiert. Einfach ein modisches Programm machen zu wollen – das muss schiefgehen.

In Ihrem Blog „Kulturbeutel“ bei chrismon geben Sie Denkanstöße unter der Devise, auch das Überflüssige sei lebensnotwendig. Könnte diese Maxime nicht auch das emotionale Erscheinungsbild von Gottesdiensten tangieren? Also mehr „Genuss an Gott" und weniger spirituelle Askese?

Claussen: Genuss und Askese gehören eigentlich zusammen. Genießen kann nur, wer vorher gehungert hat. Askese, eine gewisse Strenge, finde ich gut, wo sie zur Konzentration führt. Aber in der spirituellen Konzentration muss dem Menschen ja etwas aufgehen: Überfließendes, Beglückendes. Deshalb favorisiere ich einen Rhythmus aus unterschiedlichen Elementen, etwa Ekstase und Zurückhaltung. Das traditionelle Kirchenjahr versucht ja genau dieses: einen Rhythmus des Weniger und des Mehr zu inszenieren. Da die Menschen heute punktueller in den Gottesdienst gehen, wäre darauf zu achten, einen solchen Rhythmus an jedem Sonntag einzuüben. Und die Kirchenmusik als Kunst der Konzentration wie der Ekstase ist da eine große Inspirationsquelle.

Interview: Ralf Siepmann (evangelisch.de)


Johann Hinrich Claussen ist seit dem 1. Februar 2016 Kulturbeauftragter des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland. Zuvor war er Propst und Hauptpastor in Hamburg.