Der „französische Luther“
Johannes Calvin prägte die zweite Welle der Reformation
Der Humanist, Jurist und Theologe Johannes Calvin (1509-1564) reformierte neben Martin Luther die spätmittelalterliche Kirche. Auf ihn berufen sich heute mehr als 80 Millionen reformierte Christen weltweit.
Rolex, Hublot oder Patek Philippe: Ausgerechnet der asketische und sittenstrenge Johannes Calvin hat der hochpreisigen Genfer Uhrenindustrie ein Stück weit zu ihrem Weltruhm verholfen. Zwar lehnte der Reformator Schmuck als übertriebenen Luxus ab, Uhren ließ er aber als nützliche Gegenstände gelten. Vielleicht auch, damit niemand den Gottesdienst verpasst, wird gemunkelt.
Einigen Kirchenhistorikern gilt Calvin als „Vollender der Reformation“. Auf ihn berufen sich heute mehr als 80 Millionen reformierte Christen weltweit – neben den Lutheranern der zweite große Zweig im Protestantismus. Calvin kam am 10. Juli 1509 rund 100 Kilometer von Paris entfernt in Noyon zur Welt – acht Jahre vor dem legendären Thesenanschlag Martin Luthers gegen die Missstände seiner Kirche. Der „französische Luther“ starb am 27. Mai 1564, im Alter von nur 54 Jahren, in Genf.
Von Paris nach Genf
Der Sohn aus wohlhabendem Haus erhielt eine klassische Erziehung und absolvierte ein humanistisches Studium. Zunächst treuer Katholik, fand Calvin über Freunde offenbar Zugang zu den fortschrittlichen reformatorischen Ideen wie der Freiheit des Gewissens und dem unmittelbaren Zugang zu einem gnädigen Gott ohne Umweg über Priester, Papst und Kirche. Wohl Anfang der 1530er Jahre schloss er sich der Reformation an, bekannte sich offen zum evangelischen Glauben, musste aus Paris fliehen. Nach Zwischenstationen in Basel und Straßburg kam Calvin 1541 endgültig nach Genf, um dort den Rest seines Lebens zu wirken. Er verwandelte die damalige Provinzstadt in ein intellektuelles Zentrum. Er zog Gelehrte, Handwerker und Familien an, die vor der religiösen Verfolgung Schutz suchten.
Mit Luther hatte sich die lange schwelende Reformation entzündet, die Europa dramatisch erneuerte und zur Gründung der evangelischen Kirchen führte. Calvin, der Luther persönlich nie begegnete, gehört zur zweiten Welle dieser religiösen Revolution.
Neben und nach Luther prägte kein Theologe das protestantische Christentum so tiefgreifend wie Calvin. Er setzte auf eine radikale Erneuerung der Kirche. Reformierte Kirchen, die sich vor allem auf Calvin berufen, sind in der Regel sehr schlicht, es gibt keine Kruzifixe und keine Wandmalereien, weil das biblische Gebot „Du sollst dir kein Bildnis machen“ sehr ernst genommen wird. Im Mittelpunkt der Gottesdienste steht die Predigt, die Hierarchien sind flach. Das Sagen haben die Gemeinden und Laien, das Bischofsamt kennt man nur in wenigen reformierten Kirchen.
Schicksalsschläge und Klischees
Was war Calvin für ein Mensch? Zeitzeugen beschreiben ihn als persönlich unduldsam, andere als geduldigen Vermittler in Auseinandersetzungen. Calvins Strenge gegen sich und andere ist wohl auch Folge von Schicksalsschlägen: Zunächst musste er aus seiner Heimat Frankreich fliehen, 1549 starb Calvins Frau, ein aus der Ehe stammender Sohn überlebte die Geburt nur kurz.
Es gab aber auch den dunklen Calvin. Wegen seiner Kompromisslosigkeit in Glaubensfragen galt er als „Despot aus Genf“. Besonders seine aktive Rolle bei der Anklage gegen den spanischen Arzt und Juristen Miguel Servet belastet seinen Ruf bis heute schwer. Servet wurde Ketzerei und Gotteslästerung vorgeworfen, er starb am 27. Oktober 1553 einen elenden Tod auf dem Scheiterhaufen. Historiker entlasten Calvin mit den Zeitumständen. Doch der Schriftsteller Stefan Zweig urteilte: „Die Verbrennung Servets wird sofort von allen Zeitgenossen als eine moralische Wegscheide der Reformation empfunden.“
Dennoch: Die moderne Demokratie, die Idee der Menschenrechte und die Ökumene wurden von Calvin beeinflusst. In seiner Genfer Kirchenordnung, entwickelt Mitte des 16. Jahrhunderts, sehen viele ein Modell der späteren staatlichen Gewaltenteilung.
Im Gegensatz zum barock wirkenden Wittenberger Reformator Luther wirkt Calvin auf Gemälden stets hager und streng. Vielleicht auch deshalb entstand seit dem 16. Jahrhundert das Klischee der lust-, kunst- und lebensfeindlichen Calvinisten. Auch das Zerrbild von Calvin als „Vater des Kapitalismus„ hat sich hartnäckig gehalten. Wohl auch weil Calvin immer sofort mit den Tugenden Sparsamkeit und Arbeitsdisziplin in Verbindung gebracht wird – und wegen seines legendären Hangs zur Pünktlichkeit.
Stephan Cezanne (epd)