Kirche muss Solidarität vorleben

Evangelische Studiengemeinschaft veröffentlicht Aufsatz zur Solidarität in der Corona-Pandemie

In schwierigen Zeiten steht der Zusammenhalt einer Gesellschaft auf dem Prüfstand. Welche Gefahren durch die Corona-Pandemie drohen und wie sie abgewendet werden können, dazu haben Hans Diefenbacher und Johannes J. Frühbauer zusammen mit Kollegen von der Forschungsstätte der Evangelischen Studiengemeinschaft in Heidelberg jüngst den Aufsatz „Die Idee der Solidarität in der Corona-Pandemie“ veröffentlicht. Diefenbacher, der Beauftragte für Umweltfragen der EKD, fordert darin eine konsequente Fortführung der Klimaschutzmaßnahmen.

Solidaritätsbekundungen allein genügen nicht.

Derzeit wird von vielen Seiten Solidarität eingefordert. Was steckt hinter diesen Appellen?

Hans Diefenbacher: Die Intention besteht in erster Linie darin, dass wir uns mit einem Appell an die Moral der Menschen richten. Je nachdem, wer den Begriff verwendet, und je nachdem, an wen das adressiert ist, soll eine bestimmte Bereitschaft geweckt und motiviert werden. Am Anfang der Pandemie wurde eine Kampagne gestartet, damit Menschen sich an die Regeln des Lock-downs halten und zuhause bleiben, damit sie die Menschen nicht gefährden, die ihre Arbeit weiter tun müssen. Auch der Appell an die Spendenbereitschaft von Menschen, die besser als andere durch Naturkatastrophen gekommen sind, kann als Ruf nach Solidarität verstanden werden.

Welche Interessen sind damit verbunden?

Johannes J. Frühbauer: Ein ganz spezifisches Interesse, ob bewusst oder unbewusst im Spiel, dürfte darin bestehen, dass das mitgetragen oder zumindest wohlwollend geduldet wird, was an Maßnahmen erforderlich ist, um die Krise zu überstehen, und was jenseits bisheriger Vorstellungsvermögen liegt, vor allem wenn man an die unvorstellbaren Summen denkt, die derzeit auf den unterschiedlichen politischen Ebenen bereitgestellt werden. Die individuelle Bereitschaft zur Solidarität ist aber nach einer ersten starken Welle gemeinschaftlicher Verbundenheit schon wieder rückläufig.

Sie sprechen beide von einer Zäsur durch Corona. Welche Gefahren sehen Sie?

Hans Diefenbacher: Unverkennbar stellt die Corona-Pandemie eine weltgesellschaftliche Zäsur dar. Zukunftsvisionen formulieren seit einigen Wochen, was in naher oder mittelbarer Zukunft anders sein könnte, als es bisher war. Die größte Gefahr sehe ich persönlich darin, dass wir an allen möglichen Ecken unseres Alltags irgendwann in der Zukunft wieder in unseren alten Trott zurückfallen werden, den wir vor der Krise hatten.

Johannes J. Frühbauer: Die eigentlichen Chancen, die sich für einen gesellschaftlichen Mentalitätswandel und auch für eine sozial-ökologische Erneuerung und Neuorientierung prinzipiell bieten, würden wir dann wieder verspielen – wir müssten also mit einer ähnlichen Wirkung wie bei einem JoJo-Effekt nach einer Diät rechnen. Und alles würde dann so sein wie früher, vielleicht mit noch größeren gesellschaftlichen Verwerfungen. 

Sie fürchten, dass eine Chance verspielt wird. Welche ist das?

Johannes J. Frühbauer: Wenn wir einfach nur zum Beispiel das alte Wirtschaftswachstum wiederherstellen wollen, würde der Klimaschutz noch ungenügender sein als er es bisher war. 

Welche Art von Solidarität und Veränderung fordern sie ein?

Johannes J. Frühbauer: Gemeinsam und unabhängig vom jeweiligen Adressaten dürfte sein, dass es um ein Miteinander, ein Füreinander und um den Zusammenhalt zwischen Menschen untereinander und zwischen Staaten geht. Und es dürfte auch stets darum gehen, dass die sogenannten Stärkeren für die Schwächeren da sind sowie Einsatz und Engagement zeigen. Dies kann eine materielle Dimension haben, aber auch eine ideelle.

Wie sähe diese Solidarität konkret aus?

Hans Diefenbacher: Maßnahmen zur Krisenbewältigung sollten die soziale Spaltung nicht weiter vorantreiben. Hilfsprogramme dürfen an nationalen Grenzen nicht enden: Ein Erlass bestimmter Altschulden für Länder des Südens, wie ihn jüngst auch der Papst gefordert hat, wäre ein sehr wichtiges Zeichen der Solidarität.

Welche Maßnahmen wären in Deutschland angesagt?

Hans Diefenbacher: Zum Beispiel deutliche Gehaltserhöhungen in Bereichen, die bislang in der Gesellschaft zu wenig geachtet wurden, etwa für Pflegekräfte. Aber auch eine konsequente Fortsetzung der Klimaschutzmaßnahmen ist weiterhin erforderlich.

Wie sollte Kirche den Begriff Solidarität zur Sprache bringen?

Johannes J. Frühbauer: Mit Blick auf die Solidaritätsappelle sollte Kirche als Zeugin der Nächstenliebe konkretisieren und ausbuchstabieren, wie und in welcher Weise Christinnen und Christen, aber auch Mitbürgerinnen und Mitbürger in unserer Gesellschaft ihre Solidarität mit anderen leben und praktizieren können. Kirche sollte zeigen, dass sie selbst über ihre diakonischen oder karitativen Einrichtungen, aber auch mit dem ehrenamtlichen Engagement von vielen Menschen bei den Schwachen und Schwächsten in der Gesellschaft ist. Und sie sollte darauf aufmerksam machen, wo Hilfe und Veränderungen dringend angezeigt sind und vor allem gesellschaftlicher Handlungsbedarf besteht.

 

Prof. Dr. Hans Diefenbacher und Dr. Johannes J. Frühbauer sind wissenschaftliche Mitarbeiter der Forschungsstätte der Evangelischen Studiengemeinschaft und Mit-Autoren des Textes „Die Idee der Solidarität in der Corona-Pandemie“, der auf der Homepage der FEST erschienen ist.

Die Broschüre zum Download