Mit dem Fahrrad von einer Orgel zur nächsten
Fahrradkantor Martin Schulze tourt auf zwei Rädern durch Deutschland
Pause für Martin Schulze. In einem Café in Cuxhaven hat es sich der 51-Jährige bequem gemacht. Die Sonne strahlt vom Himmel, Urlauber machen sich auf den Weg zum Strand. Der Mann mit der Brille und den kurzen grauen Haaren hat sich die Auszeit verdient: Insgesamt etwa 100 Kilometer wird er an dem Tag zurücklegen – nicht mit dem Auto, sondern auf dem Fahrrad. „So 100 bis 200 Kilometer, das ist in der Regel mein Tagespensum“, sagt er trocken.
Die Entfernungen sind für den gebürtigen Brandenburger längst kein Problem mehr. Neben ihm steht sein silbergraues Rad, das ihn quer durch Deutschland bringt, von Ost nach West, von Bayern bis zur Nordsee. In den Fahrradtaschen: Luftpumpe, Schraubenzieher, Ersatzschlauch und Landkarte. Aber da ist auch noch etwas anderes: Noten und „anständige Schuhe“. Denn Martin Schulze ist kein Profi- und auch nicht nur Hobby-Radler. Er ist freiberuflicher Kirchenmusiker.
Fahrrad und Kirchenmusik, für Martin Schulze passt das sehr gut zusammen. Er selbst nennt sich Fahrradkantor. Fast jeden Abend gibt er in einer anderen Stadt in Deutschland ein Orgelkonzert. Von einem Ort zum anderen fährt er mit dem Fahrrad. Seine Jahresbilanz: 120 bis 150 Konzerte, 15.000 zurückgelegte Kilometer. „Ja, das muss man schon wollen“, sagt Schulze.
Aufgewachsen ist er in der DDR in Erkner bei Berlin, mit dem Orgelspiel hat er schon als Junge begonnen. Als im Nachbarort ein Organist gesucht wurde, ist der 13-Jährige kurzerhand mit dem Klapprad dorthin gefahren und hat sich vorgestellt. Danach durfte er dort Gottesdienste musikalisch begleiten, so hat er die Anfänge in einem kleinen Buch beschrieben. Weil er in der DDR kein Abitur machen durfte, habe er zunächst eine Tischlerlehre angefangen.
Dann sei wegen einer flapsigen Bemerkung über den Staat knapp ein Jahr Haft dazwischen gekommen. An ein Kirchenmusikstudium war deshalb lange nicht zu denken. Erst in der Wendezeit habe er im Herbst 1989 die Zulassung zum Kirchenmusikstudium in Greifswald bekommen, schreibt er. In der Zeit sei ihm neben dem Orgelspiel auch das Radfahren „zu einer Sucht geworden“.
Von Mai bis September ist Fahrradkantor-Saison
Danach war Martin Schulze als Organist in Mecklenburg und Niedersachsen tätig. Den Titel Fahrradkantor haben ihm in seiner Zeit in Mecklenburg Kollegen verpasst. Als es seine Frau dann beruflich nach Frankfurt an der Oder zog, ging Martin Schulze mit. Seine Arbeitsstelle aber blieb zurück. „Es war klar, dass ich keine neue Stelle als Organist finden würde“, sagt er: „Die sind in Deutschland rar.“ Also hat er sich selbstständig gemacht, als freiberuflicher Kirchenmusiker. Acht Jahre ist das inzwischen her. Von Mai bis September dauert heute seine Fahrradkantor-Saison. Die restliche Zeit des Jahres ist er als Orgelsachverständiger im Einsatz und berät Gemeinden bei Reparaturen.
Für dieses Jahr ist er schon lange ausgebucht. „Ich sitze jetzt schon an den Plänen für in zwei Jahren“, sagt er. Mal erhält er Einladungen der Gemeinden, dann melden sich die „Stammkunden“ oder er sucht sich seine Orgel selbst aus. „Die in der Johanniskirche in Lößnitz ist schön“, erzählt er: „Von 1899, aber super erhalten und klanglich toll.“ Das Publikum sei vielfältig, sagt er. In kleineren Orten komme die Dorfbevölkerung, an Nord- und Ostsee die Urlauber.
Mit einem Fahrradschlauch die Orgel flicken
„Man darf kein Problem damit haben, jede Nacht in einem anderen Bett zu liegen“, sagt Schulze über seine Touren: „Aber ich bin ja anspruchslos.“ Auf Hotels verzichtet er. „Mir reicht auch ein Schlafsack auf dem Boden des Gemeindehauses“, betont der Musiker. In der Regel komme es dazu aber nicht, weil ihn meist Pfarrer oder Gemeindeglieder bei sich aufnähmen. Und zwischendurch besucht er alle paar Wochen seine Familie.
Stress bereite ihm das ewige Unterwegssein nicht, sagt Martin Schulze: „Es ist eine Herausforderung, aber die macht mir Freude.“ Bei seinen Touren durch Deutschland lernt er Orgeln, Landschaften, Menschen kennen. „Im Erzgebirge ist es besonders schön, aber auch anstrengend“, sagt er dazu.
Was ihn in den Kirchen erwartet, sei jedes Mal eine Überraschung, erzählt er: „Es ist auch schon vorgekommen, dass ich mit einem Fahrradschlauch die Orgel abdichten und flicken musste, die quietschte und hatte sich verzogen.“ So ist Martin Schulze nicht bloß Kirchenmusiker, sondern auch Nomade, Sportler und manchmal auch Handwerker.
Julia Bernewasser und Yvonne Jennerjahn (epd)