Morgenandacht vom 28. Oktober 2009
Superintendent Ulrich Tetzlaff
Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen.
Unsere Hilfe steht im Namen des Herrn, der Himmel und Erde gemacht hat.
Die Gnade unseres Herrn Jesus Christus und die Liebe Gottes und die Gemeinschaft des Heiligen Geistes sei mit euch allen. Amen.
(EG 298, 1 bis 3)
Liebe Schwestern und Brüder! Synodale Leidenschaft hat sich in den vergangenen Tagen in unterschiedlichster Weise Bahn gebrochen. Leidenschaft: mehr Lust, mehr Leid? Im Blick auf die Freuden und die Wunden des Tages und der Nacht bleibt ein Geschmack zurück, ein schaler vielleicht. Auch Leidenschaft bleibt nicht beim Leiden stehen.
In der Bibelübersetzung nach Martin Luther wird das Wort „Leidenschaft“ sehr sparsam verwendet. Im Kolosserbrief warnt die Schule des Paulus vor schändlicher Leidenschaft, vor böser Begierde, vor Habsucht. Wo es passt, mag das angebracht sein. Diese Warnung darf aber nicht so missverstanden werden, als ob es das Ziel christlichen Lebens sei, alle Emotionen, alle Leidenschaft abzutöten und nüchtern, gefasst und ein bisschen schadenfroh das Gericht Gottes über die Welt und die Menschen mit ihren bösen Lüsten abzuwarten.
Der Mensch ist mit der Fähigkeit versehen zu reflektieren, was um ihn und was in ihm geschieht. Er kann sehr wohl Gut und Böse unterscheiden. Er kann sich sehr wohl für etwas entscheiden, auch im Blick auf Lust und Leidenschaft und im Blick auf das, was Leiden schafft. Wir müssen uns also entscheiden, auch für das Leben.
So erzählt die Bibel nicht nur von leidenschaftlichen Menschen, sondern auch von einem leidenschaftlichen Gott. Er hat sich entschieden. Er ist in unbedingter Liebe seiner Schöpfung zugewandt, mitgehend, mitleidend, sich verschenkend, Zorn in Liebe überwindend, Schuld in Neuanfang und Vergebung.
Die Sintflutgeschichte hat dafür den Regenbogen als Zeichen gesetzt: nach einem Unwetter farbig, durchscheinend, nicht zu greifen, flüchtig, nicht darunter sitzen zu bleiben, aber erinnern an das Ziel, werden, nicht vergehen, aufleuchten, nicht verlöschen, lebendig zugewandt und nicht tot – mein eigenes Gegenüber mit mir allein. Gott: voller Leidenschaft für das Leben, ich und du, gegen Resignation, gegen schwarzseherisches Genörgel, gegen mieses Moralisieren, gegen Missgunst, gegen Egoismus, gegen alles, was die Schöpfung, das Leben und den Menschen klein und kaputt macht.
Darum finden wir in der Bibel auch Zeugnisse sinnlichster Leidenschaft, zum Beispiel im Hohelied Salomos. Leidenschaft für das Leben, verliebt in das Leben, verliebt in einen wirklichen Menschen, einen Blick haben für das Schöne, für das Gelingende. Ein Mensch wird schön durch die Liebe, das Schöne in seinen kleinen Anlagen sehen und es groß werden lassen, es wachsen lassen. Als Geliebte und als Geliebter kann ich auch Ja zu mir selbst sagen. Das Schöne, das Gott in mich gelegt hat, kann zu strahlen beginnen. Ein Mensch für sich allein, nicht bereit, sich zu verschenken, nicht bereit, sich zu verströmen, ist vielleicht ein nettes Ansichtsexemplar, aber sonst eher belanglos.
Liebende Leidenschaft kommt nahe, da werden Abstände kleiner, da werden Schneckenhäuser aufgebrochen und hinter der harten Schale erscheint ein empfindsamer Kern. Da wird Kontrollverlust zugelassen. Liebende Leidenschaft lebt mit dem Risiko, nicht alles bis zum Letzten vorhersehen zu können. Liebende Leidenschaft lebt mit dem Risiko, enttäuscht und verletzt zu werden, auch mit dem Risiko des Totalverlustes durch Sterben und darauf folgende zerreißende Traurigkeit. Liebende Leidenschaft lebt aus der unbedingten Hoffnung, dass am Ende aller Dinge die Liebe und das Leben stehen, nicht der Tod, nicht ein Nichts oder ich, in Ewigkeit allein gelassen.
Selbst der auf den ersten Blick gar nicht so leibfreundliche Paulus stimmt im Brief an die Korinther ein Liebeslied an: „Wenn ich mit Menschen- und Engelszungen redete und hätte die Liebe nicht, so wäre ich ein tönendes Erz und eine klingende Schelle. – Glaube, Hoffnung, Liebe, diese drei; aber die Liebe ist die größte unter ihnen.“ Er kämpft leidenschaftlich, kämpft für ehrliche und gelingende Beziehungen zwischen Menschen, zwischen Menschen und Gott. Und er leidet, er leidet an Selbstüberschätzung, er leidet an Niedertracht, er leidet an Parteien und Gruppen in seinen Gemeinden. Denn in liebender Leidenschaft fürs Leben ist Jesus seinen Weg gegangen, nicht allein, sondern mit und für seine Freundinnen und Freunde, Gott als Mensch unter Menschen, sich verschenkend.
Er hat Zuneigung erfahren und wurde enttäuscht. Er wurde verstanden und missverstanden. Er wurde geliebt und gehasst, und er wurde hinterhältig und grausam ums Leben gebracht, und er ging, getragen von der Liebe Gottes, den Weg durch den Tod hin zum Leben.
So war Leidenschaft auch Thema der diesjährigen 63. Greifswalder Bach-Woche, dem Festival Geistlicher Musik im Norden: eine Woche Musik von 10 Uhr bis in die Nacht hinein. Jeder Tag beginnt mit einer geistlichen Morgenmusik mit Bachkantate. Neben Kammermusiken und Solokonzerten standen Bachs Johannespassion, Mendelssohns Messias, das Verdi-Requiem und zum Abschluss das War-Requiem von Benjamin Britten. Ein Fest – und so viel Leiden, ein Fest und singen von so viel Sterben. Ja, so viel und noch viel mehr gibt es, wenn wir in unser Leben schauen, wenn wir in die Zeitung schauen und vielleicht, wenn wir uns an gestern erinnern.
Und doch keine Leidensverliebtheit und kein Gesang des Es-wird-schon-wieder, oder: Lasst uns essen und trinken, morgen geht die Welt ohnehin unter – ein Requiem und der Gesang einer Passion lassen die beschränkten menschlichen Möglichkeiten stehen, wie sie sind. So sind wir, so und nicht anders: zerbrechlich, einzigartig und unwiederholbar, im Gelingen so wertvoll und im Verbrechen so schmerzlich. Und zugleich wird in dieser großen Musik unsere Möglichkeit überschritten und der weite Horizont Gottes in Text und Ton ausgebreitet. Kein frommer Selbstbetrug, weil die Wirklichkeit so grausam ist, keine Flucht, sondern Gottes Leidenschaft für das Leben, eine Leidenschaft, die auf uns kommt, uns ergreift, die uns heute leben lässt und uns durch das Sterben ins Leben trägt. Davon erzählen, davon singen, davon spielen.
Darum zelebrieren wir in Greifswald seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges im Angesicht des alltäglichen Lebens ein leidenschaftliches Musikfest; nicht nur Kunstgenuss, sondern geistlich begeisterter gemeinschaftlicher Lebensgenuss trotz alledem.
Wenn wir einander wahrnehmen als Menschen und wenn wir Gottes Wort reichlich unter uns laufen lassen, dann erleben wir, dass Gott sein Ja zum Leben, sein leidenschaftliches Ja zum Leben immer heute spricht – jedem von uns ganz zugewandt.
So, wie Gott uns in Liebe trägt, so könnten wir einander auch tragen und einander auch ertragen. Unsere Fähigkeit zur leidenschaftlichen Zuwendung bleibt natürlich begrenzt. Wir sind nicht Christus, und wir können auch nicht die ganze Welt, nicht alle Menschen umarmen, aber diese und jenen schon und das ehrlich und leidenschaftlich mit aller dazu gehörenden Risikobereitschaft. Nicht im dunklen Schneckenhaus unserer selbst, sondern mitten in das Leben gestellt, angesteckt von der leidenschaftlichen Liebe des lebendigen Gottes als offene und als zugehende Menschen.
Und der Friede Gottes, der größer ist als all unsere Vernunft, bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus, unserem Herrn. Amen.
(EG 432)
Herr, unser Gott, wir sind in dieser Welt belastet mit Unfrieden. Wir tragen selbst dazu bei, dass Angst, Vergeltung und Gewalt immer wieder neu mächtig werden. So bitten wir Dich, lass uns mutiger bekennen, treuer beten, fröhlich glauben, brennend lieben. Herr, schenke uns einen neuen Anfang und gib der Welt Deinen Frieden. Ohne Dich können wir nichts tun. Herr, höre uns. –
So verleihe uns Frieden gnädiglich. Du bist unser Friede, dieser Tag steht in Deinen Händen.
(Vaterunser)
(Segen)